Mehr als vier Jahrzehnte währte ein unfreiwilliges Großexperiment in Deutschland. Es sollte zeigen, ob mehr Staat oder mehr Markt besser ist für die Menschen. Es begann mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Besetzung Deutschlands durch die vier Siegermächte Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich. Und es endete mit dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90.
Nach dem Krieg hatten die Siegermächte Deutschland besetzt und in Zonen unterteilt, die von den Armeen der vier Siegermächte verwaltet wurden: die Sowjetische Besatzungszone und die Westzonen, die von England, Frankreich und den USA besetzt worden waren. 1947/48 schlossen sich die drei Westzonen zusammen. Durch die Bombardements der Alliierten waren in der Sowjetischen Zone 15 Prozent der industriellen Kapazitäten zerstört – deutlich weniger als in den Westzonen.198 Belastend für die Sowjetische Zone waren allerdings die Demontagen: Als Entschädigung für die im Krieg erlittenen Verluste bauten die Russen im großen Stil Fabriken ab, die sie in die Sowjetunion transportierten.
Dass Deutschland für viele Jahrzehnte in zwei Staaten gespalten bleiben sollte, war nicht von Anfang an so geplant, sondern eine Folge des nach dem Zweiten Weltkrieg beginnenden »Kalten Krieges« zwischen der Sowjetunion und den Westmächten.
Bald schon spielte in der Sowjetischen Zone die Kommunistische Partei (KPD) eine entscheidende Rolle, die sich, nicht ganz ohne Nachhilfe durch die Russen, mit der SPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zusammenschloss. Was die KPD in ihrer Erklärung im Juni 1945 kurz nach Kriegsende versprach, klang für Kommunisten erstaunlich moderat. Die KPD garantierte die »völlig ungehinderte Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums« und versicherte, sie sei der Auffassung, »dass der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre«.199 Doch genau dies sollte in den folgenden Jahren geschehen.
Es begann mit einer Bodenreform, bei der nicht nur ehemals führende Nationalsozialisten, sondern auch Landbesitzer mit mehr als 100 Hektar entschädigungslos enteignet wurden. Die landwirtschaftliche Nutzfläche wurde in kleine Parzellen aufgeteilt und an Bauern verteilt. Die Zerschlagung des Großgrundbesitzes wurde als Maßnahme zur »Entnazifizierung« begründet sowie damit, dass man den Vertriebenen und Flüchtlingen aus den Ostgebieten, in der DDR verharmlosend »Umsiedler« genannt, eine Lebensgrundlage geben wolle. Bis 1950 waren zwei Drittel des enteigneten Landes an Individualempfänger verteilt.
Die Industrie wurde Stück für Stück verstaatlicht. Das begann bereits in der SBZ unter der Parole des »Kampfes gegen den Faschismus«. Nach der kommunistischen Faschismustheorie war der Kapitalismus die Ursache für den Faschismus (so nannten die Kommunisten den Nationalsozialismus), also konnte der Faschismus an der Wurzel nur ausgerottet werden, wenn man den Kapitalismus beseitigte. Die SED stellte daher klar, bei den Enteignungen gehe es nicht darum, ob jemand durch eine Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Regime belastet sei, sondern es gehe um die »Klassenfrage«.200
Ende 1948 erwirtschafteten die Staatsbetriebe in der Sowjetischen Zone bereits drei Fünftel der Produktion, bis 1955 sollten es vier Fünftel werden. Die noch bestehenden privaten Betriebe wurden bei der Zuteilung von Material benachteiligt und stark bedrängt.201 Dadurch verlor die SBZ unternehmerisches Potenzial. Bis 1953 verlagerten mehr als 4.000 Industriebetriebe ihren Firmensitz in den Westen. Das war jeder siebte ostdeutsche Industriebetrieb. Mit ihnen gingen nicht nur die Unternehmer, sondern auch die Führungs- und Fachkräfte.202
Gemäß dem Motto, alle Macht solle jetzt den Arbeitern gehören, wurden viele bisherige Eigentümer oder Geschäftsführer in den verstaatlichten Betrieben abgesetzt und durch Arbeiter ersetzt. In Sachsen waren Mitte 1948 mehr als die Hälfte der Leiter von staatlichen Betrieben ehemalige Arbeiter, 80 Prozent von ihnen hatten nur Volksschulbildung.203 Innerhalb der Betriebe wurde eine gigantische Bürokratie aufgebaut, was notwendig war, um die Flut an Verordnungen, Durchführungsbestimmungen, Anordnungen, Meldungen, Statistiken, Planvorgaben für Produktion, Finanzen und Investitionen einigermaßen zu bewältigen. Jeder volkseigene Betrieb musste monatlich bis zu 65 Meldungen auf komplizierten Formblättern an die oberste Wirtschaftsbehörde, an die Ministerien, Länderverwaltungen, das Preisamt und andere staatliche Behörden liefern.204
So wie in der Sowjetunion wurde auch in der Sowjetischen Zone die Wirtschaft zunehmend durch einen Plan gesteuert. Fritz Selbmann, einer der führenden kommunistischen Wirtschaftsexperten, formulierte das so: »Planwirtschaft [ist], wo die Produktion von oben bis unten, von vorn bis hinten durch Pläne geregelt wird, wo jeder Wirtschaftsvorgang, Rohstoffbeschaffung, Transport, Verarbeitung im Betrieb, Absatzregelung, durch Pläne vorher bestimmt wird.«205
Die Preise, die in einer Marktwirtschaft durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden, setzte nunmehr der Staat fest. Oft waren es politische Preise, die niedriger waren als die der Ausgangsmaterialien. Das galt besonders für Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfes. »Plan« wurde zum Zauberwort. Schon die Kinder mussten bei den kommunistischen Jungpionieren das Lied der Planwirtschaft singen:
Nachdem der sowjetische Diktator Josef W. Stalin im April 1952 in einem Gespräch mit der SED-Spitze verlangt hatte, man solle »Produktiv-Genossenschaften« auf dem Dorf bilden und »ohne Geschrei« den »Weg zum Sozialismus« beschreiten208, begann in der DDR die Kollektivierung der Landwirtschaft. Die neu gegründeten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) wurden gegenüber selbstständigen Bauern bevorzugt, gemäß dem Motto des DDR-Staatschefs Walter Ulbricht: »Erst kommt die Produktionsgenossenschaft, dann kommt noch einmal die Produktionsgenossenschaft und erst dann kommen die Klein- und Mittelbauern.«209 Viele Landwirte, die unter dem zunehmenden Zwang litten, flohen in den Westen.
