Inszenierter Auftakt eines Überfalls

Als Achilleus am Hellespont

Bis zur Mitte des Jahres 334 hatte der junge makedonische König zahlreiche Beweise seiner Tatkraft geliefert, wenn wir an seine geglückte Thronbesteigung, die kühnen Expeditionen gegen die Thraker und Illyrer oder die Festigung der makedonischen Vormachtstellung in Griechenland denken, die für sich genommen schon beachtliche Leistungen darstellten. Sie blieben jedoch im Rahmen des Möglichen und bestätigten nur, was man von dem begabten und für seine künftigen Aufgaben sorgfältig vorbereiteten Nachfolger eines außergewöhnlichen Herrschers erwarten konnte. Auf manche Zeitgenossen mag der Erfolg des Sohnes wie eine Verlängerung oder gar Vollendung der väterlichen Politik gewirkt haben.1

Erst nachdem Alexander den Fuß auf den asiatischen Kontinent gesetzt und damit die lang geplante und mehrfach aufgeschobene Militäraktion eingeleitet hatte, gewann seine Gestalt eindeutige Konturen. Sie begann schlagartig aus der relativen Anonymität des makedonischen Adelskollektivs herauszuragen und eigene Akzente zu entwickeln. War das bisher vom Sohn Philipps II. Geleistete vorgezeichneten Spuren gefolgt, so wird er von nun an, ohne die bisherige Marschrichtung aufzugeben, seine eigenen Bahnen beschreiten und somit sein unverwechselbares Profil schärfen. Und dennoch: Sosehr in der Folgezeit das asiatische Abenteuer neue Maßstäbe setzen und Alexanders Protagonismus ins Unermessliche steigern wird, war dies doch gleichermaßen eine Unternehmung des makedonischen Militäradels2, dessen ehrgeizigste Mitglieder die einmalige Chance erhielten, sich neben dem nicht minder ruhmsüchtigen König wirkungsvoll in Szene zu setzen: Antigonos, Hephaistion, Kleitos, Krateros, Nearchos, Parmenion, Perdikkas, Philotas, Ptolemaios, Seleukos und viele andere nahmen daran teil und erlangten wie Alexander Ruhm und Unsterblichkeit.3 Einige von ihnen sollten, wie eingangs gezeigt, in der Nachfolgezeit die Geschicke des östlichen Mittelmeerraumes entscheidend bestimmen.

In Sestos machte sich das Heer für den Übergang nach Asien bereit. Die Flotte der Bundesgenossen traf verabredungsgemäß an der Meerenge ein. Sie hatte den Auftrag, den Transport und die logistische Versorgung der Truppen zu ermöglichen.4 Die gefürchteten persischen Schiffe ließen sich nicht blicken. Dass die Perser ihre weit überlegene Seemacht nicht einsetzten, um die Überfahrt der Invasionsarmee wenigstens zu behindern und sie von der Küste aus zu bedrängen, geschah keineswegs aus Nachlässigkeit, wie gelegentlich angenommen wird.5 Das Gros ihrer Schiffe befand sich damals am Nildelta. Sie hatten den Auftrag, einen in Ägypten ausgebrochenen Aufstand niederzuschlagen. Natürlich wusste dies der makedonische Stab und nutzte daher die günstige Gelegenheit für die reibungslose Beförderung seiner Truppen nach Asien.6 Allerdings war damit zu rechnen, dass nach Beendigung der Kampfhandlungen in Ägypten die persische Armada rasch in den kleinasiatischen Gewässern auftauchen würde.

Während Parmenion die Verladung des Heeres an den Dardanellen überwachte, nahm sich Alexander Zeit für einen Abstecher an die Südspitze der Chersones, wo er das Grabmonument des Protesilaos in Elaius aufsuchte.7 Dieser galt als der Grieche, der im Troianischen Krieg vor allen anderen Mitkämpfern als Erster asiatischen Boden betreten hatte, weswegen er als Heros kultisch verehrt wurde. Da das Heiligtum im Zuge der Perserkriege von Xerxes geplündert worden war8, veranstaltete Alexander eine symbolträchtige Wiedergutmachung. Wie die Abfahrt aus Europa wurde auch die Überwindung der Meeresstraße, die beide Erdteile trennt, sowie die Ankunft auf der asiatischen Seite des Hellespont mit großem Pathos begangen. Analog zur homerischen Lobpreisung der adeligen Krieger der heroischen Vergangenheit zelebrierte sich die makedonische Militäraristokratie selbst. Wenn auch die antiken Autoren den Blick einseitig auf Alexander lenken, seine Gefährten waren nicht minder enthusiastisch an diesen Aktionen beteiligt. Darüber hinaus sollten diese Gedenkakte die makedonischen Truppen samt den griechischen Bundesgenossen ansprechen und für die bevorstehenden militärischen Herausforderungen anspornen.

