Sie steigen über die Menschen. In der Schweiz.
Einige liegen vor den Türen der UBS - und Credit-Suisse-Filialen am Paradeplatz.
Die Türen schwingen fast von alleine auf.
In den Innenräumen der Banken – der Kantonalbank und Raiffeisenbank und Sarasin-Bank und Migros Bank und PostFinance und all den wunderbaren Geldläden – herrscht trotz den passiv-aggressiven Menschenmassen eine angenehme Ruhe. Dem Schweizer Temperament gedankt.
Nach einer Stunde sind die Barmittel der Banken aufgebraucht.
Nach einer Stunde meldet sich der Finanzminister zu Wort und beschwichtigt.
Nach einer Stunde gerät die Situation weltweit außer
Kontrolle.
Und
der Organisator ist nicht zu seiner Bank gegangen.
Er hat versucht, seinen Berater anzurufen, aber das Gerät war tot. Interessant, denkt der greise Mann, dass Telefonlinien tot sein können. Wie früher, als es Wählscheiben gab.
In seinen Informationskanälen im Netz sieht er die Beruhigungsversuche der EU -PolitikerInnen und Banker, die sich Mühe geben, Souveränität auszustrahlen.
Auf den Fernsehkanälen sieht er weltweit Menschenmassen mit inneren Mistgabeln in den Innenstädten randalieren.
Dann kommen die ersten Wasserwerfer der Polizei, teilweise werden die Besatzungen der Wagen von anderen PolizistInnen am Weiterfahren gehindert. Der Organisator ist nicht der Hellste, weiß aber, was es bedeutet, wenn nur 20 bis 30 Prozent der systemrelevanten Banken kollabieren.
Das System bedeutet: Wenn der Glaube an das Finanzsystem zerstört ist, folgt daraus eine Katastrophe.
Bürgerkriege, Inflation, keine Ahnung.
Die Krise damals 2007 war durch Stabilisierung mit dem Geld der Bevölkerungen abgewendet worden. Ein paar seiner ehemaligen Bekannten gab es nun nicht mehr, andere haben gut verdient,
und die Menschen waren wiederholt ausgeraubt worden.
Von einer Krise in die nächste und
der Organisator hatte geglaubt, sie hätten aufgegeben, die Leute. Doch was sich in den letzten Jahren in abgestumpfter Hoffnungslosigkeit und Wiederwillen gegeneinander manifestiert hatte, war Wut geworden. Die wuchs, als es immer wieder Nahrungsmittel nicht gab. Und als die Lieferungen von Kartoffeln in den deutschsprachigen Ländern ausgeblieben waren, kam es schon fast zu einer Revolution.
Was für ein ekliges Wort.
Der Organisator hasst alles, was in einen Zusammenhang mit linken Aktivitäten zu bringen ist. Rote, Kommunisten, Anarchisten, Grüne, er kennt keinen persönlich, der nicht an die Überlegenheit der Leistungsgesellschaft glaubt, auch wenn es für ihn bedeutet,
nicht mehr leistungsfähig zu sein.
Der Organisator will nicht sterben. Er will noch einmal.
Jung sein, ewig da sein, nicht weg sein, ein Wunder. Aber nun, da sein Vermögen den Wert von Lakritzstangen hat, steht ihm nur noch Demütigung bevor. Mit Reichtum kauft man sich Würde als alter Mann. Eine philippinische Pflegerin, die geil wird, wenn sie einem die Windeln wechselt. Einen guten Gehilfen, gutes Essen. Warum nur
hatte er so wenig in Immobilien angelegt. Obwohl –
Er hat von Unregelmäßigkeiten gehört, verschwundenen Grundbucheintragungen.
Der Organisator würde weinen, wenn er wüsste, wie.
Ihm stehen bei guter Führung noch zehn Jahre im Bett oder Rollstuhl in seinem Haus im Kanton Schwyz bevor. Umgeben von hässlichen Neubauten, in denen sich Rohstoff- und Infrastrukturhändler angesiedelt haben.
Wo er aus dem Fenster keine Kühe mehr sehen wird, sondern Neubauten für Steuerfüchse.
Der Organisator geht in die Küche, in der sich tatsächlich noch ein Mikrowellenherd befindet. Er hatte mal gelesen, dass Herzschrittmacher und Mikrowellen keine guten Freunde sind,
»und
tschüss«,
sagt Maggy zur gleichen Zeit in Corcapolo, da die Scheiben der HSBC Bank in London zerbrechen. Und die Filiale der Deutschen Bank in Hamburg brennt. Als die Wasserwerfer kommen. Und als die berittenen Truppen und
PolizistInnen von den edlen schweifwedelnden Vierbeinern gerissen werden. Angehörige des Militärs auf Bankautomaten schießen.
Da war Stimmung. Und Erleichterung in der Gruppe, alle in einem Container versammelt, die angeborene Kontaktscheu vergessend, drängten sie sich aneinander um die Bildschirme. Pjotr hält Rachels Hand, Maggy sitzt auf Bens Schoß, und Don und Karen halten sich umarmt.
Die Freunde starren die Bildschirme an, ohne zu blinzeln, sie haben Angst, dass Ruhe einkehren würde. Die Menschen sich auf das besinnen wollten, was ihnen beigebracht worden war. Kümmer dich nicht, hinterfrag nicht, gib Ruhe. Dass sie Ruhe geben wollten und nach Hause gehen – dann eben pleite und morgen wieder aufwachen mit einem noch schlechteren Gefühl als sonst – und weiterarbeiten, weiter Arbeit suchen, weiter rennen und Angst haben.
Hauptsache: Angst!
Und nun
dauern die Bankstürmungen schon Stunden an, und die Massen scheinen immer wütender zu werden. Erstaunlich, dass sich die Menschen in Temperament und Zerstörungswillen in keinem Land unterscheiden.
Ob Bulgarinnen oder Letten, Schwedinnen oder Slowaken, es scheint, als ob sich mit einer Stimme der gesamte Frust vergifteten Lebens entäußern würde. Endlich, endlich zu wissen, warum man so schlechte Laune hatte – und immer war es zu kalt oder zu heiß, und jeden Morgen war die Bedrückung da, vom schlechten Schlaf an,
in dem sie ihr Leben verbrachten.
Es ist noch nicht einmal Mittag.
Und der Elan der DemonstrantInnen ist ungebrochen.
Auch bei der
Sekretärin,
Beruf: Mutter
Sexualität: Mutter
Verwertbarkeit für die Märkte: nicht vorhanden
Konsumverhalten: Windeln, Babyartikel, Amazon-Prime-Kundin
Gesundheitsstatus: hoffnungslos
die bei der EU -Kommission in Brüssel arbeitet,
verschwindet die Wut nicht.
Sie hat sich in ihrem Mamablog radikalisiert.
Und wurde dann Gamerin und Systemkritikerin. Als die Börse explodierte, wusste sie, dass jetzt etwas passieren würde, als die Umsturzleitung, wie sie sie nannte, gestern davon sprach, dass ihr Geld weg wäre, die paar Tausend Euro, die auf der Bank lagen, wusste sie, dass sie jetzt handeln musste.
Nun ist sie hier in der Innenstadt Brüssels, da, wo all die Luxusläden und die schöne überdachte Einkaufspassage für die Reichen sind, bei der Filiale ihrer ING -Bank.
Von der steht nun nicht mehr so viel.
Okay, was kann man jetzt kaputt machen.
Die Masse, die die Innenstadt geflutet hatte, die ein Körper geworden war, beginnt, in Menschen zu zerfallen. Auch
die Sekretärin erlebt einen Moment der Ratlosigkeit, des Adrenalinabbaus,
soll sie die Fensterscheibe des Rolex-Ladens zerschlagen? Das EU -Gebäude stürmen,
und genau in dem Moment, in dem der gewaltige Zorn der Massen in unkontrollierbare Einzelaktionen hätte zerrieben werden können – beginnt
ein Film der lokalen Revolutionsteams auf den Endgeräten und auf den Billboards.
Und
die Revolutionshymne
erklingt
rund um die Avenue de l’Òpera am Palais Royal in der Pariser Innenstadt. Die Banken brennen, denn wenn Franzosen Revolution machen, dann gründlich. Die Bewegung der Gelbwesten hatten 2019 einen Bank-Run versucht, um das Finanzsystem zu destabilisieren. Der Angriff »Acte IX « war für den 12. Januar geplant gewesen. Aber die Wirtschaftsberatenden hatten den Sturm durchgerechnet. Und die Bedrohung als zu klein eingestuft, um eine Krise auszulösen. Täglich werden in Frankreich rund 342 Millionen Euro Bargeld abgehoben, wenn also die rund hundertsechsundzwanzigtausend Gelbwesten ihr Bargeld abhöben, müssten mindestens hunderttausend von ihnen rund 3400 Euro abheben, nur um die normale Menge zu erreichen. Der Bank-Run fand also nicht statt.
Im Anschluss an das Nichts passierte, was überall passierte – alles ging irgendwie weiter.
Die Revolutionsleitung also –
Catherine Deneuve neben Zinédine Zidane und Franck Ribéry, Doc Gynéco –
sprechen zu den Menschen.