In der Industrie wurden die Verstaatlichungen und der Druck auf die privaten Betriebe und auf Handwerker forciert. Dies geschah zum Beispiel durch die Steuerpolitik. Ab einem Jahresgewinn von 100.000 Mark (Ost) betrug der Steuersatz 78,5 Prozent, ab 500.000 Mark (Ost) nicht weniger als 90 Prozent.210
Kein Wunder, dass immer mehr Menschen von Ost- nach Westdeutschland flohen, vor allem Bauern, Handwerker und Unternehmer. Von 1950 bis 1952 verließen im Monatsdurchschnitt 15.000 Menschen die DDR, im ersten Halbjahr 1953 stieg die Zahl auf monatlich 37.500.211 Das traf die DDR wirtschaftlich stark. Sie reagierte darauf unter anderem mit Normerhöhungen für die Arbeiter, die wirtschaftlich zwar notwendig waren, aber die Unzufriedenheit noch verschärften. Dies war der Auslöser für den Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Hunderttausende demonstrierten, Arbeiter streikten. Doch die Revolte wurde durch sowjetische Panzer niedergeschlagen. Dabei kamen nach unterschiedlichen Angaben zwischen 51 und mehr als 100 Menschen zu Tode.212
Die SED-Parteizeitung »Neues Deutschland« gab die Sprachregelung aus, bei den Arbeiterstreiks und Demonstrationen habe es sich um eine »faschistische Provokation ausländischer Agenten« gehandelt: »In Westdeutschland saßen und sitzen die amerikanischen Agenturen, die auf Anweisung von Washington die Pläne für Krieg und Bürgerkrieg ausarbeiten.«213 Da Diktaturen nicht zugeben wollen, dass es in ihrem eigenen Land Widerstand und Andersdenkende gibt, beschuldigen sie stets »ausländische Spione« als Drahtzieher. Dies war schon in Stalins Sowjetunion so und ist bis heute in diktatorischen Systemen zu beobachten.
Tatsächlich waren westliche Dienststellen und Nachrichtendienste, wie die Akten zeigen, von den Ereignissen des 17. Juni vollkommen überrascht worden. Zunächst wollten sie die Berichte gar nicht glauben und manche gelangten gar zu der abwegigen Deutung, die Russen selbst hätten die Demonstrationen der Arbeiter organisiert, um Ulbricht unter Druck zu setzen.214
Der Aufstand war für die nächsten Jahrzehnte ein Trauma für die herrschenden Kommunisten. Sie waren fortan vorsichtiger mit Maßnahmen, welche die Arbeiter zu stark belasteten, weil sie um jeden Preis eine Wiederholung der Ereignisse vom Juni 1953 vermeiden wollten. Die Partei war durch die Berichte des Staatssicherheitsdienstes (»Stasi«) genau über die Stimmungen in der Bevölkerung informiert. Berichte über Kritik und Unzufriedenheit dienten ihnen auch als Argument in ihren Verhandlungen mit der Sowjetunion, die in den folgenden Jahrzehnten immer wieder aushalf, damit sich die wirtschaftliche Lage in der DDR nicht zuspitzte.
Gleichzeitig litt die Versorgung der Bevölkerung durch die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft. Der Anteil der LPGs, in denen nicht nur die Felder gemeinsam bewirtschaftet wurden, sondern darüber hinaus Maschinen, Geräte, Zugvieh, das Zucht- und Nutzvieh sowie das Weideland Gemeinschaftseigentum waren, stieg von 13,3 Prozent im Jahr 1952 auf fast zwei Drittel im Jahr 1961. Immer mehr Bauern verließen die DDR. Allein in den Jahren 1952 bis 1956 wurden 70.000 Betriebe durch »Republikflucht« aufgegeben, darunter 30 Prozent »großbäuerliche« mit 20 bis 100 Hektar.215
Die DDR-Führung verfolgte bei der Kollektivierung einen Zickzackkurs. Nachdem das Regime zunächst Druck auf die Landwirte ausübte, ruderte es vorübergehend zurück und versprach im Juni 1953 Bauern, die in den Westen geflüchtet waren, sie könnten in die DDR zurückkehren und würden ihr Land wiedererhalten. Doch von den 11.000 Bauern, die im ersten Halbjahr 1953 in den Westen geflohen waren, nahmen nur zehn Prozent dieses Angebot an. Immerhin wurden 2.500 Gerichtsurteile gegen Bauern, die ihr Ablieferungssoll nicht erfüllt hatten, revidiert und zahlreiche Landwirte, die eingesperrt worden waren, wurden aus der Haft entlassen.216
Die DDR-Führung sah die enormen Kosten der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft, tröstete sich aber damit, dies sei in anderen sozialistischen Ländern auch nicht anders gewesen. Erich Mückenberger, der für die Landwirtschaft zuständige Sekretär beim ZK der SED, meinte: »Aufbau des Sozialismus auf dem Lande kostet immer Geld und es ist noch keinem Land gelungen, dies billig zu erreichen.«217
Die DDR-Führung verkündete zwar, sie wolle die Bundesrepublik wirtschaftlich überholen, um damit die Überlegenheit des Sozialismus zu beweisen, doch davon konnte keine Rede sein. Der private Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung lag in der DDR Ende der 50er-Jahre noch um zwölf Prozent niedriger als in der Vorkriegszeit und betrug nur 50 Prozent des westdeutschen Konsums.218 Damals, die Mauer war noch nicht gebaut, konnten DDR-Bürger von Ost- nach Westberlin fahren und sehen, dass die Versorgung dort wesentlich besser war. Die Produkte waren im Westen 20 bis 30 Prozent günstiger als in der DDR und die Qualität war besser.219
Während die Lebensmittel des täglichen Bedarfs in der sozialistischen DDR-Planwirtschaft unter Kosten verkauft wurden, waren Genussmittel und Kleidung deutlich teurer. Ein Kilo Bohnenkaffee kostete im Westen 19,40 D-Mark, im Osten 80 Mark, Herrenschuhe im Durchschnitt im Westen 32 D-Mark und im Osten über 73 Mark.220 Brot oder Brötchen waren dagegen so billig, dass dies Verschwendung provozierte. Rüdiger Frank, Bürger der DDR und heute ein führender Experte für Nordkorea, berichtet: »Die staatlichen Planer in der DDR müssen regelrecht verzweifelt gewesen sein, wenn die Bäckereien des Landes ihre Verkaufszahlen nach Berlin meldeten und es sich herausstellte, dass jeder DDR-Bürger offenbar Unmengen an Brot aß. Sie konnten nicht ahnen oder nichts dagegen tun, dass manche Bauern das im Vergleich zum regulären Futter viel billigere frische Brot kauften, um es an ihre Schweine zu verfüttern. Deren Fleisch konnten sie später zu staatlich gestützten Preisen mit hohem Gewinn verkaufen.«221
Die Kommunisten waren selbst felsenfest von der Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus überzeugt. Walter Ulbricht erklärte 1958 auf dem Parteitag der SED, die ökonomische Hauptaufgabe sei, dass bis 1961 der Pro-Kopf-Verbrauch der »werktätigen Bevölkerung« bei »allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern den Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland« erreiche und übertreffe.222
Eines der Mittel, um dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen, war, die Kollektivierung voranzutreiben. Nachdem die Kommunisten die Zügel zunächst gelockert hatten, starteten sie im Juli 1958 eine neue Offensive gegen die private Landwirtschaft. Das war absurd, denn die Bauern, die privat wirtschafteten, erzielten höhere Erträge als die Produktionsgenossenschaften. Die Mittelbauern, die erfolgreich gewirtschaftet hatten, hielten sich von den Produktionsgenossenschaften fern.223
Im Dezember 1959 gab die SED den Startschuss für die Zwangskollektivierung. Die örtlichen Parteiführungen wetteiferten, wer zuerst eine Vollkollektivierung melden konnte. In den Dörfern schwärmten Agitationsbrigaden aus, die Einwohner wurden mit Parolen und Musik beschallt. Wer sich durch die Propaganda nicht überzeugen ließ, dem wurde gedroht, manchmal wurde er auch gleich verhaftet.224 Bauern, die sich weigerten, »freiwillig« dem Kollektiv beizutreten, galten als »Konterrevolutionäre«, was ein gefährlicher Vorwurf war, der einen für Jahre ins Zuchthaus bringen konnte.225
Bis April 1960 meldeten alle Bezirke die Vollkollektivierung, aber etwa 15.000 Bauern flohen während dieser von der Partei als »sozialistischer Frühling« gefeierten Kampagne in den Westen.226 Es gab nur noch wenige einzelbäuerliche Betriebe. »Die Revolution auf dem Lande hatte gesiegt, die Ideologen triumphierten und vor den Fleisch- und Gemüseläden der ganzen Republik standen lange Schlangen.«227 Nur zusätzliche Lebensmittelmittelimporte aus der Sowjetunion konnten verhindern, dass die Versorgung ganz zusammenbrach.