Sowohl am europäischen als auch am gegenüberliegenden asiatischen Ufer des Hellespont wurden zum Ruhm des Zeus, der Athene und des Herakles Altäre errichtet. Mitten auf dem Meer fand ein Opfer für Poseidon und die Nereiden statt, um eine günstige Überfahrt zu erflehen. Eine wertvolle goldene Schale wurde ins Wasser geworfen, um die Meeresgottheiten zu versöhnen. Alexander steuerte eigenhändig sein Schiff und landete an jenem Strand, den angeblich schon die Mannen Agamemnons aufgesucht hatten. Er soll als Erster in voller Rüstung an Land gegangen sein und zuvor einen Speer auf das gegenüberliegende Ufer geworfen haben, um damit seine Besitzansprüche auf Asien zu unterstreichen.9

Was im Einzelnen tatsächlich geschah, lässt sich kaum rekonstruieren. Unabhängig davon, wie man die Wirkung der auch als Motivationsschub gedachten Siegerpose beurteilt, unzweifelhaft ist, dass die Eröffnungsphase des Persienzuges bewusst an die homerische Heldenverehrung anknüpfte10, um damit den Rachecharakter der Expedition zu betonen. Alexander und seine Gefährten reklamierten für sich, spätere Wegbegleiter der einstigen Helden zu sein, weil Achilleus, Agamemnon, Odysseus, Ajax und ihre Gefährten als Chiffren der hellenischen Identität galten. In diesem Sinne ist der sich daran anschließende Besuch in Ilion, dem sagenumwobenen Troia, zu verstehen.

An diesem für Griechen und Makedonen ehrwürdigen Ort erwies Alexander dem vermeintlichen Grab des Achilleus seine Reverenz. Parallel dazu besuchte sein Gefährte Hephaistion, der hier erstmals erwähnt wird, die Ruhestätte des Patroklos.11 Dann betete der Makedonenkönig, der seine Abstammung mütterlicherseits auf Achilleus zurückführte, an der Stelle, wo dessen Sohn Neoptolemos den Troianer Priamos erschlagen haben soll, um diese Tat zu sühnen. Seine Rüstung weihte Alexander der Göttin Athene, der er größte Ehrerbietung erwies. Im Gegenzug erhielt er Waffen, die aus dem Troianischen Krieg herrühren sollten. Er ließ sie künftig bei seinen Feldzügen ständig vor sich hertragen.12 Alexander hatte sich mit dem engsten Kreis seiner Vertrauten nach Troia aufgemacht, um Achilleus, die mythische Symbolgestalt für militärische Tüchtigkeit par excellence, für seine Zwecke einzuspannen. Indem er diesen als seinen Vorfahren in Anspruch nahm, sich ihm anglich und die folgenden Militäraktionen unter dessen Ägide stellte, verkündete er ein Programm, das sich in wenigen Worten zusammenfassen ließ: Er versprach allen, die sich ihm anschlossen, jenen Ruhm und Erfolg, für den der gefeierte Kriegsmann Achilleus Pate stand.13 Eine Mischung aus genussvoll erlebter Theatralik, tief empfundener Devotion und nüchtern berechneter Wirkung prägte die Atmosphäre der vor Beginn der Kampfhandlungen veranstalteten Rituale. Nebenbei bereitete Alexander mit dem Anknüpfen an den Achilleusmythos die eigene Mythenbildung vor.

