2016, während des amerikanischen Wahlkampfes, lebte ich zwei Monate in New York. Im Fernsehen sah ich einen jungen Mann, der begeistert für den Sozialismus schwärmte. Das passte nicht so recht zu meinem Amerika-Bild. Der junge Mann meinte damit den »skandinavischen Sozialismus«. Er war ein Anhänger von Bernie Sanders, dem demokratischen Konkurrenten von Hillary Clinton bei den Vorwahlen. Sanders bezeichnet sich als Sozialist, aber natürlich meint er damit nicht ein System wie seinerzeit in der Sowjetunion oder in der DDR, sondern er träumt vom sozialistischen Paradies, das vermeintlich in skandinavischen Ländern wie Dänemark oder Schweden verwirklicht sei.
Wenn Schweden mal ein sozialistisches Land war, dann ist das schon einige Jahrzehnte her. Aber so wie an Menschen ihr Image oft noch lange und zäh klebt, wenn sie sich längst geändert haben, so ist es auch bei Nationen. Wir sind ganz generell nur sehr langsam bereit, unser lieb gewonnenes Bild von einer Nation zu ändern.
Um es vorwegzusagen: Schweden ist heute kein sozialistisches Land. In dem Ranking der wirtschaftlich freiesten Länder der Welt gehört Schweden zu der Gruppe der 20 am stärksten marktwirtschaftlich ausgerichteten Volkswirtschaften.469 Mit Rang 19 liegt es vor Südkorea (23) oder Deutschland (26). Das vermeintlich sozialistische Dänemark liegt übrigens auf Platz 18. Was das Kriterium »Business Freedom« betrifft, rangiert Schweden auf Platz acht der freiesten Länder der Welt und bei den »Property Rights«, also der Sicherheit von Eigentum und Verträgen, auf Platz sieben. Beim Kriterium »Financial Freedom« ist Schweden das viertfreieste Land der Welt und beim »Investment Freedom« liegt es auf Platz neun.
Bemerkenswert ist vor allem das Ausmaß der Veränderungen. In dem Scoring des »Index der wirtschaftlichen Freiheit« legte Schweden von 1995 bis 2017 um 13,5 Punkte zu – von 61,4 Punkten auf 74,9 Punkte. China verbuchte im gleichen Zeitraum trotz seiner marktwirtschaftlichen Reformen nur 5,4 zusätzliche Punkte, Deutschland legte trotz der marktwirtschaftlichen Reformen in der Ära von Gerhard Schröder nur um vier Punkte zu, Frankreich verlor sogar einen Punkt und die USA verloren im Vergleichszeitraum 1,5 Punkte. Schweden hat heute beim Grad der wirtschaftlichen Freiheit das gleiche Niveau wie die USA, während es zum Beginn der Erhebung im Jahr 1995 über 15 Punkte hinter ihnen lag.470
Gleichwohl: Wer nach sozialistischen Elementen sucht, der findet diese auch. Bei den Staatsausgaben liegt Schweden auf Platz 170 von 180, sie betrugen in den Jahren 2014 bis 2016 51,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Und die Steuerlast in Schweden ist zwar lange nicht mehr so hoch, wie sie einmal war, aber mit 42,7 Prozent des Inlandseinkommens immer noch fast die höchste der Welt (Rang 179). Doch viele Menschen wissen nicht, dass es andererseits – im Unterschied zu den meisten Ländern – in Schweden inzwischen keine Erbschaft-, Schenkung- und Vermögensteuer mehr gibt, die allesamt abgeschafft wurden. Der Arbeitsmarkt ist jedoch nach wie vor so stark reguliert wie in nur wenigen Ländern (Rang 126).471
Sozialistische Elemente finden sich also durchaus in Schweden, auch wenn die kapitalistischen Merkmale heute überwiegen. Das Image von Schweden und anderen skandinavischen Ländern als »sozialistisch« kommt aus den 1970er- und 80er-Jahren. Will man die Wirtschaftsgeschichte Schwedens und anderer skandinavischer Länder von 1870 bis heute in wenigen Sätzen zusammenfassen, dann wird deutlich: »Diese Länder verzeichneten ein phänomenales Wirtschaftswachstum, solange sie einen schlanken Staat und freie Märkte hatten. Seitdem sie sich Richtung Sozialismus bewegten, kamen Unternehmergeist, Wohlstandswachstum und die Entstehung neuer Jobs zum Stillstand. Die Rückkehr zur Marktwirtschaft brachte das Wachstum zurück.«472
Die Grundlagen der beeindruckenden wirtschaftlichen Kraft von Schweden wurden in den Jahren von 1870 bis 1936 gelegt, bevor die sozialdemokratische Ära begann. Schwedens Wirtschaftswachstum war in dieser Periode deutlich höher als das anderer europäischer Länder wie etwa Deutschland, Italien oder Frankreich, das jährliche Wachstum war doppelt so hoch wie in Großbritannien. In dieser Zeit war Schweden noch ein Land mit einer sehr freien Marktwirtschaft und niedrigen Steuern.473
In einer zweiten Periode, von 1936 bis etwa 1970, etablierten die Sozialdemokraten zwar erste Elemente des Wohlfahrtsstaates, aber von Sozialismus konnte noch keine Rede sein. Schweden fiel in dieser Periode etwas hinter Länder wie Italien oder Frankreich zurück und das Wirtschaftswachstum war – anders als in der Periode davor – nur noch unwesentlich stärker als das von Deutschland.474
In der sozialistischen Periode, als der Wohlfahrtsstaat stark ausgebaut wurde (1970 bis 1991), fiel Schweden deutlich hinter die meisten europäischen Länder zurück. Das Wirtschaftswachstum in Italien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien oder den Niederlanden war stärker als in Schweden und in Österreich sogar doppelt so hoch.475 Während Schweden noch im Jahr 1970 den vierten Platz im OECD-Ranking der Länder mit dem höchsten BIP pro Kopf einnahm, fiel es in der sozialistischen Periode bis 1995 auf Platz 16 zurück.476
In der Ära der marktwirtschaftlichen Reformen von 1991 bis 2014 lag Schweden beim Wirtschaftswachstum wieder vor Deutschland, Frankreich und Italien.477 Im Ranking der Länder mit dem höchsten BIP pro Kopf verbesserte sich das Land bis zum Jahr 2016 auf Platz zwölf, was deshalb bemerkenswert ist, weil in den zwei Jahrzehnten seit 1995 (wo Schweden auf Platz 16 zurückgefallen war), zahlreiche neue Länder aufgestiegen sind.