Die Situation spitzte sich immer mehr zu. Um die Ernte zu sichern, mussten aus städtischen Betrieben Arbeitskräfte abgezogen werden. Auch fehlten die Maschinen und Wirtschaftsgebäude für eine Großflächenwirtschaft und entsprechend sank der Mechanisierungsgrad etwa bei der Getreideernte von 68 Prozent auf nur noch 39 Prozent. Ab Ende 1960 versuchten immer mehr Bauern, aus den LPGs auszutreten, einzelnen Kollektiven drohte sogar die Auflösung. Die Lasten, die sich aus der Kollektivierung ergaben, wurden von der Staatlichen Planungskommission auf die damals ungeheure Summe von einer Milliarde Ost-Mark geschätzt.228
Gleichzeitig verschlechterte sich das Warenangebot für die Bevölkerung zunehmend. Es fehlte an allem: Fleisch, Wurst, Butter, Käse, Schuhe, verschiedene Textilien, Waschmittel. Die Kunden standen oft vor leeren Regalen, die Versorgung schien sich gegenüber Ende der 50er-Jahre sogar noch verschlechtert zu haben.229 Das von Ulbricht verkündete Ziel, im Lebensstandard den kapitalistischen Westen zu überholen, rückte in immer weitere Ferne.
Anfang 1961 informierte Ulbricht die Moskauer Führung: »[…] der Abstand zwischen uns und Westdeutschland hat sich im Jahr 1960 nicht vermindert. Innere Schwierigkeiten, bedingt durch nicht termingemäße und mangelhafte materiell-technische Versorgung, vergrößerten sich sogar. Die starke Unzufriedenheit unter den Arbeitern und der Intelligenz wurde von dem Zustand hervorgerufen, dass in vielen Betrieben die Kontinuität des Produktionsprozesses nicht mehr gesichert ist.« Im internen Kreis äußerte Ulbricht die Befürchtung, dass die Lage noch schwerer und die »Republikflucht« in den Westen zunehmen werde.230
»Die DDR war durch die überstürzte und gewaltsame Kollektivierung in einen Teufelskreis geraten«, schreibt Stefan Wolle in seinem Buch über Alltag und Herrschaft in der DDR vor dem Mauerbau. »Die Zwangsmaßnahmen hatten zu einer Verschlechterung der Lebensverhältnisse geführt, die immer mehr Menschen zur Abwanderung veranlasste. Die zunehmende Abwanderung zog weitere wirtschaftliche Schwierigkeiten nach sich, die wiederum eine Verschlechterung des Lebensstandards zur Folge hatten.«231
Zudem zeigte sich zunehmend, dass eine Planwirtschaft, in der nicht die Preise Informationen über Knappheit geben und die Ressourcenverteilung steuern, sondern die Planbehörde, systembedingt zu erheblichen Problemen führt. Der Historiker André Steiner verdeutlicht dieses Dilemma anschaulich: »War ein Vorhaben (finanziell) erst einmal in den Plan aufgenommen worden, wurde es von den Betrieben auch in Angriff genommen, ungeachtet dessen, ob die benötigten Ausrüstungen zur Verfügung standen; sie fürchteten, ansonsten die Gelder wieder entzogen zu bekommen. Es wurden also viele Projekte begonnen, ohne je zu Ende geführt zu werden oder Output zu erbringen. In der Industrie entsprachen die in diesen unvollendeten Vorhaben gebundenen Mittel 1960/61 in etwa der Summe, die dort jeweils pro Jahr investiert wurde, mit steigender Tendenz.«232 Die Investitionstätigkeit belief sich 1961 nur noch auf ein Viertel des Niveaus von 1959.233 Verschärft wurden die Probleme noch, weil immer mehr Menschen die DDR verließen.
Im August 1961 wusste sich die DDR-Führung nicht mehr anders zu helfen, als eine Mauer zum Westen zu bauen. Seit 1949 waren 2,74 Millionen Menschen aus dem Osten geflüchtet. Die Planungskommission der DDR registrierte den Verlust von 963.000 Erwerbstätigen. Insgesamt waren über 13 Prozent der Erwerbstätigen in den Westen geflohen.234
Offiziell wurde die Mauer als »antifaschistischer Schutzwall« bezeichnet, der das Eindringen von Faschisten und Agenten aus dem Westen unterbinden solle. Aber jeder wusste, dass das gelogen war – so wie Ulbrichts berühmte, kurz vor dem Mauerbau geäußerte Versicherung, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu bauen. Die Mauer war bereits die Kapitulationserklärung, nachdem die Menschen mit den Füßen abgestimmt hatten, ob der Sozialismus der DDR oder die Marktwirtschaft in der Bundesrepublik das bessere System war.