»Jetzt ist unser Moment des friedlichen Wechsels gekommen. Wir werden die Krisen beenden. Versuchen den Kollaps der Natur zu stoppen, wir werden gemeinsam herausfinden, ob der Kapitalismus wirklich alternativlos ist. Oder ob es etwas Neues geben kann. Ein Europa, ein Land, Städte, die Platz für jeden haben, mit Mieten, die wir zahlen können, Luft, die man atmen kann, mit Arbeit, die nicht Ausbeutung ist, und einer Zukunft, die nicht nur Wachstum für wenige bedeutet, sondern Wohlstand und Entspannung für alle.
Achtet auf die Menschen in pinken Uniformen. Folgt ihren Anweisungen.
Los geht’s.«
Und
das kam im richtigen Moment.
Die Menschen überall in den großen Städten Frankreichs werden wieder zu einem Leib, der atmet, sich sammelt – und wartet.
Und dann kommen die pinken Trucks mit Menschen in pinker Uniform. Sie verteilen auf den Anhängern stehend
die Sturmgewehre mit Patronen voller Betäubungsmittel.
Zur gleichen Zeit
werden in allen größeren Städten Frankreichs an den Bahnhöfen und Busstationen die aufgeregten Menschen vom Land und aus den Vororten, aus den Dörfern und Kleinstädten empfangen.
Der Revolutionssong spielt, die Menschen singen und
»ES LÄUFT «,
sagt Don.
Keine Entspannung, kein Lüften, Adrenalin-Angstschweiß von heranwachsenden jungen Menschen mit mangelhaften Pflegeritualen, keine Ich-Zeit mit sich selber.
Warum ist noch nichts passiert.
Warum sind da keine Panzer oder Wasserwerfer, keine Sondereinsatzgruppen, keine Bewaffneten? Was Ben aus den Liften der Regierungen und Geheimdienste hört, ist pure Panik. Und kein Plan. Es fehlt überall an Munition. Dank Maggy mit ihrer unermüdlichen Umleitung von Transporten. Es fehlt an Plänen, an Vorbereitung, und es ist – noch lange nicht vorbei, denn nun kommt die nächste
Phase.
Das eigentliche Problem jeder Revolution. Na ja, oder noch eines, denn schaut man sich die Liste der gelungenen Systemumstürze an, die nicht von den Geheimdiensten schon im Frühstadium beendet wurden,
dann ist sie sehr kurz.
Entweder scheiterten die Umstürze an einer Konterrevolution der Militärs, an aggressiven Gruppen oder Einzelnen innerhalb der Revolution oder, falls das alles gut gehen sollte, an den RevolutionsführerInnen, die sich nach dem Umsturz sofort ihren Menschenimpulsen folgend zu DiktatorInnen entwickelten.
Jetzt kommen in den Städten neue Gruppen an.
Da erreicht
Penelope
Sexualität: mit elf – seriously?
Hobbys: Müllplätze durchstromern
Traum: ?
Familienzusammenhang: lieblos
aus Los Molinos den Busbahnhof in Madrid.
Wenn Spanien außer angenehmem Wetter, verödeten Landgebieten und hässlichen Touristen über etwas verfügte, dann über Massen an wütenden unbeschäftigten Jugendlichen. Die höchste Jugendarbeitslosigkeit in Europa, kombiniert mit einem Antiterrorgesetz, das alles, was Jugendlichen Spaß macht, mit harten Haftstrafen belegt.
Es gab wenige, die sich den Spaß einer eigenen Wohnung leisten konnten, Millionen waren im Alter zwischen dreißig und vierzig wieder zu ihren Eltern gezogen. In der Zeit im Leben, in der früher Menschen Paare bildeten, sitzen Millionen junger Leute auf den Sofas in Kellerräumen oder liegen auf Feldbetten in Küchen, in irgendwelchen Dörfern, aus denen sie vorher geflohen waren, weil es keine Infrastruktur, kein Netz, keine Läden und Restaurants gibt. Nichts gibt es da außer dem Sofa, den leeren Straßen, den Hühnern und dem Hass.
Penelope ist bereits elf, und wenn sie später einmal in einem Interview zum Tag der Revolution befragt werden sollte, würde sie sagen: »Ich bin hocherfreut über die gute Organisation gewesen. Alles ging reibungslos.«
An der Peripherie ihres öden Heimatdorfes hatte ein Bus für die Gruppe von Jugendlichen und Kindern gewartet. Die Erwachsenen hatten die Autos benutzt.
Und nun ist sie hier. Holla. Bis heute war Penelope
erst einmal in der Stadt gewesen, als ihre Eltern noch lebten
Die Eltern hatten noch gelebt. Nun wohnt Penelope
mit anderen Kindern zusammen. Wie über eine Million Minderjährige im Land, in Abbruchhäusern oder Ruinen oder leer stehenden Scheunen. Im Interview würde Penelope
weiterhin sagen: »Wir waren alle Fans der Boygroup und haben uns durch ein Mitglied radikalisiert. Es klang sehr überzeugend, was er über Kinderrechte gesagt hat, und wir begriffen die Revolution als große Chance.«
Am Bahnhof warten Erwachsene mit Masken und pinken Uniformen, und Penelope wird einer Gruppe zugewiesen und jede erhält eine leichte, attraktive Waffe.
Die Stimmung ist ausgelassen, als Penelope mit den anderen durch die Stadt zum Palacio Real geht. Der sieht aus wie ein Flughafen, na ja, oder wie sie sich
einen Flughafen vorstellt. Vor den Gittertoren stehen bereits ein paar Hundert Menschen, auf der anderen Seite agieren nervös die Wachen der Königsfamilie. Nach einiger Zeit erscheint auf dem Balkon Louis Alphonse de Bourbon. Penelope weiß das, denn sie hat sich oft die Magazine angesehen, die der Friseur ihres Ortes in den Müll schmiss. Alphonse war des Betruges in Zusammenhang mit lateinamerikanischen Banken – wie der AllBank Corp. und Banco del Orinoco, beschuldigt. Er ist mit dem Chef der rechten, diktatorischen, man könnte sagen faschistischen Partei Vox befreundet. Verheiratet mit einer venezolanischen Bankierstochter. Erstaunlich, wie Penelopes Gehirn sich an diese sinnlosen Details erinnert. Vielleicht, weil sie in Panik gerät, denn jetzt schießt die Anführerin in der pinken Uniform in die Luft. Die Wachen fliehen, ihre Bezahlung ist zu schlecht für einen bereitwilligen Heldentod, zwei Frauen klettern über das Tor, um es von innen zu öffnen, und dann gleiten die Massen in den Hof und von dort in das Gebäude.
Wie eine Besichtigung, nur in besser, fühlen sie sich, die Menschen, wie in einem Kaufhaus eingeschlossen zu sein, fast suchen sie nach Filzpantoffeln, als ein weiterer Schuss sie zur Konzentration ruft.
Nuria ist in einer Gruppe, die neben einem ausladenden Bett den spanischen König findet, der seine langen Gliedmaßen um sich gewickelt hat und mit einer Pistole in die Gruppe schießt.
Der Schuss geht ins Leere, der König wird überwältigt und nach draußen getragen. Nuria hält seinen Kopf. Ein Moment, den sie nie vergessen wird. Schnell ein Selfie gemacht und –
den König auf den Vorhof gebettet. Da warten schon seine Frau, die Kinder, seine Mutter.
Da liegt er also,
der König
Vermögen: angeblich 20 Millionen Euro, inoffiziell an die 32 Milliarden
Steuereinnahmen: offiziell 7,8 Mio., weitere Millionen für Unterhalt des Palastes, Reisen, Sicherheit, Bedienstete
Handwerkliche Fähigkeiten: Dressurreiten
Gesundheitsstatus: im Moment verwirrt
Zukunft: es wird spannend
Das war die letzte mögliche Abfrage eines Ocean-Modells. Es liegen Störungen der Datenspeicher und der Back-up-Datenspeicher vor.
von Spanien am Boden.
Und nimmt, was außerhalb seines Körpers stattfindet, mit einer seltsamen Verzögerung wahr. Er hört die Menschen nicht, die jubeln, er weiß nicht weiter. Er kennt nur seine Pflicht, seine Überlegenheit, seine Gottähnlichkeit. Er wurde doch so erzogen. Als etwas, das über dem Gesetz und über dem Volk steht, denen er ein gütiger Führer ist.
Gewesen ist.
Am Boden denkt er an sein Leben. An die Familie Franco, die seine Familie an die Macht gebracht hatte, an seine Schwester, die einen betrügerischen Handballer geheiratet hatte, der jetzt im Gefängnis sitzt, an seine Ehe mit einer Bürgerlichen, den Hass seiner Mutter, an seinen Vater, der aus Versehen seinen Bruder umgebracht hat, der seine Geliebten mit zu Hofe brachte, während das Land in einer Finanzkrise steckte, der Elefanten jagte und sich vom saudischen König Millionen auf sein Stiftungskonto zahlen ließ. Er denkt an seine Aufgabe
als Staatsoberhaupt und Symbol der Einheit und Beständigkeit Spaniens, an seine Abstammung, die weit vor dem 16. Jahrhundert belegt ist, an das Blut von Habsburgern und Mitgliedern des Hauses Bourbon-Orléans, an jahrhundertelangen Reichtum durch Ausbeutung, Unterdrückung, Geldwäsche, Steuerbetrug, Korruption seit dem 16. Jahrhundert – meine Güte, das sind doch Werte.