Zweifellos verlieh die Verknüpfung der legendären homerischen Troiaexpedition mit dem Persienzug der Unternehmung Alexanders den Charakter einer grundsätzlichen Abrechnung mit den „orientalischen Barbaren“. Über ihre Tragweite lässt sich aus den vorhandenen Quellen jedoch wenig in Erfahrung bringen. Daher gehen die modernen Sichtweisen, die in diesen Inszenierungen bereits die Ankündigung eines Kampfes um das ganze Perserreich, ja um die Weltherrschaft erkennen wollen, letztlich von den später zutage tretenden Ergebnissen aus.14

Die Wertschätzung des Ortes äußerte sich nicht nur im symbolhaften Handeln, sondern auch in materiellen und ideellen Vergünstigungen: Um sich die griechischen Poleis Kleinasiens gewogen zu machen, gab Alexander der Stadt Ilion die politische Autonomie und befreite sie von Abgaben und Tributen. Ferner verbot er seinen Truppen jegliche Plünderungsaktion.15 Er wollte nicht als Eroberer, sondern als Befreier wahrgenommen werden.

Die spektakulären Aktivitäten, die Alexander auf den Spuren Homers ausführte, waren durchaus ernst gemeint. Sie dienten ihm als ideologische Flankierung seiner weit gespannten Pläne. Was er und seine Gefährten diesbezüglich unternahmen, war keine bloße Schauspielerei – die für das höhere Ziel der Kriegspropaganda in Kauf genommen wurde –; die an den Tag gelegte Homerbegeisterung entsprach dem Lebensgefühl des makedonischen Kriegeradels. Ein Schüler des Aristoteles hat später diese Ereignisse niedergeschrieben. Leider ist von diesem Werk außer dem Titel „Das Opfer in Ilion“ nichts erhalten geblieben.

Manche modernen Historiker16 sehen in Alexander einen Romantiker, der bei seinem Aufenthalt in Troia ausschließlich aus persönlichen Motiven handelte. Diese Sichtweise spiegelt eher eine neuzeitliche Gefühlslage wider als die für Menschen der antiken Mittelmeerkultur schlüssige Vereinbarkeit von Realität und Mythos, Schwärmerei und Ernsthaftigkeit, Inszenierung und Kalkül. Die Betonung der gemeinsamen griechischen Tradition, ablesbar an der Summe der vollzogenen Opfer, Sühnehandlungen und Akte der Erinnerung erlebten die Betroffenen als Vergewisserung und Stimulation. Im Mythos fanden die bevorstehenden Militäraktionen, die zunächst noch kein klares Ziel erkennen ließen, ihre Rechtfertigung. Und obwohl zahlreiche Hellenen westlich und östlich der Ägäis die Neuauflage eines Troianischen Krieges mit Befriedigung quittiert haben mögen, ein Abfall der griechischen Städte Kleinasiens vom Achaimenidenreich fand keineswegs statt. Die herrschenden Machtverhältnisse warnten vor übereilten Schritten, falls diese überhaupt ernstlich erwogen wurden. Andere hatten lange vor Alexander die Befreiung der kleinasiatischen Griechen gefordert wie Isokrates oder dies wie Agesilaos sogar versucht – gelungen war sie noch keinem.

In Alexanders Appell an den griechischen Gemeinsinn mischte sich das Gefühl der Unterlegenheit mit dem Willen zum Sieg über den übermächtigen Feind. Durch Pathos und Aktionismus sollte die anfängliche Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft der Expedition überdeckt werden. Schließlich befand sich seit etwa zwei Jahren eine starke makedonische Vorhut in Kleinasien, die sich nach ersten, viel versprechenden Fortschritten, die zu einem Umschwung in Ephesos geführt hatten, unter dem Druck des im persischen Dienst stehenden Memnon bis nach Abydos zurückziehen musste und seitdem auf der Stelle trat. Dort wartete sie die Ankunft der Hauptarmee ab, um die ramponierte Waffenehre der Makedonen wiederherzustellen.17

Lediglich die vor der Küste gelegene, faktisch unangreifbare Inselfestung Kyzikos trotzte der Macht der Satrapen. Die anderen exponierten Städte an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien, wie etwa Lampsakos, verhielten sich abwartend. Das Risiko einer einseitigen Parteinahme war zu groß und so musste Alexander erst zeigen, was er zu leisten im Stande war, um Parteigänger zu rekrutieren. Allein in die historische Rolle des legendären Achilleus zu schlüpfen, sosehr diese ihm maßgeschneidert zu sein schien, genügte nicht, um einen politischen Umschwung im griechisch sprechenden kleinasiatischen Raum zu bewirken. Es mussten handfeste Beweise seines politischen Geschicks und vor allem seiner militärischen Kompetenz folgen. Noch mehr als seine Gegner war der in Asien agierende König der Makedonen auf schnelle Erfolge angewiesen.