Diese Folgerung wollte die SED-Führung natürlich nicht ziehen. Da sich die Krise nach dem Bau der Mauer nicht entschärfte, wurde ein »Neues Ökonomisches System« verkündet. Die Eigenverantwortung der Betriebe sollte jetzt verstärkt werden. »Im Grunde versuchten die Reformer, marktwirtschaftliche Mechanismen zu simulieren, ohne die Grundlagen einer Markwirtschaft einzuführen.«235 Doch die Reformen zeigten nur mäßige Wirkungen und wurden wiederholt modifiziert. Schließlich wollte man die Ziele per dekretierten Planvorgaben erreichen: Anfang 1969 verkündete die SED-Führung, sie wolle eine »sprunghafte Entwicklung der Technik und der Produktionsbasis erreichen«. Intern ging sie davon aus, das Niveau der Bundesrepublik in der Produktivität und im Lebensstandard bis 1980 einholen und übertreffen zu können.236
Tatsächlich stieg in der DDR der Lebensstandard. Während 1960 erst 3,2 Prozent der Haushalte einen PKW besessen hatten, waren es 1970 schon 15,6 Prozent. Der Anteil der Haushalte mit Waschmaschinen und Kühlschränken stieg von sechs auf über 50 Prozent. Und dies, obwohl sie für einen durchschnittlichen Arbeiter und Angestellten extrem teuer waren. Denn solche Produkte galten als Luxusgüter und 40 Prozent des Endverbraucherpreises dienten dazu, die Preise für Grundbedarfsgüter zu subventionieren. Ein Kühlschrank kostete 1965 1.350 Ost-Mark, eine Waschmaschine 1.200 Ost-Mark. Das durchschnittliche Nettoeinkommen für Arbeiter und Angestellte betrug damals 491 Ost-Mark.237 In den 60er-Jahren wuchsen die Reallöhne in der DDR um etwa zwei Prozent im Jahr, doch der Abstand zur Bundesrepublik vergrößerte sich, denn hier stiegen die Reallöhne im gleichen Zeitraum um fünf bis sechs Prozent jährlich.238 Vor allem fehlten bestimmte Güter in der DDR ganz oder man musste zumindest lange in einer Schlange anstehen, so etwa für warme Unter-, Kinder- und Trainingskleidung, Winterschuhe, Batterien, Bügeleisen, Anbaumöbel, Zahnbürsten oder Zündkerzen.239
Die DDR verschuldete sich bei der Bundesrepublik und anderen westlichen Ländern, wobei dies zunächst vor allem geschah, um die erforderlichen Anlagen und Maschinen für eine Modernisierung der Industrie einzuführen. »Wir machen Schulden bei den Kapitalisten bis an die Grenze des Möglichen, damit wir einigermaßen durchkommen«, erklärte Staatschef Walter Ulbricht im Mai 1970 gegenüber dem sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew.240 Ulbricht hatte versucht, maßvoll Reformen durchzuführen, doch er stieß dabei auf Widerstand sowohl in der eigenen Partei als auch in der Sowjetunion. Im Mai 1971 musste er zurücktreten, Erich Honecker wurde sein Nachfolger.
Honecker verfolgte eine neue Linie, die er als »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« bezeichnete. Er meinte damit, dass man nicht warten solle, bis die wirtschaftlichen Grundlagen für eine Verbesserung des Lebensstandards hergestellt waren, sondern sofort mit sozialpolitischen Maßnahmen beginnen solle, die sich direkt auf das Leben der Menschen auswirken und auf dieser Basis die Produktivität erhöhen sollten.
Ein Motiv für die neue Linie war die Angst, ansonsten könne in der DDR Ähnliches geschehen wie in Polen, wo es im Dezember 1970 zu Demonstrationen, Streiks und Arbeiterunruhen gekommen war. Im Sinne von Honeckers Linie wurden mehrfach die Mindestlöhne, die Zahl der Urlaubstage und die Renten erhöht, die Arbeitszeit für berufstätige Mütter mit mehreren Kindern wurde verkürzt usw. Vor allem begann die DDR mit einem ambitionieren Wohnungsbauprogramm.241
Die Staatliche Planungskommission wies darauf hin, dass die umfangreichen sozialpolitischen Maßnahmen durch die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung nicht gedeckt waren. Die SED ließ sich durch diese Hinweise nicht beirren. Regierungschef Willi Stoph erklärte im Frühjahr 1972: »Wenn wir mit der Bekanntgabe der sozialpolitischen Maßnahmen an die Arbeiterklasse appellieren, dann wird es solche Ergebnisse in der Produktion bringen, die jetzt in den Berechnungen der Staatlichen Planungskommission noch nicht enthalten sind.«242 Solche Äußerungen waren Ausdruck des Selbstbetrugs eines wirtschaftlich ineffizienten Regimes.
Selbst die bescheidenen Reformansätze der Ära Ulbricht wurden jetzt beendet. In den Betrieben war nicht mehr der Gewinn die zentrale Größe, mit der die Leistung bemessen werden sollte, sondern die Warenproduktion: Je mehr ein Betrieb produzierte – auch wenn es unwirtschaftlich war –, umso mehr konnte abgerechnet werden.243 Wirtschaftlich war das unsinnig und führte zu Fehlanreizen.
Gleichzeitig erhöhten die Kommunisten den Druck auf die damals noch verbliebenen privaten Klein- und Mittelbetriebe. Honecker schürte Neidgefühle gegen die früheren »kleinen Kapitalisten«, die sich »zu Millionären gemausert« hätten. Die letzten privaten und halbstaatlichen Unternehmer verfügten 1971 durchschnittlich über etwa das dreieinhalbfache Nettoeinkommen der Arbeiter und Angestellten. 1972 begann ein Verstaatlichungsprogramm, von dem etwa 11.000 industriell produzierende Handwerksgenossenschaften, halbstaatliche und private Betriebe betroffen waren. Auch das war irrational und rein ideologisch bedingt, denn das Ziel einer besseren Versorgung der Bevölkerung wurde damit konterkariert. Es verschwanden weitere Konsumgüter aus dem Angebot und neue Versorgungslücken taten sich auf.244
Jedes Jahr erhielt Honecker 15.000 Beschwerdebriefe, die als »Eingaben« statistisch ausgewertet wurden. Bürger der DDR schrieben ihm vor allem zu Wohnungsfragen, zu Reisen in die Bundesrepublik und über die alltäglichen Versorgungsschwierigkeiten.245 Ein Familienvater schickte Honecker eine vertrocknete Apfelsine und schrieb dazu: »Als meine Frau diese Woche in unserer Verkaufsstelle war, durfte sie sich über eine Apfelsine für unsere Tochter freuen, da die Lieferung so ›groß‹ war, dass gerade jedes Kind des Ortes eine Apfelsine erhielt. Heute wollten wir die Apfelsine unserer Tochter geben, mussten aber nun auch noch feststellen, dass diese fast völlig ausgetrocknet und ungenießbar war […] Wir arbeiten wie viele Werktätige unseres Landes täglich im Betrieb für das Wohl des Volkes und leisten Qualitätsarbeit! Dafür wollen wir aber auch wirklich einmal QUALITÄT kaufen!!!«246
Manche Bürger machten ihrem Protest auf drastischere Weise Luft. Die Bezirksleitung Halle teilte beispielsweise mit, dass in der Nacht vom 18. zum 19. Mai 1961 an verschiedenen Schaufenstern »durch bisher unbekannte Täter provokatorische Anschriften angebracht wurden. Z.B. ›Sonnabends kein Brot‹ an einem Schaufenster, ›Sahne‹ bei einem Selbstbedienungsladen, ›Bananen-Tomaten-Gurken‹ und Ähnliches. Insgesamt wurden diese Schmierereien an zwölf Stellen im Stadtgebiet angebracht. Zu den Schmierereien wurde weiße Ölfarbe benutzt. Die Sicherheitsorgane haben die notwendigen Untersuchungen eingeleitet.«247
Honeckers Sozialpolitik führte dazu, dass die DDR immer stärker von der Substanz lebte. Notwendige Investitionen blieben aus, die Maschinen in den Fabriken veralteten, für die Entwicklung von Wissenschaft und Technik stand zu wenig Geld zur Verfügung. Die Produktivität fiel weiter hinter die der Bundesrepublik zurück. Hatte der Rückstand Anfang der 50er-Jahre erst bei einem Drittel gelegen, so vergrößerte er sich bis in die 80er-Jahre auf zwei Drittel.248
Die neue Ausrichtung der Politik hatte kurzfristig gleichwohl die beabsichtigten Folgen. Bis Mitte der 70er-Jahre gelang es, mehr Waren anzubieten, die dem Bedarf in Sortiment, Qualität und Preis besser entsprachen, weil die Produktion von Konsumgütern gesteigert, der Export dieser Erzeugnisse verringert und größere Mengen importiert wurden. Dennoch war der Rückstand gegenüber der Bundesrepublik erheblich. Gehobene Produkte wie etwa Autos oder Farbfernsehgeräte hatten eine deutlich schlechtere Qualität als Produkte, die im kapitalistischen Westen angeboten wurden.