Und so weiter.
Er sagt: »Lasst uns gehen, hocherhobenen Hauptes.«
Und dann geht die Königsfamilie. Hocherhobenen Hauptes, und wird von zwei Menschen in pinken Uniformen in einen Wagen geleitet und an den Stadtrand verbracht.
Viel Glück auf dem Weg.
Aus dem Rückspiegel sieht der König junge Menschen, die Kissenschlachten auf dem Schlossvorplatz machen.
Ein bisschen Spaß muss sein,
denkt der
Kapitän
des Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia-Allüre.
Gerade befindet er sich an Deck eines kleinen Motorbootes, das ihn in Richtung Neapel fährt. Der Kapitän hat das schwimmende Hochhaus des Elends in hoher See verankert, nachdem er es navigationsunfähig gemacht hatte. Es würde, selbst wenn findige Seefahrer an Bord wären, nie zurück an Land schwimmen können.
Den neunhundert Leuten, die nun lernen könnten, wie man Brot backt und Strom erzeugt, wurde das geschenkt, wonach sie immer gestrebt hatten: Eine Welt, in der sich alle ähnelten.
Viel Spaß.
Auch an Land.
In Valletta auf Malta nehmen sich um die vierhundert Frauen gerade das Erzbistum vor.
In dem Gebäude, das wirkt wie die steingewordene Intransparenz – gebaut für Männer mit schmalen Schultern –, findet gerade ein Meet and Greet zwischen Politikern und der Bischofskonferenz statt. Vielleicht beraten sie wieder neue Maßnahmen gegen – Frauen?
Die stürmen mit nachhaltigem Druck das Gebäude, an den Wachtruppen vorbei, die ratlos zur Seite treten. Sie benutzen ihre Waffen nicht.
Erstaunlich, denn der maltesische katholische Mann geht davon aus, dass die Frau sein Besitz sei, ebenso wie die Kinder, die sie für ihn anfertigt, selbst wenn das Kind nur aus einem Bein bestehen sollte, aber
etwas hält sie zurück, ihre Waffen gegen ihre Mütter, Frauen und Töchter einzusetzen. Ein kurzer Moment der Menschlichkeit oder schlicht eine Überforderung des Hirns?
Die Frauen im Gebäude finden die Geistlichen, die Politiker, bei einem Stehbankett in einem Hinterraum. Die Männer kreischen, sie drücken sich in die Ecken des Raumes, versuchen sich unter Tischen zu verstecken, mit der Wandvertäfelung zu verschmelzen. Die verängstigten Männerkörper, schlecht durch billige Anzüge oder teure Kleider zusammengehalten, rufen kein Mitleid bei den Frauen hervor.
All die Ohnmacht, die Wut auf Männer, angestaut, seit sie denkend sind, seit sie nur als Objekte der Gier der Männer existierten, die über ihr Leben bestimmten und es jederzeit nehmen konnten, die Legenden von Hymen und Reinheit, die eine Frau durch den Penis zur Schuldigen werden lässt.
Da ist
Maria. Sie hat drei schwerstbehinderte Kinder zu Hause, einen alkoholkranken Mann, der ein treuer Kirchengänger ist, sie hat gelernt, Männern zu misstrauen, sie als Feinde zu betrachten, sie versucht sich das Bein eines Würdenträgers zu schnappen, als neben ihr ein Politiker zu Boden geht und sich Frauen auf ihn stürzen. Eine beißt in das Ohr des Politikers, der vor einer Woche dafür geworben hat, Frauen lebenslänglich unter die Fürsorge eines männlichen Angehörigen zu stellen,
es sind jetzt zehn Frauen, die ihm seine Kleidung vom Körper reißen, die auf ihm knien, und Maria weiß, dass hier niemand verletzt werden darf. Sie würden zu lange bleiben, die Bilder der Geschlagenen. Sie würden schlechte Träume machen und einen Neubeginn, der aus Rache wächst.
Maria schreit, und keine hört sie, sie versucht die Frauen von dem Politikerkörper wegzustoßen. Ohne Erfolg. Und dann –
schießt Maria mit ihren Platzpatronen in die Luft.
In die Ruhe danach schreit sie: »Wir sind anders als sie. Wir töten nicht, wir schlagen nicht.«
Ein paar Sekunden des angespannten Denkens an die Bilder zerfleischter Körper – und die Situation entspannt sich. Fast zärtlich ziehen die Frauen den Politikern die Hosen aus, warum? Weil sie es endlich können. Dann tragen sie die Winselnden aus dem Gebäude.
Wenig später sitzen die Männer in Booten auf dem Meer. Willkommen in der Welt der Bootsflüchtigen.
Die Frauen sind schon wieder weitergezogen.
Zu all den Steuervermeidungsunternehmen.
Zu Playmobil, dem Lufthansa-Gebäude, die Deutsche Bank ist schon Ruine. Dumm gelaufen.
Und
»Zeit, um über Geld zu reden« –
sagt
Thomas, einer aus dem Management-Board der Deutschen Bank in Frankfurt, dem Kreditinstitut, das seine Geschichte nicht loswird, sosehr sie auch lustige Sparschweine an Kinder verteilen mögen. Verdammte Nazivergangenheit, unklare Verflechtung mit der gesamten Großindustrie des Reiches – was dasselbe ist.
Heute hat die Bank dieses dunkle Kapitel hinter sich gelassen. Im Aufsichtsrat sitzen die, die immer in Aufsichtsräten sitzen. Arbeitsame Macher, die teilweise sechzig unterschiedliche Mandate in Finanz- und Wirtschafts-Unternehmen innehaben. Die Bank beschäftigt den Ex-Chef des BND als Berater, hat Donald Trump Kredite gewährt, und ein beeindruckendes Portfolio, das über Geldwäsche bis hin zu Korruption alles beinhaltet, was normales Bankgeschäft meint. Willkommen in der größten Bank des mächtigsten EU -Landes.
Thomas gibt sich kritisch in einer angemessen schuldbewussten Art, im Tonfall erst einen kleinen Moment verhalten, dann legt er wieder Energie in sein Stimmvolumen, das zukunftsweisend klingt.
»Wie der Zufall es will«, sagt er, »haben wir heute eine Tagung des Aufsichtsrates in unserem Haus beherbergt.
Sozusagen.
Mit Worten habe ich es nicht so,
ich bin eher ein Macher.
Also heute treffen wir – der Aufsichtsrat unten am Tischende, bestehend aus Kollegen von Goldman Sachs und so weiter, uns,
um zu beschließen, wann genau die Menschen von der Idee des Geldes getrennt werden. Wir gehen die Entwicklung der Kryptowährung durch« –
in dem Moment erhält Rüdiger einen Anruf. Er schaltet den Fernseher ein. Bilder der Stürmung von Medienunternehmen in Berlin, von Volkswagen, Daimler, BMW , Siemens, Telekom, Bayer, BASF , ALDI , Ford, Rheinmetall, ExxonMobil, Vattenfall, nein, jetzt nicht auch noch Heckler & Koch, doch, auch Heckler & Koch, überall sich ähnelnde Bilder von Verwüstung, Managern und Direktion, die aus den Gebäuden fliehen, Männern, Frauen und Kindern, die auf Fabrikgängen spielen, und einer Polizei, die tatenlos danebensteht. Der Vorsitzende des Aufsichtsrates muss mit einer Panikattacke außer Hauses gebracht werden, zum Glück gab es einen Helikopterlandeplatz.
Und nun wird die Tür zum Konferenzraum der Deutschen Bank unsanft geöffnet. Das Licht fließt in den Raum.
Es erhellt den Himmel,
sieh nur –
in ganz Europa brennen Rechenzentren.
Wie schade,
denkt
der
Mitarbeiter des militärischen Sicherheitsdienstes auf dem Place de l’Europe in Luxemburg und sieht, wie die EU -PolitikerInnen aus dem Gebäude getragen werden. Sehr friedlich passiert das in einer Art Choreografie der wiederbelebten Massen. Zum ersten Mal in seiner Dienstzeit sieht er diese unglaublich öde, menschenfeindliche Ecke seiner Stadt belebt. Eine BeamtInnengegend, eine graue, gesichtslose, unwirtliche Straße mit sinnlosen Gebäuden, in denen das Geld der Bevölkerungen in hässlichen, zugigen Quadern verbaut worden war. Das kleine Land der Glückseligen war überfüllt mit französischen und deutschen RevolutionärInnen, die mit Bussen angereist waren, um die Einheimischen, die seit mittags die Banken belagerten, ein wenig zu unterstützen. Die Banken waren weg. Die Führungen der Firmen, von SEG , ArcelorMittal, Millicom, ESFG , Amazon, Sodexo, die Immobilienhaie von Vonovia.