Natürlich sind die Ursachen, warum das Wirtschaftswachstum in den verschiedenen Perioden höher oder niedriger lag, komplex. Und es wäre falsch, dies ausschließlich darauf zurückzuführen, in welchem Maße Schweden zu den verschiedenen Zeiten sozialistisch oder kapitalistisch geprägt war. Weltwirtschaftliche Entwicklungen, von denen jedes stark exportorientierte Land betroffen ist, spielen ebenso eine Rolle wie strukturellen Schwächen des Wirtschaftssystems. Und doch fällt auf, dass Schweden ausgerechnet in der sozialistischen, wohlfahrtsstaatlichen Periode im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zurückfiel.
Schweden macht allerdings auch deutlich, dass das Wirtschaftssystem zwar eine wichtige Rolle spielt, aber darüber hinaus kulturelle Faktoren von großer Bedeutung für den wirtschaftlichen Erfolg sind. Wir haben schon am Beispiel Südkoreas gesehen (vgl. Kapitel 4), welch hohe Bedeutung Arbeitsethos, Bildungshunger und Fleiß für den wirtschaftlichen Erfolg einer Nation haben. Welches sind die Faktoren, die für den wirtschaftlichen Erfolg Schwedens bedeutsam waren und sind?
Zunächst fällt auf, dass die schwedische Bevölkerung im Vergleich zu anderen Ländern in ethnischer, konfessioneller, kultureller und sprachlicher Hinsicht äußerst homogen ist, was nach Ansicht von Ökonomen die Konsensfindung innerhalb des Landes ohne große Brüche und scharfe Konflikte förderte.478 Die spezifische schwedische Mentalität und Kultur wird von Sozialwissenschaftlern als wichtiger Grund für die im internationalen Vergleich geringeren Einkommensunterschiede angesehen. Diese sind nicht erst ein Ergebnis des Wohlfahrtsstaates, der in den 60er- und 70-Jahren in Schweden etabliert wurde und durch Steuern Einkommen umverteilte. Schon lange vorher, bereits in den 20er-Jahren, waren die Einkommensunterschiede in Schweden geringer als in anderen Ländern.479
Charakteristisch für Schweden und andere nordische Länder sind eine sehr hohe Arbeitsethik, Fleiß und Ehrlichkeit. Diese Faktoren – und nicht etwa der schwedische Wohlfahrtsstaat – sind die wesentlichen Ursachen für den hohen Lebensstandard und die hohen Einkommen von Schweden und anderen Skandinaviern. Das wird durch Untersuchungen in den USA belegt, die verschiedene Sozialdaten von Amerikanern skandinavischen Ursprungs (das sind immerhin elf Millionen) sowohl mit anderen Amerikanern als auch mit in Skandinavien lebenden Menschen verglichen. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag beispielsweise 2013 für den Durchschnittsamerikaner bei 52.592 Dollar, aber für Amerikaner mit schwedischen Wurzeln bei 68.897 Dollar. In Schweden selbst betrug es dagegen nur 45.067 Dollar.480
Während 86,3 Prozent aller Amerikaner einen High-School-Abschluss haben, trifft dies für 96,6 Prozent der Amerikaner mit schwedischen Wurzeln zu. Die Arbeitslosenquote ist für Amerikaner mit skandinavischen Wurzeln deutlich niedriger als für andere Amerikaner. Und während 2013 11,7 Prozent aller US-Amerikaner als arm galten, traf dies nur für 5,1 Prozent der Amerikaner mit schwedischen Wurzeln zu.481 Nicht nur diese Zahlen zeigen, wie irrig die Meinung ist, der schwedische Wohlfahrtsstaat sei die Ursache für den hohen Lebensstandard in Schweden. Dagegen spricht zudem, dass die Schweden längst erfolgreich waren, bevor sie den Wohlfahrtsstaat etablierten. Um es genau zu sagen: Sie waren sogar besonders erfolgreich in der Zeit, bevor sie diesen Weg einschlugen. Obwohl in Schweden seit 1932 die Sozialdemokraten (mit nur drei kurzen Unterbrechungen bis 2006) regierten, verfolgten sie zunächst einen moderaten Weg. Es gab keine groß angelegten Verstaatlichungsprogramme und die Gewerkschaften waren weniger klassenkämpferisch als in anderen Ländern. Das zeigte sich beispielsweise daran, dass sie ganz im marktwirtschaftlichen Sinne die Abschaffung von wettbewerbsverzerrenden Subventionen forderten und die Aufhebung von Schutzzöllen verlangten, um Exportmärkte zu erschließen.482
Bis Mitte der 60er-Jahre unterschied sich Schweden nicht wesentlich von anderen europäischen Staaten und man konnte bis dahin nicht von einem spezifisch »schwedischen Modell« sprechen. Die öffentlichen Ausgaben lagen Ende der 60er-Jahre noch in dem Bereich durchschnittlicher OECD-Staaten.483 Das änderte sich allerdings Ende der 60er- und in den 70er- und 80er-Jahren. Im Zeitraum von 1965 bis 1975 stieg die Anzahl der Staatsbediensteten von 700.000 auf 1,2 Millionen. Der Staat griff immer stärker in die Wirtschaft ein, zahlreiche neue Regulierungsbehörden wurden gegründet. Der öffentliche Sektor absorbierte zwischen 1970 und 1984 den gesamten Zuwachs an Arbeitskräften in Schweden, wobei die neuen Arbeitsplätze vor allem im Bereich der sozialen Dienstleistungen lagen.484