Die Steigerung des Lebensniveaus, das zentrale Ziel Honeckers, wurde zudem nur erreicht, indem sich die DDR stärker im kapitalistischen Ausland verschuldete. Als Honecker Anfang der 70er-Jahre Staats- und Parteichef wurde, betrug die Verschuldung im kapitalistischen Ausland etwa zwei Milliarden Valutamark, bis 1982 war sie auf über 25 Milliarden gestiegen.249 Die Ökonomen in der DDR wiesen darauf hin, die Schulden seien längst nicht mehr tragfähig: International gehe man davon aus, dass Kreditnehmer nicht mehr als 25 Prozent ihrer Valutaeinnahmen für Tilgung und Zinszahlungen einsetzen sollten – die Schuldendienstrate der DDR lag jedoch bei 115 Prozent. Bei den eigentlich entscheidenden konvertierbaren Devisen war sie sogar auf unglaubliche 168 Prozent gestiegen.250 Als noch ein westlicher Kreditboykott hinzukam, geriet die DDR an den Rand der Zahlungsunfähigkeit und konnte diese nur vermeiden, weil die Bundesrepublik mit Bürgschaften für zwei Milliardenkredite half.251
Der technologische Rückstand zum Westen wurde größer. Dies zeigt sich auch an dem ambitionierten Mikroelektronikprogramm, das unter Honecker eine große Rolle spielte. Das Programm verschlang allein in den Jahren 1986 bis 1989 14 Milliarden Mark für Investitionen, darüber hinaus wurden weitere 14 Milliarden Mark für Forschung und Entwicklung in diesem Bereich ausgegeben sowie etwa vier Milliarden Valutamark für Westimporte eingesetzt.252 Trotz dieser immensen Aufwendungen war das Ergebnis deprimierend: Die Kosten für die Produktion eines 256-Kbit-Speicherschaltkreises betrugen in der DDR 534 Mark, auf dem Weltmarkt war das gleiche Bauelement für vier bis fünf Valutamark zu haben. Die DDR hinkte trotz der enormen Investitionen dem internationalen Stand acht Jahre hinterher und erreichte gerade zehn Prozent der Stückzahlen westlicher Hersteller.253
Der Rückstand gegenüber dem Westen zeigte sich auch in der Automobilproduktion. 1989, am Ende der DDR, besaß nur etwas mehr als die Hälfte der Haushalte ein Auto. Davon waren über die Hälfte die sogenannten »Trabis«. Lediglich 0,1 Prozent des Autobestandes kam aus dem Westen. Auf einen Neuwagen mussten DDR-Bürger zwischen 12,5 und 17 Jahre lang warten. Vorsorglich meldete sich fast jeder für ein Auto an, die Autoanmeldungen wurden dann zu 2.000 bis 40.000 Mark gehandelt. So konnte man sich in der Warteschlange für Autos nach vorne schieben. Zugleich bildete sich ein schwunghafter Schwarzhandel, bei dem Gebrauchtwagen für das Zwei- bis Dreifache des Neuwertes gehandelt wurden.254
Als in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre mehr DDR-Bürger die Möglichkeit erhielten, in die Bundesrepublik zu reisen, wurde ihnen die Diskrepanz zwischen ihrem eigenem Lebensstandard und dem im »kapitalistischen Westen« noch deutlicher. Obwohl es verboten war, sahen zudem die meisten Ostdeutschen das westliche Fernsehprogramm aus der Bundesrepublik, viele bekamen Pakete mit westlichen Waren von Verwandten oder Freunden aus dem Westen geschickt. Und in den Intershops bestaunten die DDR-Bürger die überlegenen westlichen Waren, die man freilich nur für Devisen erhalten konnte. Dieser ständige Systemvergleich steigerte die Unzufriedenheit.
Das über vier Jahrzehnte stets verkündete Ziel, die Bundesrepublik wirtschaftlich einzuholen und dann zu überholen, war nicht nur nicht erreicht worden, sondern der Abstand zwischen beiden Systemen war noch größer geworden. Die Ursache war das planwirtschaftliche System der DDR, das der Marktwirtschaft in der Bundesrepublik unterlegen war, sodass alle Anstrengungen, Westdeutschland einzuholen, vergeblich waren. Dort hatte man sich nach dem Krieg für eine ganz andere Wirtschaftsordnung entschieden, die als »soziale Marktwirtschaft« bezeichnet wird.
Die Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg waren in den westlichen Zonen sogar höher als im Osten. Dagegen war es von Vorteil, dass im Westen deutlich weniger demontiert wurde, als es die Sowjetunion im Osten Deutschlands tat.
Nach dem Krieg litten im Westen wie im Osten viele Deutsche Hunger. Während die Normalverbraucherration in Großbritannien Ende 1945 bei 2.800 Kalorien lag, betrug sie in Westdeutschland mit 1.400 Kalorien nur die Hälfte. Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1948 wurden wieder akzeptable Werte erreicht. Zudem waren 22 bis 25 Prozent der Wohnungen in Westdeutschland durch den Bombenkrieg unbewohnbar.255
Politisch gesehen hatten die Westdeutschen es allerdings einfacher, weil es – anders als im Osten – keine Besatzungsmacht gab, die auf die Einführung eines planwirtschaftlichen Systems gedrungen hätte. Doch überall in Europa herrschte nach dem Krieg eine antikapitalistische Stimmung. In Großbritannien siegte 1945 die britische Labour-Regierung mit dem linken Gewerkschaftsfunktionär Clement Attlee, in Frankreich erhielten die Kommunisten 1946 28,6 Prozent der Stimmen und wurden an der Regierung beteiligt. Und nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Deutschlands herrschte eine starke antikapitalistische Stimmung. Es gab schon damals zwei große Parteien in Deutschland, die Sozialdemokraten und als zweite große Kraft die CDU, die sich nach dem Krieg als neue Partei gegründet hatte. Die Sozialdemokraten waren noch viel sozialistischer orientiert als heute. Erst etliche Jahre später, 1959, bekannten sie sich in ihrem »Godesberger Programm« zur Marktwirtschaft.