Dito.
Auf all den Gebäuden, die seit Jahrzehnten die Gesetzschreibung durchgeführt hatten, immer neue Sicherheiten für ihr unendliches Wachstum – wehten jetzt RCE -Fahnen. Mit Versprechung geladene Polyesterstücke.
Der Mitarbeiter des militärischen Sicherheitsdienstes hatte das Gesetz durchzuführen. Das sich nie gegen die Leute richtete, die er bewachen sollte. Nicht die PolitikerInnen, die bei der EU arbeiteten, nicht all die FirmeninhaberInnen, die hier Steuern sparten und die das kleine Land für normale Menschen, wie ihn, unbezahlbar machten. Oder jene, die mit ihren Helikoptern aus ihren französischen Schlössern anreisten, dann in ihren Zweitwohnungen übernachteten, die meistens leer standen. Auf all den Verwaltungsgebäuden wehen jetzt Revolutionsfahnen, hübsch.
Denkt der Mitarbeiter des militärischen Sicherheitsdienstes. Er hat seine Uniform ausgezogen, seinen Schlagstock abgelegt. Er
ist kein Mitarbeiter des militärischen Sicherheitsdienstes mehr. Er verschwindet in der Masse aus Jugendlichen und Frauen, aus Kindern und Wütenden.
Und das Problem ist,
dass der Vatikanstaat nicht nur von alten Männern mit schönen langen Roben bewohnt wird. Leider werden die Geistlichen und ein paar Frauen im Service von der Schweizer Garde bewacht. Ein Haufen durch das Tragen ihrer Kostüme gedemütigter und darum latent gewaltbereiter junger Männer mit Sturmgewehren.
Eine kurze spannungserhaltende Unterbrechung, um zu sehen, was
die
Freunde in Corcapolo zur selben Zeit machen. Sie sitzen überraschenderweise vor den Bildschirmen. Mit verkrampften Händen und hohem Ruhepuls.
Sie wissen, dass sie nichts mehr tun können. Die Sache hat sich verselbstständigt, und das Einzige, was ihnen bleibt, ist zu warten,
und
Ben steht vor dem Container, er redet mit den StrategInnen, die seit zwei Jahren Pläne für die Zeit der schönen neuen Welt machen.
Ben musste sich alles noch einmal anhören, er musste Stimmen hören, die nicht panisch klingen. Er befürchtet, dass sie etwas Wesentliches übersehen haben. Und dass nach diesem Tag heute alles nur noch schlechter wird.
Er hat Angst. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben.
Dass die größenwahnsinnige Idee einer Weltrettung nur für sie logisch ist, für eine kleine Gruppe von Spinnern, die außer coden zu können keine Ahnung von den Menschen haben. Die glauben, im Namen der Mehrheit zu reden, und damit nur sich meinen.
Ben ist leer. Er ist müde
wie
die jungen Soldaten in Rom, nachdem sie durch die mit Betäubungsmittel beladenen Drohnen ausgeschaltet worden waren.
Die Schweizer Garde, auch heute noch von Spenden und von der Schweizer Bevölkerung finanziert, hat ihre Berechtigung – Überraschung – durch den Erhalt von Macht, ein Zentrum von Geld, von Vermögen, und außerdem spendet der Anblick der gesunden jungen Männer der überalterten Belegschaft im Vatikanstaat Freude.
Und Freude kann es doch nie genug geben auf der Welt.
Im Moment schlafen sie.
Auf dem Platz vor dem Vatikan und in den Innenräumen liegen sie wie müde Faschingsbesucher. An ihnen vorbei drängen die jungen ItalienerInnen in die Gebäude – die den Vatikan hassen.
Den über Dreißigjährigen ist unwohl bei dem Gedanken, die heiligen Männer auszusiedeln. Vielleicht können sie ja doch mit Gott reden, und es ist ein kritischer Moment jetzt, da die
GruppenführerInnen in den pinken Uniformen versuchen, die Menge vom Sturm auf die Gebäude abzuhalten. Vermutlich sind irgendwo noch Gardisten – aber die Masse ist nicht mehr aufzuhalten.
Sie wollen den Papst – und all die Würdenträger, die sich schützend vor den Inzest stellen, sich gegen Abtreibung aussprechen, gegen Homosexuelle.
Wie verlogen das ist – wo doch früher der einzige Ausweg aus den einzig akzeptierten heterosexuellen Lebensmodellen für homosexuelle und lesbische Menschen die Flucht in Priesteramt und Klöster gewesen war.
Ungefähr vierhundert vornehmlich queere RevolutionärInnen drängen in die Räume, in die Säle, in die Privatunterkunft des amtierenden Papstes, also des CEO s.
Und da ist er auch schon – der Papst kauert im Governatorat unter seinem Schreibtisch, er trägt einen Jogginganzug, einen dieser Fake-Juicy-Couture-Dinger aus Samt.
Er wird ergriffen – während aus dem Petersdom Schüsse zu hören sind.
Ein Gardist hatte im Fallen den Abzug gedrückt. Und nicht getroffen. Und mit Gottes Hilfe sind die Menschen ruhig geblieben. Der Soldat wird nicht gelyncht, sondern wie die anderen – einfach entwaffnet und auf dem Domplatz in den Schatten gelegt.
Die Massen blickten den Hubschraubern nach, mit denen die Geistlichen ins Exil geflogen wurden. Auf irgendeine Insel, auf der der Vatikan Briefkastenfirmen betreibt.
Ein guter Einsatz auch –
in
Ungarn. Dort hatte der ungarische Sprengmeister Imre gerade noch den Back-up-Speicher des CERN in die Luft gejagt.
Es war nicht sicher, dass im CERN auf exterritorialem Gebiet in der Schweiz die personenbezogenen Daten der Menschen, des IoT , des IoB gelagert werden sollten,
das ganze Zeug musste ja irgendwohin, bis es massenkompatible Speicherung von Daten in künstlicher DNA gab. Vielleicht war das alles eine der tausend Legenden, mit denen Menschen ihren Moment der Wichtigkeit im Netz erreichen wollten. Egal –
was weg ist, ist weg.
Imre glaubt an den Erfolg der Revolution. Er muss daran glauben, denn die Alternative wäre nicht mehr lebenswert. Für ihn.
Das hatte lange genug gedauert, denn er hatte immer gemacht, was alle machten – in Kauf genommen, dass die gesamte Budapester Innenstadt in Besitz reicher Ausländer und Airbnb-Anbieter geraten war. Dass die Gesetze unmenschlicher wurden, die Steuern höher, die Krankenkassen unbezahlbar. Dass immer weniger erlaubt war. Sich in Gruppen treffen, Versammlungen, Gewerkschaften, Demonstrationen gibt es nicht mehr. Und dann durfte er nicht mehr wählen, nicht mehr heizen, nicht mehr an den Plattensee. Aber eigentlich hätte er zufrieden sein können, denn Imre besaß ein Haus in Szigethalom, also die Bank besaß das.
Sein Quartier sieht aus wie alle Vororte überall in Europa, in denen Menschen Häuser abbezahlen, die alle aus einer Vororthausfabrik kamen. Imre zahlt Steuern, glaubt an Erfolg durch Arbeit, hält Männer mit langen Haaren für Gammler oder Schwuchteln, er fand Orbán einen starken und irgendwie auch gut aussehenden Mann, den er auch mal begatten würde, nein, halt, das nicht –
Imre hat sich sogar an den neuen Pass gewöhnt, der ihm mitunter den Kauf von Produkten mit zu viel Zucker verunmöglichte, an die Gesundheitsuhr, die er permanent tragen musste. Die jede seiner Bewegungen aufzeichnet, seinen Blutdruck, seine Ernährung. An die Warnhinweise hat er sich gewöhnt. Bei vier Fehlern, wie: zu viel Alkohol, zu viele Treffen mit bedenklichen Menschen, zu viele Verkehrsverstöße, wird nach einem Punktekatalog von der AI eine Bestrafung errechnet. Und ausgeführt. Aber seit letzter Woche hatte er genug. Seine Hypothek war nach einer Sauftour mit ein paar alten FreundInnen gekündigt worden, und nun beteiligte er sich an der Zerstörung. Weil er alles hasste. Weil er auch das Netz hasste. Er nutzte es, um gegen die Regierung zu pöbeln und den wenigen PolitikerInnen zu schreiben, dass man sie mit einer Geflügelschere öffnen sollte. Aber all das neue Zeug, die Uhr, die er tragen musste, die Apps, die er laden musste, die Beacons, die ihn an den Einkauf von Dingen erinnerten, das Netz, das dich so ohnmächtig macht.
Na okay,
jetzt ist es weg.