Aufschlussreich ist, wie sich in Schweden das Verhältnis zwischen folgenden zwei Gruppen entwickelte: Erstens jene, die ihr Einkommen überwiegend in der Privatwirtschaft erarbeiteten, und zweitens Staatsbedienstete und solche, die überwiegend von staatlichen Transferleistungen lebten. 1960 kamen auf 100 Schweden, die ihr Einkommen überwiegend in der Privatwirtschaft erwirtschafteten, 38, die ihr Geld vom Staat erhielten. 1990 dagegen kamen auf 100 Personen, die ihr Geld in der Privatwirtschaft verdienten, 151, die ihr Geld überwiegend vom Staat bezogen.485 Die Zahl der Erwerbstätigen in der freien Wirtschaft nahm in diesem Zeitraum von drei Millionen auf 2,6 Millionen ab, während die Zahl der Personen, die ihr Geld überwiegend vom Staat bekamen, von 1,1 Millionen auf 3,9 Millionen gewachsen war.486 Diese Zahlen zeigen, wie sehr sich Schweden in diesen Jahren weg von einer kapitalistischen und hin zu einer sozialistischen Wirtschaft entwickelt hat.
Schweden war Mitte der 70er-Jahre von der weltweiten Rezession betroffen, aber die Sozialdemokraten hielten konsequent an ihrem Kurs des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates fest und erhöhten in dieser Phase die Sozialleistungen weiter. Das Renteneintrittsalter wurde 1975 von 67 auf 65 Jahre gesenkt, Arbeitslosengeld gab es ab 1973 60 statt bislang 30 Tage, Kündigungen wurden erschwert. Um all die Sozialleistungen zu finanzieren, wurden immer mehr Schulden aufgenommen.487 Die Gewerkschaften, die eng mit der sozialdemokratischen Partei verbunden waren, betrieben zudem eine unverantwortliche Lohnpolitik und versuchten, sozialistische Gleichheitsvorstellungen auf diesem Wege durchzusetzen. Lohnunterschiede sollten so weit wie irgend möglich eingeebnet werden. Teilweise wurden Lohnerhöhungen von 35 Prozent in drei Jahren durchgesetzt.488
Die Macht der Gewerkschaften wuchs sogar noch stärker als in Großbritannien vor dem Amtsantritt von Margaret Thatcher (vgl. dazu Kapitel 5). In den 70er-Jahren wurde per Gesetz der Einfluss der Gewerkschaften in den Unternehmen stark ausgeweitet. So schrieb der Staat gewerkschaftliche Sicherheitsleute am Arbeitsplatz vor, die alle Prozesse und Arbeitsweisen, die ihnen gefährlich erschienen, so lange aussetzen konnten, bis sie von staatlicher Stelle überprüft wurden. Der Kündigungsschutz für ältere Arbeitnehmer und Gewerkschafter wurde ausgeweitet, die Beweislast bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften umgekehrt. Nun galt, dass grundsätzlich die Gewerkschaft im Recht war, es sei denn, das Unternehmen konnte vor Gericht das Gegenteil beweisen. Ein Mitbestimmungsgesetz schrieb eine Repräsentation von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat aller Unternehmen ab 25 Mitarbeitern vor. So erhielten die Gewerkschaften Einfluss auf allen Unternehmensebenen, von Detailfragen am Arbeitsplatz über die Einstellung oder Entlassung von Mitarbeitern bis zur grundsätzlichen Unternehmensstrategie.489
Der sozialistische Kurs schadete der schwedischen Wirtschaft und führte dazu, dass Unternehmer frustriert das Land verließen. Ein prominentes Beispiel dafür ist Ingvar Kamprad, der Gründer des schwedischen Möbelherstellers Ikea. Für reiche Menschen wie ihn lag der Spitzensteuersatz damals in Schweden bei 85 Prozent. Doch damit nicht genug. Hinzu kam eine Vermögensteuer, die der Unternehmer aus dem Privatvermögen zu zahlen hatte. Daher sah er sich gezwungen, von seinem eigenen Unternehmen Geld zu leihen, um seinen Verpflichtungen gegenüber dem Fiskus nachzukommen.490
Kamprad wollte eines der kleineren Unternehmen, die sich in seinem Privatbesitz befanden, mit Gewinn an Ikea verkaufen, um damit die Schulden, die er als Privatperson bei Ikea hatte, zu tilgen. So handelten damals viele schwedische Unternehmer, um die erdrückende Belastung durch die Vermögensteuer zu reduzieren. Aber als Kamprad den Verkauf vorbereitete, änderte die schwedische Regierung die Steuergesetzgebung, und zwar rückwirkend.491 Er blieb auf seinen hohen Kosten sitzen und ärgerte sich darüber, dass in seinem Land Unternehmer so unfair und schlecht behandelt wurden. 1974 wanderte er nach Dänemark aus, später zog er in die Schweiz, wo er für die kommenden Jahrzehnte als zeitweise reichster Mann Europas lebte. Erst im hohen Alter kehrte Kamprad 2013 nach Schweden zurück und zahlte dort Steuern – ein Beispiel dafür, wie sich Staaten, die Reiche zu hoch besteuern, am Ende ins eigene Fleisch schneiden.