Auch in der anderen großen Partei, der CDU, gab es starke antikapitalistische Strömungen. Dafür steht das »Ahlener Programm«, das die nordrhein-westfälischen Christdemokraten 1947 beschlossen. Das Motto des Programms lautete: »CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus« und wurde von seinen Verfechtern als christlicher Sozialismus bezeichnet. Es beginnt mit den Worten: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein.« Die CDU forderte eine teilweise Vergesellschaftung der Großindustrie und starke Mitbestimmungsrechte. Erst in den folgenden Jahren setzte sich unter dem Einfluss des im September 1949 zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählten Konrad Adenauer in der CDU eine stärker marktwirtschaftliche Linie durch.
Doch vor allem der Initiative eines Mannes ist es zu verdanken, dass sich im Westen Deutschlands nach dem Krieg eine marktwirtschaftliche Ordnung – entgegen den damals dominierenden planwirtschaftlichen Ansätzen – etablierte: Ludwig Erhard. Er kam aus einer Unternehmerfamilie und hatte sich schon in seinem 1942 gegründeten »Institut für Industrieforschung« mit der Frage beschäftigt, wie nach dem Ende des Krieges in Deutschland ein an marktwirtschaftlichen Grundsätzen orientiertes System errichtet werden könnte. Denn im Dritten Reich war zwar das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht abgeschafft worden, aber die Nationalsozialisten griffen zunehmend in das wirtschaftliche Geschehen ein und Unternehmen wurden nach den politischen Vorgaben der Partei gegängelt. Erhard entwarf in Abgrenzung dazu ein ausgesprochen marktwirtschaftliches Ordnungsmodell.
Erhard, der keiner Partei angehörte, wurde nach Kriegsende Wirtschaftsminister in Bayern und leitete eine von den Amerikanern eingerichtete Stelle zur Vorbereitung der Währungsreform. Bereits im Oktober 1946 hatte er in einer Zeitung einen Artikel unter der Überschrift »Freie Marktwirtschaft oder Staatswirtschaft« veröffentlicht, in dem er eine staatliche Planwirtschaft ablehnte und sich für eine Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb und entsprechender Preisbildung aussprach.256
Der Begriff »soziale Marktwirtschaft«, den 1947 der Ökonom Alfred Müller-Armack geprägt hatte, gilt bis heute als Bezeichnung für das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland. Doch wird der Begriff heute anders verwendet, als ihn Erhard verstand. »Soziale Marktwirtschaft« bedeutete für Erhard nicht etwa einen »goldenen Mittelweg« aus Wettbewerbswirtschaft und Sozialpolitik, sondern die Überwindung traditioneller Sozialpolitik durch eine wohlstandschaffende Wirtschaftsordnung.257 Je freier die Wirtschaft sei, so Erhards Überzeugung, umso sozialer sei sie auch.258 Es ist sicher richtig, wenn die Wirtschaftshistoriker Mark Spoerer und Jochen Streb feststellen, dass die Formel von der »sozialen Marktwirtschaft« Ende der 40er-Jahre vor allem dazu diente, »einer materiell verarmten und ideologisch zutiefst verunsicherten Bevölkerung die Rückkehr zum kapitalistischen Wirtschaftssystem schmackhaft zu machen, was damals keineswegs selbstverständlich war«.259 Denn die Nationalsozialisten hatten sich einer starken antikapitalistischen Rhetorik bedient und das »Soziale« wurde schon damals in Deutschland stark betont.
Anders als dies heute verstanden wird, war für Erhard die Marktwirtschaft als solche »sozial« – unabhängig von anschließenden Umverteilungsbemühungen, denen er skeptisch gegenüberstand. Es sei sehr viel leichter, so Erhard, jedem Einzelnen »aus einem immer größer werdenden Kuchen ein größeres Stück zu gewähren, als sich in Kämpfen um die Distribution des Ertrages zu zermürben und sich dadurch von dem allein fruchtbaren Weg der Steigerung des Sozialproduktes abdrängen zu lassen«.260 Je erfolgreicher die Wirtschaftspolitik sei, desto mehr werde Sozialpolitik im alten Sinn überhaupt entbehrlich.261
Erhard konnte seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen in der Praxis durchsetzen. Als Direktor der Wirtschaftsverwaltung der Bizone verkündete er – ohne dies freilich mit den Siegermächten USA und Großbritannien abzustimmen – am Tag vor der Währungsreform vom 20. Juni 1948 durch den Rundfunk das Ende von Zwangsbewirtschaftung und Preisbindung für viele Lebensmittel des täglichen Bedarfes. Deutschland war noch ein besetztes Land und dem US-Militärgouverneur Lucius D. Clay gefiel Ehrhards eigenmächtiges Handeln nicht: »Wie können Sie sich unterstehen, die alliierten Bewirtschaftungsregeln zu ändern?«, fuhr er ihn an. Darauf entgegnete Erhard: »General, ich habe sie nicht geändert, ich habe sie abgeschafft!« Clay konterte: »Meine Berater sagen mir, Sie hätten einen schrecklichen Fehler gemacht.« Erhard erwiderte: »Meine Berater sagen mir das Gleiche.«262 Ob sich das Gespräch wirklich so zugetragen hat, wissen wir nicht. Tatsache ist, dass sein Schritt damals auf viel Unverständnis stieß.
Die Journalistin Marion Gräfin Dönhoff, später eine der führenden Linksintellektuellen Deutschlands, schrieb damals über Erhard: »Wenn Deutschland nicht schon eh ruiniert wäre, dieser Mann mit seinem absurden Plan, alle Bewirtschaftung aufzuheben, würde es gewiss fertigbringen. Gott schütze uns davor. Das wäre nach Hitler und der Zerstückelung Deutschlands die dritte Katastrophe.«263
Erhards Aufhebung von Zwangsbewirtschaftung und Preisbindung war ein mutiger Schritt und eine entscheidende Voraussetzung für den Aufschwung. Denn die Nationalsozialisten hatten die Wirtschaft mit einem dichten Netz von Preis- und Lohnvorschriften überzogen, die von den Besatzungsverwaltungen zunächst beibehalten wurden. »Dieses Netz erschwerte es den Unternehmen, sich über das Bieten hoher Preise wichtige Vorprodukte zu beschaffen. Umgekehrt unterbanden die Preisobergrenzen die Möglichkeit, von einer hohen Zahlungsbereitschaft der Kunden zu profitieren. Preise und Löhne hatten also ihre in einer Marktwirtschaft zentrale Funktion, relative Knappheitsverhältnisse widerzuspiegeln, verloren und somit auch ihre Fähigkeit, Angebot und Nachfrage auf den Gütermärkten bzw. dem Arbeitsmarkt zum Ausgleich zu bringen.«264
Am Sonntag, dem 20. Juni 1948, erhielt jeder Bürger in Westdeutschland im Umtausch gegen 40 Reichsmark 40 D-Mark, weitere 20 D-Mark wurden innerhalb der folgenden zwei Monate ausgezahlt. Wer mehr Bargeld hatte, konnte es erst später umtauschen, wobei das Tauschverhältnis für darüber hinausgehende Beträge ungünstiger war: Für 100 Reichsmark bekam man 6,50 D-Mark.