Das schöne Schloss
der Königsfamilie in Schweden. Die dreht noch eine Runde über der rauchenden Kulisse ihrer verschwundenen Macht, dann werden sie
zu einer ihrer Ferieninseln gebracht und normale Bürgerrechte bekommen, eine Miete zahlen müssen, Müllabfuhrgebühr und so weiter, das ist der Plan mit all den Königen und Fürsten und den alten Adelsgeschlechtern und ihrem Geld und ihren Verbindungen und ihren Plänen und ihrer Verachtung, hurra, willkommen bei den Bürgern, ihr Deppen. Und –
»Bis jetzt gibt es keine wirkliche Gewalt,
aber das kann sich noch ändern«,
sagte Karen in Corcapolo.
Es ist noch nicht vorbei.
Die Massen von gleich aussehenden Männern in Anzügen, die aus Banken und Versicherungen, aus Firmenzentralen und Institutionen fließen, na ja, geflossen werden. Die Angestellten erobern sich ihre Fabriken und Firmen, die Leute, und die Banken dienen für kleine Ruhepausen.
»Jetzt wird es schwierig«, sagt Karen, zu sich oder in den Raum,
denn in
Deutschland hatten die Drohnen einen radikalen
KSK -Mann nicht erkannt, der mit seinem Heckler-&-Koch-Gewehr fast in eine Gruppe Kinder geschossen hätte.
Oh Mann, die Deutschen.
Die den KSK -Mann umringt haben. Die Masse will Blut sehen, also vermutlich will sie das, denn sie befindet sich in einem Rausch der Stärke, sie fühlt Macht. Und das ist ja nie gut, wenn Menschen vergessen, was für alberne Gestalten sie eigentlich sind, und sich an Schwächeren austoben können. An Tieren oder Kindern oder Frauen, oder an Idioten, die am Boden liegen.
Die Masse hier, die man überall auf der Welt als deutsche Menschen erkennen könnte, irgendwas in der Haltung, im steifen Lendenwirbelbereich, das sie auszeichnet, und das Unvermögen, sich geschmeidig in unbekannte Umstände zu integrieren. Die Deutschen sind oft zu viel oder zu wenig, zu laut oder leise, zu überfreundlich oder schroff. Den Ton treffen sie nie, aber hier und jetzt
liegt der KSK -Mann am Boden, und keiner tritt auf ihn ein oder beginnt, ihm ein Körperteil abzureißen, woraufhin sich dann ein Rudel in ihn verbisse. Er atmet schwer, er ist panisch, der KSK -Mann, der vor einigen Minuten noch versucht hatte, die Leute mit seiner Schnellfeuerwaffe niederzumähen, den Waffen der Massen zum Trotz, von denen er nicht wissen kann, dass sie nur mit Betäubungsmitteln und Platzpatronen geladen sind.
Er wollte doch nur die Stellung halten für die Werte, an die er glaubt (ähm … Schnitzel). Und nun wartet er auf das Schlimmste, aber –
Vielleicht ist es das Wetter, die euphorisierte Stimmung, die entsteht, wenn man in einer Masse Gleichgesinnter unterwegs ist, oder der Erfolg, den die Menschen im RCE -Chat mitverfolgen können.
Der KSK -Mann liegt am Boden. Sein Helm und seine Panzerung und seine Waffen sind verschwunden.
Er hat sich eingenässt und sieht nicht weit von seinem Liegeplatz das Humboldt Forum brennen.
Oh –
Da werden gerade die Kunstwerke auf bereitstehende Laster getragen. Und zu ihren Eigentümern zurückgeschickt, wenn das hier vorbei ist.
Und wenn er es überlebt, der
Sir Castlewood, zur gleichen Zeit in England.
Mitglied der ERG , der European Research Group. Die researcht hatten, was das Zeug hielt, bezahlt vom englischen Volk und von irgendwem, der viel Geld zur Unterstützung aller nationalistischen Anstrengungen an das Constitutional Research Council zahlte, eine aufrechte, rechtsnationalistische Gesellschaft, über die keiner mehr wusste, außer dass die tolles Zeug machte.
Egal,
die ERG , ein Grüppchen latent soziopathischer Menschen innerhalb der Tories, die so viel Gutes für die Bevölkerung gebracht hatten.
Der Brexit-Treiber und Hardliner – innerhalb der Hardliner-Partei der Tories. Was wurde da alles untersucht zum Thema Austritt aus der EU – die Rentabilität für die Finanzprodukte, zum Beispiel.
Und die waren jetzt
weg,
verpulvert,
hatten sich aufgelöst.
»Ich befürchte, dass wir alles verloren haben«,
sagt der Sir.
»Alles?«, fragt sein Freund, der leider nach seinem kleinen Infarkt etwas unsauber in der Aussprache ist. Schweigen im Kaminzimmer. Die Eichenholzscheite knacken. Der Sherry in den Gläsern schimmert. Nicht mal Lust auf ein ordentliches Besäufnis haben sie.
Jeder der fünfzehn Anwesenden, die zwei Frauen mitgemeint, denkt nur daran, was er jetzt tun soll. Die hektischen Anrufe bei den Steueranwälten haben zum Teil erschütternde Wahrheiten offenbart. Geld, das nicht in Immobilien oder Boden angelegt ist, gibt es nicht mehr. Also noch weniger als vorher. Die Dokumente, die eventuelles Grundeigentum belegen könnten, sind
verbrannt und
die Banken bankrott, die Notenbanken nicht in der Lage, die Banken zu retten, weil die Aufgabe bei fast allen systemrelevanten Banken, die kollabiert sind, zu groß wäre.
Und
außerdem – sind die Mitarbeitenden der Notendruckereien nicht zur Arbeit erschienen. Sie nehmen an der Revolution teil.
Schweigen.
Von draußen hörten sie die Meute. Den Pöbel. Die Unberührbaren.
Es ist an der Zeit, sagte der Sir und reichte den Anwesenden einen Sherry. Oder etwas in der Art.
Draußen fliegt der Helikopter der Brigaden
die Reste der Königsfamilie auf die Isle of Man –
Tschüssi,
auch euch –
Angestellte und Vorstand, die JournalistInnen des Medienkonzerns in Berlin laufen über den Platz.
Da läuft Torben. Er hatte gerade eine großartige Headline für die morgige Ausgabe der Boulevardzeitschrift verfasst (Randale und der Mob – Was wollen die Chaoten?), als die Rotte in den Repräsentationssaal des Gebäudes stürmte. Der Raum atmete, wie jeder, wie alles hier, die Überlegenheit des konservativen Mannes. Die Holzvertäfelung – importiert aus England. Gekaufte und an einen Neubau geklebte Aristokratie strahlt die gesamte Lächerlichkeit einer deutschen Nachkriegszeit aus. In der Nazis schon wieder wer waren, der Volkswagen Triumphe feierte, und die Frauen tolle Einbauküchen bekamen und eine Dauerwelle. Hier finden Feiern statt, wenn sich die Herren der Führungsetage irgendwelche Preise für großartigen Journalismus verliehen. Prost. Und nun kommen die Rotten und stoßen die Schreibtische um, treten gegen das erlesene Mobiliar. Schreiend rennen die Führungsmitarbeitenden in die Tiefgarage, in denen ihre Porsches und Audi Quattros parken, das Auto, hurra, das Auto, aus den eingenommenen Firmenetagen der schwachsinnigen Autostädte, Stuttgart, München, Wolfsburg, oh Wolfsburg – wer ist eigentlich so bescheuert, dem Auto eine Stadt zu bauen, wo es kaum moderne Städte für Menschen gibt.
Die Medienhäuser, die verzagten Medienhäuser, die schlecht bezahlten JournalistInnen, immer auf der Jagd nach wirklich erregenden Neuigkeiten, in Konkurrenz zu den Plattformheinis, wo die Nachrichten nur die Daten der User kosten.
Apropos –
das wird teuer,
in der Nordsee, wo unterdessen von umsturzbegeisterten Fischern der Weltraumbahnhof, der in der See schwimmt, pulverisiert wird, nachdem die Mitarbeitenden auf Boote verbracht worden waren. Da flog der »New Space Market« in die Luft. Die vier größten Raketenhersteller, die ihn, von der Politik, also von den BürgerInnen finanziert, betrieben hatten, waren ja auch verschwunden. Der Wachstumsmarkt All, sprich – das Abtasten auf Verwertbarkeit, nach Rohstoffen, der Ausbau von Überwachungssatelliten, Datenspeichern, all das schöne Geld glimmte im Schein der untergehenden Sonne noch etwas nach.
Alles weg?
Noch nicht. Es ist noch nicht vorbei. In einigen Ländern Europas brennt noch Licht,
in Frankreich ist der Präsidentenpalast übrig.
Die Banken, Unternehmensberatungen und großen Firmen sind bereits umgestaltet worden.
Fast zehntausend ArbeiterInnen sitzen zufrieden in der Geschäftsetage der ArianeGroup. Auch beim Kampfdrohnenhersteller
Safran – bei Airbus, bei der Thales Group – Kernkompetenz Militär und Identität – war freundlich aufgeräumt worden. Es war nicht zu Gewaltanwendung gekommen, vielleicht den ständigen Pushnachrichten mit beruhigenden Ansprachen geschuldet, oder den verschiedenen Hashtags #keinegewalt #fckbürgerkrieg #freundlichbleiben, #nobürgerkrieg.