Der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger schrieb damals über Schweden: »In einer solchen Gesellschaft haben die Reichen, so scheint es, wenig zu lachen. Ja, wenn es nur die Steuern wären! Die wollen sie als anständige Staatsbürger, wenn auch ungern, so doch pünktlich bezahlen. Was sie viel mehr kränkt, ist der Umstand, dass niemand Verständnis für ihr Los aufbringt.« Schweden habe sich zu einem Land entwickelt, in dem sich die Reichen »überflüssig, missachtet und ausgeschlossen« fühlten, so Enzensberger.492 Der soziale Druck war auch deshalb groß, weil jeder Schwede vom anderen erfahren konnte, was er verdiente. Wer mehr als 50.000 Kronen verdiente, war in einem »Taxeringskalender« aufgeführt, den jeder einsehen konnte.493
Die radikale sozialistische Politik stieß selbst wohlmeinende Anhänger der Sozialdemokratischen Partei vor den Kopf. Ein Beispiel dafür ist die schwedische Kinderbuchautorin Astrid Lindgren, die durch Figuren wie »Pippi Langstrumpf« oder »Karlsson auf dem Dach« weltberühmt wurde. In den 30er-Jahren war sie unter dem Einfluss von Arbeiterschriftstellern zu einer Anhängerin der Sozialdemokraten geworden. In einem Buch, das sie im Winter 1976 vollendet hatte, »Madita und Pims«, spielt ein freundlicher und gerechter sozialdemokratischer Redakteur der Zeitung »Der Herold der Arbeit« eine Hauptrolle. Die berühmte Schriftstellerin meinte es stets gut mit den Sozialdemokraten.
Aber auch Lindgren war von den hohen Steuersätzen betroffen und machte ihrer Empörung Luft, indem sie in einer führenden schwedischen Tageszeitung ein »Steuermärchen« veröffentlichte und dort vorrechnete, dass ihre Steuerbelastung bei 102 (!) Prozent liege. Der schwedische Finanzminister Gunnar Sträng kommentierte den Artikel: »Wenn man so viel verdient wie Astrid, dann soll man auch hohe Steuern zahlen.«494 Arrogant erklärte er im schwedischen Parlament: »Dieser Artikel ist eine interessante Kombination aus literarischem Können und profunder Ahnungslosigkeit über die verschlungenen Pfade der Steuerpolitik. Aber wir verlangen ja auch gar nicht, dass Astrid Lindgren sie begreift.«495 Zudem behauptete er, Lindgren habe falsch gerechnet. Die Schriftstellerin ließ sich nicht beirren und entgegnete: »Märchen zu erzählen hat Gunnar Sträng sicher gelernt, aber zum Rechnen taugt er nicht! Es wäre besser, wir würden den Job tauschen!«496 Die Öffentlichkeit stand auf Lindgrens Seite. Wenn damals Wahlen gewesen wären, hätten die Sozialdemokraten nur noch 38 Prozent und die bürgerlichen Parteien 53 Prozent erzielt. Schließlich nahm sich der schwedische Ministerpräsident Olof Palme selbst der Sache an und gestand im Fernsehen ein, dass Astrid Lindgren richtig gerechnet hatte.
Nur einen Monat nachdem Lindgren ihren Artikel veröffentlicht hatte, verkündete Ingmar Bergman, laut den Filmfestspielen in Cannes der »Beste Filmregisseur aller Zeiten«, er werde Schweden wegen eines Konfliktes mit den Finanzbehörden verlassen.497 Ende Januar hatten sich zwei Polizeibeamte in Zivil am Empfang des Königlich Dramatischen Theaters angemeldet und darum gebeten, den Regisseur sprechen zu dürfen, der gerade mit Proben zu einer Theateraufführung beschäftigt war. »Ich hoffe, er kommt, sonst ist hier Schluss mit lustig«, sagte einer der Polizisten der Sekretärin. Bergman wurde stundenlang auf dem Polizeipräsidium vernommen, seine Wohnung und sein Büro wurden durchsucht, sein Pass beschlagnahmt. Die Verhaftung machte weltweit Schlagzeilen.498
Astrid Lindgren sprang dem Regisseur öffentlich zur Seite – es ging auch bei Bergman um die absurd hohe Besteuerung. Der Finanzminister meinte nur, die Steuergesetzgebung müsse auch für »Kulturleute« gelten. Später wurde das Verfahren eingestellt, weil nichts an den Vorwürfen dran war. Gegen den ersten Staatsanwalt, der die Vorwürfe gegen Bergman erhoben hatte, wurde wegen eines Dienstvergehens ein Verweis erteilt und Bergman wurde von allen Vorwürfen exkulpiert. Nach den Vernehmungen litt er an schweren Depressionen und musste stationär behandelt werden. Er entschloss sich, Schweden zu verlassen, unter anderem, weil ihm die Beamten des Finanzamtes andeuteten, sie seien trotz des eingestellten Verfahrens nicht fertig mit ihm. Bergman und seine Frau flogen nach Paris, wo sie von einem großen Presseaufgebot empfangen wurden. »Schweden hatte es geschafft, seinen vielleicht bekanntesten lebenden Künstler ins Exil zu treiben«499, kommentierte der Palme-Biograf Henrik Berggren.