Nachdem die Währung und die meisten Preise freigegeben waren, füllten sich in Windeseile die Schaufenster mit zuvor gehorteten Waren. Doch zugleich stiegen die Preise stark und es kam zu lautstarken Protesten. Die Gewerkschaften riefen zum einzigen Generalstreik in der deutschen Nachkriegsgeschichte auf. Sie zogen mit Transparenten durch die Straßen, auf denen »Erhard an den Galgen« geschrieben stand.265 »Mit der Akzeptanz der Sozialen Marktwirtschaft war es zu diesem Zeitpunkt noch nicht so weit her«, bilanziert die Ökonomin Karen Horn.266 Da auch die Arbeitslosigkeit zunächst stieg und es bei den westlichen Siegermächten ebenso wie in den politischen Parteien Deutschlands Vorbehalte gegen Erhards konsequent marktwirtschaftliche Orientierung gab, war es keineswegs selbstverständlich, dass sich dieser Kurs durchsetzte.
Angesichts steigender Preise und Arbeitslosigkeit lagen die fertigen Pläne, um wieder zu Bewirtschaftung und Preisbindung zurückzukehren, schon in den Schubladen der Wirtschaftsverwaltung.267 »Viel hätte jedenfalls nicht gefehlt, um das Experiment der Marktwirtschaft scheitern zu lassen, noch ehe sie ihre Leistungsfähigkeit richtig unter Beweis gestellt hatte.«268 Erhard war trotz der Kritik der politischen Linken der damals populärste Politiker in den Westzonen und die CDU zog 1949 mit der Parole »Planwirtschaft oder Marktwirtschaft« in den Wahlkampf, den sie – wenn auch nur knapp mit 31 Prozent gegenüber 29,2 Prozent der SPD – gewann.
Die richtige wirtschaftspolitische Weichenstellung durch Erhards marktwirtschaftliches Konzept war für das darauf folgende »Wirtschaftswunder« der Bundesrepublik Deutschland eindeutig wichtiger als der sogenannte »Marshall-Plan«. Dieser Plan, nach dem damaligen amerikanischen Außenminister George C. Marshall benannt, sah Hilfsleistungen für die notleidende und teilweise hungernde Bevölkerung Europas nach dem Krieg vor. Das Programm hatte ein Volumen von 13,1 Milliarden Dollar. Etwa 25 Prozent der Mittel flossen an Großbritannien, etwa 20 Prozent an Frankreich und je zehn Prozent an Westdeutschland und Italien. Der Rest verteilte sich auf ein weiteres Dutzend Länder. Der Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen berechnete eine Steigerung des Bruttoinlandsproduktes durch diese Mittel für die unterstützten Länder um durchschnittlich ein halbes Prozent in den Jahren 1948 bis 1951.269
Was jetzt in Westdeutschland einsetzte, wird im Nachhinein als »deutsches Wirtschaftswunder« bezeichnet. In den Jahren 1948 bis 1960 wuchs das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um durchschnittlich 9,3 Prozent, in den Jahren 1961 bis 1973 war es immer noch ein Plus von 3,5 Prozent.270 Zwar kam es 1967 erstmals zu einer Rezession (das Bruttoinlandsprodukt ging in diesem Jahr um 0,5 Prozent zurück), doch schon bald nahm die westdeutsche Wirtschaft wieder Fahrt auf. Die Arbeitslosigkeit, die nach dem Krieg sehr hoch war, wurde in wenigen Jahren abgebaut und wich der Vollbeschäftigung. Trotz mehrerer Rezessionen – so etwa nach dem weltweiten Ölpreisschock Ende 1973 – war eindeutig, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Westen Deutschlands sehr viel rascher verbesserten als im Osten.
Dass nicht der sozialistische Osten, wie Ulbricht und Honecker dies als Ziel verkündet hatten, sondern der marktwirtschaftlich orientierte Westen Deutschlands als Sieger aus dem Wettbewerb der Systeme hervorging, war nicht nur an allen volkswirtschaftlichen Daten abzulesen, sondern dies spürte jeder Bürger. Als 1989 Bilanz gezogen wurde271, besaßen 67,8 Prozent der Westdeutschen ein eigenes Auto, aber nur 54,3 Prozent der Ostdeutschen. Zudem war die Qualität der westdeutschen Autos – VW, BMW, Mercedes u.a. – deutlich höher als die der ostdeutschen Fabrikate Trabant oder Wartburg. Und während Westdeutsche jederzeit in ein Autohaus gehen konnten, um sich einen Wagen aus heimischer oder ausländischer Produktion zu kaufen, mussten DDR-Bürger mindestens ein Jahrzehnt auf ihr Fahrzeug warten.
1989 besaßen zwölf Prozent der Ostdeutschen einen Computer, während es im Westen Deutschlands mehr als drei Mal so viele Menschen (37,4 Prozent) waren. In der DDR war ein Telefon im privaten Haushalt meist ein Privileg von Staatsbediensteten und höheren Angestellten. Nur 16 Prozent der DDR-Bürger, aber 99,3 Prozent der Westdeutschen besaßen 1989 ein Telefon. Als das marktwirtschaftliche System auch in Ostdeutschland eingeführt wurde, glichen sich die Zahlen rasch an. Bereits 2006 besaßen 72,9 Prozent der Ostdeutschen (78 Prozent der Westdeutschen) ein Auto, 66,6 Prozent der Ostdeutschen (69 Prozent der Westdeutschen) einen Computer. Und auch in der Zahl der Telefonanschlüsse (99,8 Prozent West, 99,2 Prozent Ost) gab es keinen Unterschied mehr.