Und nun steht also der besagte Präsidentenpalast an, und den nimmt man nicht einfach ein, da ist der RAID – die Recherche, Assistance, Intervention, Dissuasion –
davor. Oder kurz: die Einsatzgruppe mit ihren dreihundert
ausgebildeten Kampfmaschinen. Von denen nur zweihundertfünfzig jetzt auf einem Kreuzfahrtschiff Kresse anbauen.
Aber es waren noch zu viele übrig,
und da
taucht der erste von drei Kampfhubschraubern über dem Élysée-Palast auf. Und landet im Jardin des Champs-Élysées.
Heraus springt der erste Kämpfer der Abteilung »Suche, Unterstützung, Intervention, Abschreckung« –
»Guten Tag, ich bin Gustave, und ich bin Kämpfer in der Abteilung ›Suche, Unterstützung, Intervention, Abschreckung‹«, diese Beschreibung des RAID ist es, die Gustave bis heute mit Stolz erfüllt. Abschreckung, wie stark das klingt. Sein Land verteidigen in einer großartigen Uniform, ganz in Schwarz mit Sturmmasken, gegen Linksextreme, Islamisten und verwirrte Einzeltäter zu kämpfen und sie zu erlegen, erfüllt ihn. Es ist in seine Bewegungen und sein Denken eingeschrieben. Er entspannt nie. Er ist immer am Limit seiner Konzentration, denn überall lauern Subjekte, die dem Land schaden wollen, die die Demokratie zerstören wollen, die töten wollen, okay, Gustave weiß nicht genau, was er damit meint, wenn er das Wort Demokratie ausspricht, aber er ist gerne Franzose. Er glaubt an die Werte (ähm … Baguette, Gänsestopfleber).
Teile seiner Gruppe versuchen, den Präsidenten aus dem Krisenraum zu holen, um ihn nach Martinique auszufliegen, wo er im Besitz einer Öko-Ranch ist,
die anderen Truppen, in denen er aktiv ist, werden die Terroristen erledigen.
Da sieht Gustave die ersten Verbrecher. Es sind. Kinder. Und das ist der Moment, auf den Gustave in seiner harten Ausbildung vorbereitet wurde. Er wurde darauf trainiert, kein Mitleid zu empfinden, denn
es gibt keine Opfer unter Terroristen. Jedes noch so niedliche Kind kann zum Mörderkind mit einem Sprengstoffgürtel werden. Gustave war erst im Polizeidienst und hatte dann im harten Auswahlverfahren unter vierhundert Bewerbern einen Ausbildungsplatz erkämpft. Er wollte nicht zum Militär, zur Polizei oder zu einer anderen, weichgespülteren Abteilung der bewaffneten Sondereinsatzgruppen.
Die Auswahlkommission war erstaunt über Gustaves Zielgenauigkeit, seine Nahkampftechniken und vor allem über jede Abwesenheit von Mitgefühl. Oder überhaupt Gefühlen.
Den zweiwöchigen Härtetest vor der Ausbildung hatte er mit Bestnoten bestanden. Gustave war eine Killermaschine mit Herz. Nur ohne Herz –
Er war Scharfschütze geworden. Und nun legt er auf Kommando sein Maschinengewehr an, ein gutes deutsches Fabrikat, brandneu, zielt auf die erste Reihe der linken Terroristinnen, er sieht hinter den Kindern eine Reihe Frauen. Er sieht seine Mutter. Nun ja,
Pflicht ist dicker als Wasser. Gustave schießt, aber –
Nichts passiert,
Jubel der Freunde in Corcapolo. Der Geofencing-Hack hat funktioniert. Die großartige Software und der amerikanische Trick, der früher nur bei Raketenabwehrgeräten eingesetzt wurde, Waffen zu verkaufen und zugleich sicherzustellen, dass sie zum Beispiel in – Afghanistan oder der Schweiz nicht gegen die eigenen Leute gerichtet werden können. So wie es den Herstellern von Kampfjets immer möglich war, die Jets in allen Ländern, an die sie verkauft worden waren, jederzeit zu Boden zu bringen.
Es war hervorragend gelaufen. Dass die gesamten Waffenlieferungen und die ausgelagerte Software für die EU aus Deutschland kamen. Die Software hatten sie gehackt, und nun standen überall in der EU die Reste der Einsatzgruppen, die nicht gerade eine Kreuzfahrt machten, und schossen ins Nichts.
Die Freunde trinken Kaffee. Sie spreizten die kleinen Finger ab.
Sie fühlten sich kurz wie die HerrscherInnen der Welt.
Aber das kann auch immer enden …
Dieses Gefühl,
der Nabel von allem zu sein, das den CEO der Credit Suisse in der Schweiz lange innewohnte – er hatte jedenfalls nie daran geglaubt, dass der Tag kommen wird, an dem das Finanzsystem explodiert oder implodiert oder egal. Er weiß, was es bedeutet, wenn fast dreißig Prozent der Banken in der Kategorie »Too big to fail« insolvent sind. Er weiß, was es heißt, wenn das Vertrauen der KundInnen verschwunden ist, denn die Banker- und TopinvestorInnen, die Hedgefonds-Typen investieren nicht ohne Grund in Realwerte. Keiner traut sogenannten liquiden Finanzmitteln, Luftprodukten, Anleihen, der Börse, alles nur Spielkram. Die Banken trauen einander nicht, keiner will Geld an den anderen leihen oder von ihnen. Die Nationalbanken mit ihrer Nullzinspolitik, mit ihren Negativzinsen in ihrem verzweifelten Bemühen, das System am Laufen zu halten, wie einen toten Hamster, den man mit Stromschlägen zum Zucken bringt. Der CEO wusste, dass es gelaufen ist, als er am Morgen beim Training die Berichte über den Banken-Run weltweit sah.
Er packt seine Unterlagen zusammen, räumt den Tresor, in dem er Diamanten, Gold, Staatsanleihen aufbewahrt. Seine Frau und der kleine Ferdinand hatten gepackt, und im Vorgarten seines Anwesens in Küsnacht parkt der Firmenhelikopter. Auf geht es zu seinem Anwesen auf dem Lido di Venezia.
Nach einer Stunde erreicht er die entzückende Insel. Der Helikopter landet auf dem alten Militärflughafen, die bereitstehende Limousine ist leer. Der Fahrer ist wohl –
beschäftigt. Der CEO fährt selbstständig zu seinem fünf Minuten entfernten Anwesen.
Aber
auf dessen Terrasse sitzen Gruppen junger Menschen. Sie lungern am Pool, trinken seinen Alkohol.
Es sind
die RevolutionärInnen aus Venedig,
die, nachdem sie ihren neoliberalen Kleinstadtdiktator aus dem Amt getragen hatten, die Liste mit allen nun besitzerlosen Gebäuden auf dem RCE -Kanal studiert hatten.
All die Gebäude und Straßenviertel, Innenstädte und Villen, Schlösser und Parks und Straßen, die im Besitz von
Banken, Fonds, Investment-Risikokapital-Gedöns, Stiftungen, MilliardärInnen gewesen sind,
gehören nun
allen.
Die besitzerlosen Objekte werden von einer AI des Herzens im RCE -Chat veröffentlicht. Der Subchannel heißt: »Adopt a Flat«.
Na, ein schönes Durcheinander.
Denn da stehen sie überall vor besetzten Häusern, die Hedgefonds-Kapitalisten, die KonzerninhaberInnen, die CEO s, die hochrangigen Kirchenvertreter, die Mafiosi, also anderes Wort für KapitalistInnen, da stehen die Besitzerfamilien, denen es nichts mehr hilft, in Dynastien zu denken,
da stehen sie mit ihrem Gepäck, ihren Familien, ohne ihre Bediensteten, die haben zu tun. Die müssen enteignen.
Die GroßaktionärInnen und Aufsichtsratsmitglieder,
die Männer Gottes, die Hedgefonds-Manager, die PricewaterhouseCoopers und Programmierer der sozialen Ungleichheit, die nun alle irgendwo saßen, auf Inseln oder in Mecklenburg-Vorpommern, in den Häusern und Wohnungen, die ihnen nicht mehr gehörten. Oder – sagen wir – es würde schwer werden, das nachzuweisen. Und sie fragten sich, was jetzt kommen würde. Sie denken an die Zarenfamilie und ihr schreckliches Ende, sie bedauern sich, denn
sie haben doch nichts falsch gemacht,
denn sie haben fast innerhalb der Gesetze gehandelt.
Sie waren ArbeitgeberInnen.
Sie sorgten für Wohlstand.
Allen war es doch immer besser gegangen.
Stück weit.
Aber was jetzt? Was war mit den Jachten und Freunden, den Gestüten und Anwesen, mit den Hotelsuiten und Bällen in Monaco – und der Arbeit? Die sie doch für die Allgemeinheit geleistet hatten. Wer sollte sich jetzt um die Wirtschaft kümmern, den Fortschritt, die Autobahnen, die Autos, die Nahrungsmittel, die Banken?
Und was ist eigentlich mit Bill Gates am anderen Ende der Welt?
Danke der Nachfrage.