Das Beispiel Schweden zeigt, dass Intellektuelle, die sonst oft antikapitalistisch eingestellt sind (vgl. Kapitel 10) und oft mit dem skandinavischen Sozialismus sympathisieren, rebellisch werden, wenn es an den eigenen Geldbeutel geht. Astrid Lindgren und Ingmar Bergman waren keine Ausnahmen. Zu einem regelrechten Proteststurm kam es, als der schwedische Staat die sogenannten »Kulturarbeiter« 1975 plötzlich als private Unternehmer einstufte. »Im Gegensatz zu den unterwürfigen Geschäftsleuten waren die ›Kulturarbeiter‹ eine stimmkräftige Gruppierung, die bereits von jeher einen umfangreichen Platz in den schwedischen Massenmedien eingenommen hatten. Wortgewandt verstanden sie es, die Diskriminierung zu beschreiben, der sie ausgesetzt waren; die Ungerechtigkeit, unter der sie litten, und die Dummheit, der sie begegneten. Dadurch brachten sie ans Tageslicht, was die Geschäftsleute so lange im Dunkeln gelassen hatten.«500
Die »Kulturarbeiter« waren nun als Unternehmer verpflichtet, Bücher und Akten für die Steuerprüfung zu führen, regelmäßige Steuerzahlungen unabhängig von ihrem tatsächlich erzielten Einkommen zu leisten (»B-skatt«) und drückende Soziallasten für Angestellte zu zahlen, die nicht existierten. »Wiederholt haben mir Steuerinspektoren, deren eigener Beruf nicht gerade Belesenheit und einen Überblick über die Welt der Literatur mit sich bringt, gesagt, welche Bücher ich brauche, um meine literarischen Aktivitäten voranzutreiben«, beschwerte sich der Schriftsteller Per Erik Wahlund.501
Die wohlwollendste Einstellung, auf die ein Autor von den schwedischen Steuerbehörden hoffen konnte, war diejenige, die von ihrem Leiter, dem Chef des neuen Haushaltsministeriums, mitgeteilt wurde: »Freilich sollte ein Schriftsteller immer dann Reisen machen können, wenn sie den Wert seines Buches heben. Ich selbst habe zu Hause ein Buch geschrieben, das genauso gut wurde, als wäre ich nach London oder Paris gefahren.« Es handelte von Sozialkunde. In einer Erwiderung schrieb der Schriftsteller Anderz Harning: »Die Finanzgerichte sind durchaus nicht von einer derartigen Liebe zur Gerechtigkeit beseelt, wie Sie es selbst glauben. Im Gegenteil; wenn es um Reisekosten zum Zwecke der Einkommenserzielung geht, sind die Gerichte und die Rechnungsprüfer von rein emotionalem Denken beeinflusst.« So würden Reisen in die Südsee generell als Vergnügungsreisen steuerlich nicht anerkannt, dagegen sei eine Winterreise in die Berge Afghanistans stets abzugsfähig. Zudem ließ Harning wissen, er sei wegen der Vorschrift, stets das günstigste Verkehrsmittel zu nehmen, vom Finanzamt aufgefordert worden, eine Reise von Zypern nach Beirut nicht im Flugzeug, sondern mit der Bahn zu machen.502
Die lautstarke Gruppe der Schriftsteller lenkte den Blick auf die totale Kontrolle, die für den schwedischen Steuerstaat typisch war, und prangerte öffentlich die Steuerbürokratie an. Das hatten die Unternehmer nicht in gleicher Weise gekonnt, die Intellektuellen wurden gehört. Dies war in den 70er-Jahren die Atmosphäre, die damals in dem von der Linken auf der ganzen Welt bewunderten schwedischen Modell des Sozialismus herrschte.
Dieses »schwedische Modell«, das sich durch sehr hohe Steuern, Umverteilung, massive Staatseingriffe, Regulierungen und eine dominante Stellung der mit den Sozialdemokraten eng verbundenen Gewerkschaften auszeichnete, war dabei nicht Ergebnis eines vorgefertigten Planes, sondern von Hunderten Einzelentscheidungen. »Hinter vielen dieser Entscheidungen«, betont der schwedische Ökonom Assar Lindbeck in einem Beitrag über »The Swedish Experiment«, »kann man jedoch eine spezifische Weltsicht entdecken, so etwa ein unbeugsamer Glaube an die Wichtigkeit von Skalenerträgen, an den Nutzen politischer Eingriffe in das Wirtschaftsleben von Unternehmen und Familien und ein starkes Misstrauen gegenüber dem Markt, wirtschaftlichen Anreizen und privatem Unternehmertum, sofern es nicht um Großkonzerne ging.«503
Die Sozialdemokraten hatten ihren sozialistischen Kurs jedoch so weit überzogen, dass sie im September 1976 erstmals seit 40 Jahren abgewählt wurden. Doch die »bürgerliche« Regierung hatte nicht den Mut zu einer Kehrtwende und die von Lindbeck genannten Grundüberzeugungen waren inzwischen tief in der schwedischen Gesellschaft verankert und reichten weit über die linken Parteien hinaus. Auch die bürgerliche Regierung steigerte die Staatsverschuldung für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im staatlichen Sektor und vergab großzügig Subventionen im privaten Sektor. Dadurch wurde das Problem der Arbeitslosigkeit jedoch nur kaschiert und die zugrunde liegenden Ursachen wurden nicht bekämpft. Es wurden Schlüsselindustrien verstaatlicht und ganze Branchen mit Steuergeldern gerettet.