Obwohl der Wohnungsbau ein wesentlicher Schwerpunkt in der Honecker-Ära in der DDR war, zeigte sich hier am deutlichsten der Unterschied zwischen einem plan- und einem marktwirtschaftlichen System. Die Mieten in der DDR waren zwar sehr günstig, aber Bürger mussten viele Jahre warten, bis sie eine der begehrten Plattenbauwohnungen zugeteilt bekamen. Die Altbausubstanz in Mehrfamilienhäusern in Leipzig, Dresden, Ostberlin, Erfurt und anderen ostdeutschen Städten war so zerfallen, dass nach der Wiedervereinigung mit einem massiven Steuerprogramm – dem sogenannten Fördergebietsgesetz – viele Milliarden Euro in die Sanierung gesteckt werden mussten. Doch nicht nur alte Gebäude, sondern auch die DDR-Plattenbauten mussten im großen Stil saniert werden. Zusätzlich waren erhebliche Neubaumaßnahmen notwendig, um den Wohnungsmangel in Ostdeutschland zu beseitigen.
Insgesamt wurden in den 90er-Jahren mithilfe steuerlicher Förderungen 838.638 Wohnungen in den neuen Bundesländern und Ostberlin fertiggestellt. Die Kosten beliefen sich auf 84 Milliarden Euro.272 Dies ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass gerade der Wohnungsbau ein Schwerpunkt der Honecker-Ära war. Der damalige Bundeskanzler Deutschlands, Helmut Kohl, hatte »blühende Landschaften« im Osten Deutschlands versprochen und war dafür verspottet worden, doch wer die Städte in Ostdeutschland zur Zeit der DDR-Planwirtschaft und heute vergleicht, kann die Überlegenheit des marktwirtschaftlichen Wirtschaftsystems sinnbildlich erfahren.
Allerdings darf der Erfolg des marktwirtschaftlichen Modells in Deutschland nicht über seine Gefährdungen täuschen. Erhards Modell der »sozialen Marktwirtschaft«, auf das sich heute – mehr oder minder – fast alle Parteien in Deutschland berufen, wurde im Laufe der Jahre immer mehr umgedeutet und steht inzwischen für viele als Synonym für den stark umverteilenden Wohlfahrtsstaat. Erhard kritisierte diese Tendenz schon in seinem 1957 erschienenen Buch »Wohlstand für alle«: »Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: ›Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.‹« Der Ruf dürfe nicht lauten: »Du, Staat, komm mir zu Hilfe, schütze mich und hilf mir«, sondern umgekehrt: »Kümmere du, Staat, dich nicht um meine Angelegenheiten, sondern gib mir so viel Freiheit und lass mir von dem Ertrag meiner Arbeit so viel, dass ich meine Existenz, mein Schicksal und dasjenige meiner Familie selbst zu gestalten in der Lage bin.«273
Die zunehmende Abkehr von diesen Grundsätzen und der exzessive Ausbau des Sozialstaates führten in Deutschland Anfang der 2000er-Jahre zu einer massiven wirtschaftlichen Schwächung. Die Sozialausgaben explodierten förmlich. Lag der Anteil der staatlichen Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt in der Bundesrepublik 1970 noch bei 15,5 Prozent, so war er bis 2005 auf 27,2 Prozent gestiegen. Zum Vergleich: In jenem Jahr betrug die Quote in Großbritannien 20,6 und in den USA 15,8 Prozent.274
Deutschland war nicht mehr das wirtschaftliche Zugpferd in Europa, sondern hatte die »rote Laterne« und war ein Bremsklotz geworden. Die Arbeitslosigkeit stieg und die Politik musste reagieren. Gerhard Schröder, der damalige sozialdemokratische Bundeskanzler, erkannte die Probleme und formulierte schon im Dezember 2002: »Es geht nicht mehr um die Verteilung von Zuwächsen. Neue Ansprüche sind nicht zu erfüllen. Vielmehr werden wir – wenn wir soliden Wohlstand, nachhaltige Entwicklung und neue Gerechtigkeit bewahren wollen – manche Ansprüche zurückschrauben und Leistungen einschränken oder gar streichen müssen, die vor einem halben Jahrhundert berechtigt gewesen sein mögen, heute aber ihre Dringlichkeit und damit auch ihre Begründung verloren haben.«275
Schröder warb für seine Reformvorstellungen bei Arbeitgebern und Gewerkschaften. Vier Jahre lang fanden immer wieder »Kamin-Gespräche mit den Sozialpartnern« statt, aber die Gewerkschaften waren uneinsichtig. In der letzten Gesprächsrunde am 3. März 2003 forderten sie wieder einmal höhere Steuern für Besserverdienende, weitere Schulden und ein milliardenschweres Investitionsprogramm. Schröder, der auf mehr Markt statt auf mehr Staat setzen wollte, platzte schließlich nach der Kritik des Gewerkschaftsvorsitzenden Frank Bsirske der Kragen: »Das ist das dümmste Geschwätz, das ich jemals gehört habe.«276
Wenige Tage später, am 14. März 2003, trat er vor den Bundestag und hielt eine anderthalb Stunden lange Rede, in der er seine Reformen unter dem Schlagwort »Agenda 2010« zusammenfasste: »Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung jedem Einzelnen abfordern müssen.« Schröder stellte ein Reformprogramm vor, das es in sich hatte. Man werde die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammenlegen, und zwar einheitlich auf einer Höhe, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen werde. »Niemandem […] wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern –, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.«277
Der Kündigungsschutz und andere »soziale Errungenschaften« wurden im Rahmen dieser »Agenda 2010« korrigiert. Die Auszahlung des Arbeitslosengeldes wurde auf zwölf Monate beschränkt bzw. gekürzt, die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, Regelungen zur Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten wurden verschärft. Die Akzente im Konzept der »sozialen Marktwirtschaft«, die sich seit den 70er-Jahren zunehmend in Richtung des »Sozialen« verschoben hatten, wurden wieder etwas stärker in Richtung »Markt« gesetzt. Schon in den Jahren zuvor hatte die Regierung Schröder Steuersenkungen für Privatpersonen und Unternehmen beschlossen. Der Spitzensteuersatz, der 1999 noch bei 53 Prozent lag, wurde bis 2005 sukzessive auf 42 Prozent gesenkt.
Wie immer, wenn solche Reformen unternommen werden, gab es erheblichen Widerstand in der Gesellschaft – insbesondere aus Schröders eigener Partei und von den Gewerkschaften, aus deren Sicht die Agenda 2010 ein »marktradikaler« und »neoliberaler« Angriff auf Arbeitnehmerrechte war. Der mittelfristige Erfolg dieser Reformen war jedoch durchschlagend und trug mit dazu bei, dass sich die Arbeitslosenquote in Deutschland von 11,6 Prozent im Jahr 2003 auf 5,6 Prozent im Jahr 2017 halbierte. Ein Grund für diese Entwicklung war, dass sich die internationale Wettbewerbsfähigkeit durch die Schröder’schen Reformen stark verbesserte. Das Bruttoinlandsprodukt stieg in Deutschland von 2.130 Milliarden Euro im Jahr 2003 auf 3.134 Milliarden Euro im Jahr 2016. Und andere europäische Länder, die versäumt hatten, entsprechende marktwirtschaftliche Reformen durchzuführen, darunter Frankreich und Italien, beneideten Deutschland um seine Wirtschaftskraft.