Also – in seinem Sechst-Anwesen in Malibu steht Bill Gates zur gleichen Zeit mit einer lockeren Leinenhose barfuß im Wasser, das wie immer zu kalt ist. Verrückt eigentlich, dass einige der reichsten Menschen der Welt in Häusern an einem Strand wohnen, der hinten von einer Schnellstraße begrenzt wird und vorne von einem Meer, das zu kalt zum Schwimmen ist. Bill geht langsam ins Wasser, er kann schlecht schwimmen, er war immer mehr der Denker. Und der Genießer. Seine Kinder reden nicht mehr mit ihm, ein großer Teil seiner Anlagen sind dahin, liegen ohne die dazugehörigen Einträge in Grundbuchämtern sinnlos in dem großen Land herum, und auch hier, weit entfernt vom alten Kontinent, haben sich die Ereignisse verselbstständigt. Die Nachrichten von den Bankhacks verbreiteten sich in den USA und Kanada durch das RCE -Game und dem dazugehörigen Chat.
Die Streaming-Serie war auch in den Vereinigten Staaten sehr erfolgreich, und dazu kamen Hunderte Millionen unzufriedener Menschen, die im Inneren des Landes lebten, in Orten, die noch nie ein Lebewesen betreten hatte. Oder die so aussahen.
Was machen wohl die anderen gerade, die Forbes-Liste-Führer, mit denen er seit Jahren einen Kampf um Platz Nummer 1 austrägt. Das Geschäft, denkt Bill das nun schwer angeschlagen ist. Natürlich besitzt er immer noch genug. In seinen Safes lagern Edelsteine, Gold, Kunst. Mehr wert, als er in seiner bemessenen Zeit würde ausgeben können – aber welchen Wert haben Edelmetalle, wenn die Währung verschwunden ist? Ups, bereits bis zur Hüfte ins Wasser.
Gelaufen. Es schien sich als Fehlannahme herauszustellen, dass man acht Milliarden Menschen – anleiten könnte. Dieser Traum, den viele wie er geträumt hatten, einfach weil zu viel Geld Menschen unrealistisch werden lässt. Weil ständiges Wachstum zu Bullshit-Ideen führt. Ein Land beherrschen, oder mehrere, entscheiden können, was gut für den Planeten ist, irgendwelche Pläne durchziehen mit der großen Unbekannten von acht Milliarden Menschen. Das war eine vermessene Bullshit-Idee. Größenwahnsinnig und zugleich bescheuert, an Schreibtischen und mithilfe von Computersoftware entstanden. Wir überwachen die gesamte Weltbevölkerung, erziehen sie zu Mäßigung und Demut, wir verhindern dadurch Unruhen und Aufstände, um einfach unsere Ruhe zu haben, um zu tun, was wir so tun: Uns uneinig zu sein, uns zu hassen, zu bekämpfen. Aber bitte schön in einem kleinen Kreis. Diese Schreibtischpläne hatten die Unkontrollierbarkeit von Massen nicht bedacht, den Trotz von Menschen, die Natur, die auch ihr eigenes Ding durchzog, Katastrophen, Meteoriten, Seuchen, alles nicht mitgeplant. Dummerchen.
»Und warum machst du das alles, Papa?«, hatte seine Tochter gefragt, und er hatte gesagt: »Um mich in die Geschichte einzuschreiben.« – »Aber Papa«, hatte sie gesagt, »das interessiert doch die Geschichte nicht.«
Und Bill hatte nichts weiter entgegenet. Er hatte auch nicht geweint. Später dann aber. Hatte er eine Erkenntnis. Ein Aufflackern von Wahrheit. Es war ihm nie um die Rettung der Menschen gegangen. Verdammt, er kannte Menschen, und das war nichts, was man retten sollte. Es ging ihm
immer nur um Geld.
Er sieht auf sein Bäuchlein, auf seine mit braunen Flecken überzogenen Hände. Und da kommt eine Welle.
Es ist
wie in einem Traum, denkt Don.
Sie war gerade mit dem Gesicht auf die Tastatur gefallen und hatte damit den Chat zu der Aufbaugruppe in Mailand unterbrochen. Die Gruppe aus jungen WissenschaftlerInnen, die überall in den Ländern an der Neuorganisation arbeiteten –
Don zuckt hoch und sieht sich um. Alle noch da. Kein Traum. Die Stimmung ist überreizt, komplett seltsam, und neben ihr sitzen Rachel und Pjotr auf einem Stuhl.
Don hatte sich monatelang so sehr auf den Misserfolg programmiert, das Einsatzkommando, das ihre Siedlung stürmt, hatte sie sich vorgestellt, ihren Tod durch eine Schussverletzung, sie hatte an Leute gedacht, die nicht auf die Straßen gehen, und an Banken, die einfach weitermachen wie immer. Alles hatte sie sich vorgestellt, jeden Tag, um sich vorzubereiten, sodass sie jetzt nicht begreifen kann, was jetzt passiert. Und nun zittern ihre Hände so stark, dass sie den Versuch, noch mehr Kaffee zu trinken, aufgibt.
Ben sagt:
»Jetzt startet der Film.«
In dem der Commissaire général neben den anderen InfluencerInnen spricht, neben dem Erzbischof, dem Boyband-Boy, der Direktorin – er spricht unter den verschiedenen Hashtags auf den sozialen Medien, auf dem RCE -Chat, er redet, wie man es von einem Oberbefehlshaber erwartet.
Die Aufnahme des Videos war die aufwendigste, die sie in all den Monaten gedreht hatten.
Der ehemalige Commissaire général sagt, Ruhe und Kraft ausstrahlend:
»Liebe Menschen,
wir haben den ersten Schritt geschafft. Wir haben ihnen ihre Banken, Häuser, Fabriken, ihre Flugzeuge und ihre Macht genommen. Wir haben zurückerobert, was eine Minderheit von der Mehrheit gestohlen und ihren Familien weitervererbt hat.
Wir danken euch für eure Ruhe, euren Einsatz.«
Im Hintergrund sieht man nun eine riesige geteilte Leinwand, kleine Fenster wie bei einem Onlinemeeting. Je nach Land die entsprechende Totale mit den lokalen Revolutionsleitungen.
Während die anderen Gruppen im Hintergrund eine starke und zugleich Zuversicht ausstrahlende Masse bilden. Die Revolutionshymne leise im Hintergrund –
in Deutschland spricht der Moderator, der seit dreißig Jahren Quizshows und Sonnabendabendprogramme leitet, den selbst die jungen Menschen als Teil ihrer Familie wahrnehmen.
»Nun werden wir uns kurz ausruhen.
Geht in eure Wohnungen, eure Häuser, eure Zimmer, und erholt euch. Wir werden dafür sorgen, dass euer Geld innerhalb kurzer Zeit wieder auf den Konten ist, die Supermärkte haben in der Zwischenzeit kostenlose Lebensmittel im Angebot.
Und in den nächsten Tagen werden wir gemeinsam versuchen, die Welt zu retten. Das Leben sollte nicht nur Überleben sein, kein ständiger Missstand, den man flicken muss. Kein Vegetieren in dauernder Panik, in der der Mensch außer im Netz zu pöbeln und sich zu verschulden, keinen Beitrag mehr leisten kann.
Wir werden mit euch zusammen die Länder regieren, die Gemeinden, mit der Beteiligung aller BürgerInnen,
wir werden einfach noch einmal starten und versuchen, den Irrsinn zu beenden. Das Tempo zu verlangsamen, mit dem wir alle in den Abgrund rasen. Wir werden ein Europa aufbauen, in dem jeder mitgestalten kann, jede und jeder ein Leben ohne Angst und Panik führen kann. Wir werden den Asphalt entfernen, die Pestizide.
Wir werden noch einmal beginnen. Ohne Kapital, ohne Milliardäre. Aber mit Wissenschaft, fairen Gesetzen und den gleichen Chancen für alle.
Und wenn das scheitert, dann wissen wir wenigstens, dass wir es versucht haben.
Morgen fangen wir damit an. Nach einem guten Frühstück.«
Klingt ein bisschen wie eine Politikerrede, aber den Leuten gefällt so etwas.
Die Sonne ist aufgegangen, alle stehen da und klatschen. Im Film. Der auch auf allen verfügbaren Werbebildschirmen läuft, der in Endlosschleife auf den Kanälen der sozialen Medien läuft. Dort, wo sie nicht vom Netz genommen worden.
Waren.
Hoppla,
da hatte
keiner an die Geheimdienste gedacht. Dachte die Geheimdienstmitarbeiterin in Den Haag. An die Staatssicherheit. Die wieselflinken Männer und Frauen in den Diensten ihres Vater- oder Mutterlandes. Sie saßen ratlos in ihren Büros unter den tiefergelegten Decken mit den Halogenlichtern oder den Neonröhren.
Einige Geheimdienstmitarbeitende begannen, sich zu betrinken. Die Geheimdienstmitarbeiterin versteckte sich im Keller,
und alle hatten
Angst.