Teilweise nahm das absurde Ausmaße an. So wurden im Schiffbau nicht mehr absetzbare Supertanker mittels staatlicher Subventionen »auf Lager« weiterproduziert. Später wurden sie, ebenfalls auf Staatskosten, wieder abgewrackt und schließlich verstaatlichte Schweden die gesamte Werftindustrie. Die Rettungsaktionen im Schiffbau kosteten den Steuerzahler umgerechnet etwa zehn Milliarden Euro.504 »Obwohl Schweden von der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg betroffen war, wurden der generöse Sozialstaat und die Vollbeschäftigungspolitik nicht ansatzweise infrage gestellt, sondern mit mehr Nachdruck als jemals zuvor verfolgt.«505
Absurd waren auch viele Auswüchse des Wohlfahrtsstaates, so etwa bei der großzügigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Zu den gesetzlich vorgeschriebenen Zahlungen bekamen die meisten Arbeitnehmer in Schweden aufgrund betrieblicher Vereinbarungen und ihrer Tarifverträge ein zusätzliches Krankengeld. Ergebnis: Wer sich krankschreiben ließ, hatte mehr in der Tasche als ein Gesunder, der zur Arbeit erschien. Kein Wunder also, dass Schweden viele Jahrzehnte lang mit weitem Abstand die höchste Zahl von untätigen Personen in der arbeitsfähigen Bevölkerung aller OECD-Länder hatte.506 Und kein Wunder, dass bei großen Sportereignissen die Zahl der Krankschreibungen regelmäßig in die Höhe schoss. Selbst noch viele Jahre später, als die gröbsten Auswüchse beim System der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall schon reformiert waren, stieg die Zahl der Krankschreibungen bei Männern während der Fußballweltmeisterschaft 2002 um 41 Prozent an.507
1982 kamen die Sozialdemokraten wieder an die Macht, doch langsam setzte bei ihnen ein Umdenken ein. Es war allzu offensichtlich geworden, dass der schwedische Weg, den Wohlfahrtsstaat immer weiter auszubauen und den Markt durch immer mehr staatliche Regulierungen zu erdrosseln, falsch war. Die Staatsverschuldung hatte ein solches Ausmaß erreicht, dass die bisherige Politik, immer neue Schulden zu machen, um im Staatsdienst neue Stellen zu schaffen, einfach nicht mehr weiterbetrieben werden konnte. Unter dem Motto »Erst Wachstum, dann Umverteilung« leitete die Sozialdemokratische Partei eine neue Politik ein, die mehr auf die Stärkung der Exportfähigkeit setzte als auf sozialistische Experimente.
Doch viele Sozialdemokraten waren nicht bereit, von ihrer Ideologie abzulassen, und es kam zu starken Protesten innerhalb der Partei und vonseiten der Gewerkschaften gegen die pragmatischere Linie des Finanzministers Kjell-Olof Feldt. Seine Regierung versuchte, die Zustimmung zu der notwendigen Kürzung der Sozialleistungen dadurch zu erreichen, dass gleichzeitig die Steuern für Besserverdienende erhöht wurden. Während die Regierungspolitik darauf zielte, die Auswüchse des Wohlfahrtsstaates zu beseitigen, gaben die Gewerkschaften nicht auf und drangen auf die Einführung sogenannter Arbeitnehmerfonds. Unternehmer sollten gezwungen werden, einen erheblichen Teil des Gewinns in einen Fonds einzuzahlen. Über die Verwendung der Gelder dieses Fonds sollten die Gewerkschaften entscheiden. »Dass die Arbeitsnehmerfonds einen Angriff auf Grundprinzipien des Kapitalismus darstellten, war den Initiatoren der Fonds bewusst und wurde von ihnen auch nicht bestritten.«508
Ziel der Fonds war, die schwedischen Unternehmen Stück für Stück den privaten Eigentümern wegzunehmen und den Gewerkschaften zu übereignen. Nach 20 Jahren, so wurde errechnet, würde bereits ein Drittel der Unternehmen im Besitz der Fonds sein und langsam würde das private Unternehmertum in Schweden ganz verschwinden.509
Die Mehrheit der Bevölkerung war jedoch, wie Umfragen zeigten, gegen diese Fonds. Kurz bevor das schwedische Parlament im Oktober 1983 über die Einführung des sozialistischen Fondskonzeptes abstimmte, gab es eine der größten Demonstrationen in der Geschichte des Landes, die sich dagegen richtete. Zwar wurden die Fonds in der 1984 eingeführten Form im Vergleich zum ursprünglichen Konzept entschärft, doch immerhin besaßen sie bis 1992 bereits sieben Prozent der gesamten schwedischen Börsenwerte. Nach dem Wahlsieg der bürgerlichen Parteien wurden die bis dahin bestehenden Fonds jedoch wieder aufgelöst und auch die Sozialdemokraten machten später keinen Versuch, Fonds dieser Art wieder einzuführen.