Ein akutes Problem bestand darin, sich Klarheit hinsichtlich der einzuschlagenden Marschrichtung zu verschaffen: Entweder begab sich das makedonisch-griechische Heer auf direktem Weg dorthin, wo das Hauptaufgebot der Satrapen vermutet wurde, oder es bog nach Süden ab, um möglichst rasch die griechischen Städte auf seine Seite zu bringen. Dabei bestand die Gefahr, dass ein allzu sorgloses Eindringen ins asiatische Territorium18 die Flankendeckung der auf sich allein gestellten Invasionsarmee entblößen könnte; denn diese wurde von logistischen Schwierigkeiten geplagt.19 Sie konnte sich maximal einen Monat lang selbst verpflegen, danach musste das eroberte Gebiet die Finanzierung der Expedition übernehmen. Dabei war freilich Rücksicht auf die Völker Kleinasiens zu nehmen, die man vom persischen Joch zu befreien vorgab. Denn eine übermäßige Ausplünderung hätte den Ruf der „Befreiungsarmee“ vorzeitig ruiniert.

Alexander und seine Gefährten stießen in der Troas auf das Gros der dort wartenden Truppen. Der zweiundzwanzigjährige Monarch strotzte vor Selbstbewusstsein. Ihm stand, trotz der genannten Schwierigkeiten, ein beträchtliches Militärpotenzial zur Verfügung. Keiner seiner Vorgänger auf dem Argeadenthron und auch kein griechischer Potentat hatte jemals eine vergleichbare Truppenkonzentration in Feindesland geführt. Voller Siegesgewissheit machte sich die von einem neuen Achilleus angeführte makedonisch-griechische Kriegskoalition auf, um die Konfrontation mit dem Gegner zu suchen. Es ist anzunehmen, dass die militärischen Direktiven in der Anfangsphase der Expedition von Parmenion ausgegeben wurden, der aufgrund seiner Ortskenntnis und Erfahrung einen maßgeblichen Einfluss auf den Feldzugsplan ausgeübt haben dürfte.

Währenddessen hielten die persischen Satrapen von Lydien, des hellespontischen Phrygien, Großphrygien, Kappadokien und Kilikien gemeinsam mit dem griechischen Söldnerführer Memnon Kriegsrat. Auch Mitglieder der Achaimenidenfamilie nahmen daran teil, unter ihnen war ein Sohn des Dareios III. Memnon riet dazu, die Durchgangsgebiete preiszugeben und Alexander zu zermürben, ihn ins Landesinnere zu locken, damit er dann von der Seeseite mit Hilfe der überlegenen Flotte abgeschnitten und ausmanövriert werden könnte. Doch der Drang nach Schonung der fruchtbaren Landschaften Westkleinasiens und die persische Kriegerethik setzten sich gegen die zwar unpopuläre, aber wohlbegründete Strategie des Rhodiers Memnon durch. Daher beschloss der persische Kriegsrat, unverzüglich gegen die makedonische Invasionsarmee vorzugehen.20 Mit diesem Entschluss manifestierte sich die Schwäche der persischen Kriegsplanungen: Der von Dareios III. als Befehlshaber der vornehmlich aus griechischen Söldnern bestehenden Westarmee eingesetzte Memnon erhielt von den kleinasiatischen Satrapen wenig Unterstützung.21

Im Mai des Jahres 334 sammelte sich das persische Heer in der Nähe der bithynischen Stadt Zeleia am Fluss Granikos östlich der Landschaft Troas. Es bot die Schlacht an in der Erwartung, die Überlegenheit seiner Kavallerietruppen ausspielen zu können. Die Satrapen hofften, auf diesem unmittelbar vor dem europäischen Kontinent liegenden Kampfplatz, den sie selbst ausgesucht hatten, die Eindringlinge vernichtend zu schlagen und ihnen so das Erobern asiatischen Bodens zu verwehren. Offenbar waren sie vom Wunsch erfüllt, an den fernen Königshof von Susa möglichst rasch das Scheitern der makedonischen Expedition melden zu können, noch bevor diese so recht begonnen hatte.