Wie
der
Banker mit seiner Familie in Venedig, der sich inmitten der Unruhen und in Anbetracht seines besetzten Hauses in ein Hotel geschlichen hatte, ein kleines Stundenhotel am Rande der Stadt, und da saß die Familie nun, und seine Frau betrachtete ihn mit der Abscheu, die sie schon immer empfunden hatte, und seine 5 Millionen Euro Jahresgehalt, Boni und Dividenden noch nicht mitgemeint, waren nun auf einmal nichts mehr wert, jetzt, wo er einfach nur ein Mensch war, in einem kleinen Hotel in Italien,
und
Gustave, der Ex-RAID -Kommandoleiter,
steht auf dem Deck eines Kreuzfahrtschiffs der Costa-Linie und sieht kein Land.
Da ist kein Land, nur das Meer und das Schiff und viele Männer, von denen einige bereits begonnen hatten, Liegestütze zu machen, einige prügelten sich um die Führung, denn darum geht es doch immer. Um arme Schweine, die sich um eine vermeintliche Führung prügeln, die nur meint, dass sie wirkliche Macht nachstellen, um das Elend, die Verachtung, mit der sie behandelt werden, an Leute, die schwächer sind als sie, weiterzugeben. Ein paar Männer legen Gemüsekulturen an. Ein Neonazi mit Hakenkreuz auf der Stirn betet.
Ein anderer ruft leise nach seiner Mutter.
Gustave hat einen Moment der Panik.
Wenn er sich den Rest seines Lebens vorstellt.
Als
Freia aus dem Hubschrauber auf die Cayman-Hauptinsel entlassen wird, steht ihr das Wasser bis zu den Knöcheln. Sie sieht verschiedene Aufsichtsräte, Bankinhaber – und Hagen. Alle mit nassen Hosen.
Der Anstieg des Meeresspiegels hat das kleine britische Paradies zu einem dauerüberschwemmten Sumpfgebiet werden lassen. Hier leben zweiundsechzigtausend Menschen und zweihunderttausend sogenannte Firmen, die sich in der von König Georg III . erlassenen Steuerfreiheit als juristische Personen gesonnt haben. 69 Prozent aller Hedgefonds der Welt sind hier beheimatet. Aber wo nur? Da winkt keiner den Angekommenen zu. Hier leben ein paar, die immer hier lebten. Nachfahren von ehemaligen Sklaven, Steuerflüchtige, Freaks,
und viel Vergnügen der kleinen Rasselbande, die sich nun suchend umblickt. Was suchen sie wohl, einen Ausweg? Er wird nicht geliefert. Das Finanzsystem weltweit ist – nicht mehr vorhanden, damit entfällt die Möglichkeit, sich eine Jacht zu chartern, nach St. Barth zu gelangen, da kennt man wenigstens den Besitzer von irgendwas. In den kommenden Stunden werden Flug- und Schiffsverkehr zu der kleinen Sumpfinsel eingestellt werden, denn es gibt keine Notwendigkeit ihrer Existenz mehr, keine Reichen, keine Anwälte von Reichen, die Caymans sind von der internationalen Weltkarte verschwunden.
Schade, aber –
Wohl dem, der hier ein Stück Land zum Anbau schmackhafter Früchte hat.
Das hat keiner der neu Angekommenen, sie haben Kreditkarten. Und die Kurzwahlnummern ihrer AnwältInnen, aber die sind.
Auch weg.
Wenigstens ist das Wetter gut.
Was für Leo allerdings egal ist.
Er sitzt in seiner Zelle in London. Eine dieser modernen, aus dem 3-D-Drucker gespritzten Zellen ist es, allerdings mit Tageslicht und einem Blick nach draußen auf die Flure, die keine Flure mehr sind, sondern eher ein Platz in einem Lichthof, in dem die Gefangenen ihre Identität spüren können und eine Art Teilhabe am Leben genießen dürfen. Allerdings
sind die meisten der Gefangenen nicht mehr da. Alle sogenannten politischen Gefangenen, die hier saßen, die KlimaschützerInnen, GewerkschafterInnen, die Leaker und BloggerInnen, die Ransomware -Gruppen, wurden von den bezahlten, gekauften oder überzeugten WärterInnen freigelassen. Oder, im Fall moderner Haftanstalten, wurden die Türen per Code geöffnet. Leos Tür blieb zu. Er erhielt weiter Nahrung. Das Licht geht an und aus.
Er hat Zeit, um alle Facetten seiner Persönlichkeit zu erforschen und an seinem Muskeltonus zu arbeiten.
Eigentlich alles in Ordnung, aber –
zur gleichen Zeit
stehen in der Schweiz immer noch Menschen auf dem Platz vor dem Bundeshaus in Bern. Seit den Unruhen in ganz Europa, dem Bank-Run, der Besetzung der Unternehmen, stehen sie hier. Unschlüssig, denn sie haben keine Genehmigung für ihre Demonstration erhalten. Und darum hat die Demonstration hier nicht stattgefunden. Die Menschen stehen einfach so –
herum.
Viele im Land ansässige Milliardäre sind zwar verunsichert, doch eine gute Tasse Tee mit Blick auf den Genfer See oder die Innerschweizer Alpenwelt lässt sie schnell wieder ruhiger werden. Die Banken werden, nachdem die Bankangestellten in Limousinen in ihre Ferienhäuser im Tessin und nach Gstaad abgereist sind, von Jugendlichen besetzt. Und würden morgen wieder geräumt werden.
Die Leute auf dem Bundesplatz sind immer noch unentschlossen. Man müsste beide Seiten berücksichtigen. Aber wer waren die beiden Seiten? Einige Menschen diskutieren seit Stunden darüber, ob sie einen Stein werfen sollten.
Aber – wohin?
Die Sonne geht aus. Die Kerzen, die hier viele in den Händen hielten, als Zeichen der Solidarität mit,
ja, das war eben nicht ganz klar –
wurden behutsam gelöscht und dann in die Taschen verstaut. Man wirft hier keinen Müll auf die Straßen.
Die kleine Gruppe löst sich auf.
Vereinzelte Gespräche:
»De gömär haut jieetz widär heiii
morn isch’s wätär widär bässär.«
»Mega, chumsch morn zum griuä?
Iu«
»Das war’s« –
sagt Rachel. In Corcapolo.
Pjotr sitzt neben ihr. Die anderen liegen oder sitzen am Boden, die Rechner flackern, da, sieh nur.
Die Menschen gehen nach Hause. Aufgekratzt, gut gelaunt. Die Brigaden berichten aus den Ländern, in denen es einige Verletzte, Ohnmächtige, Umgefallene, Schürfwunden, ein paar Knochenbrüche und einen Infarkt gab.
Und keine
Toten.
Das ist doch erstaunlich, dass es keine Toten gibt, kaum Plünderungen, als ob Millionen einen Moment Pause vom Menschsein gemacht haben, von all dem Scheiß, den sie normalerweise machen.
Manchmal gibt es so merkwürdige Momente, in denen alles zu passen scheint. In denen Systeme gestürzt, Mauern eingerissen werden, in denen Frauen studieren und wählen dürfen, Rassismus nur noch in einigen Köpfen existiert, Geschlechter keine Rolle mehr spielen, Kinder nicht mehr geschlagen werden dürfen, in denen Kohleabbau abgeschafft und Wiesen gesät werden.
In denen verschwindet, was Menschen für hundert Jahre für ein Naturgesetz hielten.
Eine Pause im Irrsinn, ein letztes Aufstehen der Menschen.
Noch eine Anstrengung, die Sache zu retten, das Aussterben zu verhindern, in einer seltsamen Entschlossenheit vereint.
Es ist der letzte Versuch.
Und in den Städten und Dörfern, in den Wohnungen, in denen vor einiger Zeit noch traurige Menschen auf den nächsten Morgen warteten, gehen jetzt die Lichter aus.
Sie sind erschöpft. Aber so lebendig wie lange nicht mehr. Und –
Schau nur, da liegen sie,
sie sind niedlich, wenn sie schlafen. Als ob da nichts Böses in ihnen wohnen würde. Als ob man mit diesen zu schnell gewachsenen Kindern eine neue Welt errichten könnte. Na ja, oder ein neues Land, ein neues Viertel.
Ein neues Dasein für die Leute, die nicht mehr auf Anweisungen warten und auf das bessere Wetter und den nächsten Urlaub oder darauf, dass morgen alles besser wird, oder im Himmel, sondern die wissen, dass sie es sind, die die Macht über ihr Leben haben. Haben werden.
Doch im Moment schlafen sie oder flüstern noch ein wenig, müde und zugleich aufgeregt von diesem langen Tag und dem Mutigsten, was sie vermutlich jemals gemacht haben. Sie unterscheiden sich kaum im Schlaf, in der Dunkelheit, die meisten, die nur gestreichelt werden wollen und an der Sonne liegen und irgendwas essen, um dann wieder ein wenig herumzuliegen und gestreichelt zu werden.
Denken sie vielleicht oder träumen,
morgen ist der erste Tag meines Lebens.
Aber das ist gerade weit weg.
Dieses Morgen.
Wenn alles von vorne beginnt.
Aber vielleicht
wird es diesmal besser.
Fortsetzung folgt.