Immer mehr gerieten die Vertreter sozialistischer Ideen in die Defensive. Und ab den 90er-Jahren kam es zu einer umfassenden Gegenbewegung, die zwar den Hochsteuer- und Wohlfahrtsstaat in Schweden nicht grundsätzlich infrage stellte, aber doch viele Auswüchse beseitigte. Im Jahr 1990/91 gab es eine große Steuerreform. Für die Unternehmen wurde der Steuersatz von 57 Prozent (hier hatte er einschließlich der Abgaben an den Arbeitnehmerfonds vor der Reform gelegen) auf 30 Prozent fast halbiert.510 Erträge aus Aktien wurden völlig von der Steuer befreit und Steuern auf Aktiengewinne auf 12,5 Prozent gesenkt.511
Der Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer wurde auf etwa 50 Prozent festgelegt, was eine Senkung um 24 bis 27 Prozentpunkte für die überwiegende Zahl der Beschäftigten bedeutete. Während vor der Reform mehr als die Hälfte der Einkommensbezieher einem Grenzsteuersatz von mehr als 50 Prozent unterlag, bezahlten zu Beginn der 90er-Jahre nur noch etwa 17 Prozent die zentralstaatliche Einkommensteuer und die große Mehrheit war nur von der kommunalen Einkommensteuer betroffen. Die Vermögensteuer sank von zwei auf 1,5 Prozent. Darüber hinaus wurde mit der Reform eine Indexierung der Steuerskala beschlossen, um ein automatisches Aufrücken in höhere Steuerklassen durch die Inflationsentwicklung (»kalte Progression«) zu unterbinden.512
Einher mit diesen Steuersenkungen ging die Abschaffung von Ausnahmeregelungen und Sonderabschreibungen, die in der Vergangenheit dazu geführt hatten, dass Ressourcen fehlgeleitet wurden. Zudem wurden zur Gegenfinanzierung der Steuersenkungen die indirekten Steuern erhöht. In den folgenden Jahren gingen die Reformen weiter: 2004 wurde die Erbschaft- und Schenkungsteuer, die bis zu 30 Prozent betragen hatte, komplett abgeschafft. Rückwirkend zum 1. Januar 2007 strich der Gesetzgeber die Vermögensteuer komplett, die bereits vorher gesenkt worden war. Und 2009 bzw. 2013 wurde die Körperschaftsteuer von 30 Prozent auf 26,3 bzw. 22 Prozent gesenkt. Auch die Grundsteuer auf Immobilienbesitz wurde deutlich reduziert.513 Später erhielten Unternehmer und Selbstständige die Möglichkeit, Teile ihres Steueraufkommens von der Lohnsteuer auf die Kapitalsteuer umzulegen und dadurch ihre Steuerlast erheblich zu reduzieren.514
Durch die Abschaffung etlicher Ausnahmen ist das schwedische Steuersystem für die meisten Bürger heute viel einfacher als in anderen Ländern. Der Normalverdiener braucht nicht einmal mehr einen Steuerberater. Er erhält ein bereits ausgefülltes Steuerformular per Mail und kann dann dem Finanzamt per SMS mitteilen, dass er einverstanden ist. Damit ist die jährliche Einkommensteuererklärung abgehakt. Schon 2013 deklarierten 750.000 Schweden auf diesem Weg per SMS ihre Steuer, die überwiegende Mehrheit nutzt das Internet. Nur etwa ein Drittel schickte überhaupt noch ein Formular per Post.515
In den 90er-Jahren wurden nicht nur die Steuern gesenkt, sondern auch manche Auswüchse des Wohlfahrtsstaates beseitigt, obwohl dieser nie grundsätzlich infrage gestellt wurde. 1992 ernannte die schwedische Regierung eine »Ökonomie-Kommission« unter Leitung von Assar Lindbeck, die ein Gutachten über die Ursachen der schwedischen Krise anfertigen sollte. Der Befund war eindeutig: Maßnahmen vorangegangener Regierungen mit dem Ziel, die Krise zu lindern, hatten sie nur verzögert oder verschlimmert. Die tatsächliche Arbeitslosenquote lag im September 1993 nicht bei den offiziell angegebenen neun Prozent, sondern bei 14 Prozent.516 Die Wirtschaftswissenschaftler zeigten, wie die Aufblähung der Staatsausgaben (von 25 Prozent des BIP im Jahr 1950 zu 70 Prozent im Jahr 1992) zu einer Reihe ernster Probleme geführt hatte.517 Die Inflation in Schweden, so hieß es, war ein Ergebnis der verfehlten Politik der 70er- und 80er-Jahre, als Schweden versuchte, die Arbeitslosigkeit durch eine Aufblähung des öffentlichen Sektors zu beseitigen.518
Die Empfehlung der führenden Wirtschaftswissenschaftler war eindeutig: Mehr Markt, weniger Staat. »Was die Kommission mit Blick auf die Marktwirtschaft gerne sehen würde, ist nichts weniger als die Wiederherstellung jener Freiheiten des Markteintritts, der Beschäftigung und der Berufe, welche die neue Gesetzgebung in den Jahren 1846 und 1864 in Schweden eingeführt hatte. Diese liberalen Reformen leiteten eine Periode von bisher nie dagewesenem Wachstum ein. Aber in den vergangenen 100 Jahren wurden diese Reformen mehr und mehr durch Regulierungen und Wettbewerbsbehinderungen verwässert, insbesondere durch den Einfluss verschiedener kurzfristiger Sonderinteressen.«519
In der Tat unternahm Schweden in den 90er-Jahren einschneidende Reformen, die viele Fehlentwicklungen korrigierten. So wurden die Zahlungen bei Arbeitslosigkeit, die bis dahin 90 Prozent betrugen, um zehn Prozentpunkte reduziert und fünf Karenztage eingeführt.520 In den Jahren 1993 bis 2000 sanken die Sozialleistungen von 22,2 auf 16,9 Prozent des BIP, die Subventionen für die Wirtschaft sogar von 8,7 auf 1,8 Prozent und die Personalkosten im öffentlichen Dienst von 18,2 auf 15,6 Prozent.521
Bewundernswert war, dass Schweden eine strikte Haushaltsdisziplin verfolgte und diese sogar in den schweren Jahren der Finanzkrise durchhielt, als alle anderen Länder die Verschuldungsquoten stark ausweiteten.522 Die Staatsquote, also der Anteil der Gesamtausgaben des Staates am Bruttoinlandsprodukt, ging von 1990 bis 2012 um 9,3 Prozentpunkte zurück, von 61,3 Prozent auf 52 Prozent. Noch stärker sank sie in diesem Zeitraum nur in einem einzigen OECD-Land, nämlich in Norwegen, von 54 auf 43,2 Prozent. Das ist bemerkenswert, denn insgesamt stieg die Staatsquote in diesen Jahren in der OECD um 2,5 Prozent, in den USA um 3,2 Prozent und in Japan gar um 11,3 Prozent.523
Die Schweden nahmen dabei hin, dass durch die Reduktion des Wohlfahrtsstaates die Gleichheit stärker abnahm als in fast allen anderen Ländern. Die in dem sogenannten Gini-Koeffizienten gemessene Ungleichheit wuchs in Schweden von Mitte der 80er-Jahre bis Ende der 2000er-Jahre um etwa 30 Prozent. Nur Neuseeland verzeichnete in diesem Zeitraum einen vergleichbaren Anstieg.524 Schweden verlor damit seinen Spitzenplatz als egalitärstes Land der Welt und liegt heute knapp hinter Weißrussland auf Platz zwölf der gleichsten Länder der Welt.
Auch wenn Schweden also etwas ungleicher geworden ist, so belegt dieses Ranking dennoch, dass der schwedische Wohlfahrtsstaat noch intakt ist. Die Zahlen, mit denen der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem Buch nachzuweisen sucht, wie extrem die Ungleichheit in Schweden gestiegen sei525, basieren auf Rechentricks. Vereinfacht gesagt, hat er für seine Analyse der Jahre 1980 bis 2010 aus den 80er- und 90er-Jahren jeweils das Jahr herausgepickt, in dem die Vermögenskonzentration am niedrigsten war, und für das 21. Jahrhundert – um seine These zu belegen – Daten aus einem anderen als dem von ihm angegebenen Bestand verwendet, die eine möglichst hohe Vermögenskonzentration belegen sollen. Die schwedischen Ökonomen Malin Sahlén und Salim Furth haben diese Datenmanipulation aufgedeckt.526 Die beiden Autoren merkten ironisch an, Pikettys Daten schienen sehr nützlich für jene politischen Kräfte in Schweden, die eine Wiedereinführung der Erbschaft- und Vermögensteuer forderten.527
Ganz im Gegensatz zu solchen Bestrebungen werden in Schweden weitere marktwirtschaftliche Reformen notwendig sein. Nima Sanandaji hat gezeigt, wie schlecht das Land bei der Integration von Einwanderern ist. Während etwa in den USA, wo der Wohlfahrtsstaat deutlich geringer ausgeprägt ist, die Beschäftigtenquote bei Einwanderern vier Prozent über dem der in den USA geborenen Bürger lag, waren die Vergleichswerte in Schweden 15 Prozent niedriger.528 Bei gut ausgebildeten Einwanderern lag die Arbeitslosenquote in Schweden acht Mal höher als in den USA.529
Das liegt zum Teil daran, dass die Einwanderer im schwedischen Wohlfahrtsstaat auch ohne Arbeit einen wesentlichen höheren Lebensstandard genießen als in ihren Heimatländern. Daher war in der »Flüchtlingskrise« 2015 zu beobachten, dass Flüchtlinge und andere Migranten gezielt in jene Staaten einwanderten, in denen sie auf besonders umfängliche Sozialleistungen Anspruch hatten. Das waren besonders Schweden und Deutschland. Schweden, das – ähnlich wie Deutschland – zunächst eine sehr freizügige Einwanderungspolitik verfolgte, musste dann eine radikale Kehrtwende machen.
Die Probleme des skandinavischen Landes wurden noch verstärkt durch das katastrophal knappe Angebot an Mietwohnungen, eine Folge der staatlichen Mietpreisregulierung. Davon sind einkommensschwache Zuwanderer besonders stark betroffen, aber nicht nur sie. Der Chef des schwedischen Tech-Unternehmens Spotify drohte 2016, Arbeitsplätze ins Ausland zu verlagern, wenn Schweden die Wohnungskrise nicht in den Griff bekomme. Ein deutsches Start-up, so berichtet die »Neue Zürcher Zeitung«, musste 2015 den Plan begraben, eine Außenstelle in Stockholm zu eröffnen, weil man die Angestellten nicht unterbringen konnte.530
Trotz dieser Probleme ist die wirtschaftliche Lage in Schweden heute insgesamt sehr gut. Die Wirtschaft wächst kräftig, und Schweden gehört zu den wenigen Ländern, die die harten Kriterien für eine Aufnahme in den Euro erfüllen würden – was die Schweden jedoch mehrheitlich verständlicherweise nicht wollen. Obwohl also Schweden – etwa mit Blick auf die hohe Besteuerung – in mancher Hinsicht immer noch ein Beispiel für einen Wohlfahrtsstaat ist, so ist doch die Entwicklung seit den 90er-Jahren eindeutig: »Mehr Freiheit statt mehr Gleichheit, mehr Markt statt mehr Staat«, lautet das Motto der schwedischen Politik seit der Wende Anfang der 90er-Jahre. Die Gewichte zwischen Kapitalismus und Sozialismus haben sich in Schweden nach dem offensichtlichen Scheitern des sozialistischen Experimentes in Richtung Kapitalismus verschoben.