11
Um zehn Minuten vor zwei am Mittwochnachmittag kam Tina bei Bally’s Hotel an und übergab ihren Wagen dem Parkservice.
Bally’s, ehedem das MGM Grand, zählte zu einem der älteren Etablissements auf dem sich permanent verjüngenden Las Vegas Strip, war aber immer noch eines der beliebtesten Hotels in der Stadt und an diesem letzten Tag des Jahres gerappelt voll. Mindestens zwei- oder dreitausend Leute waren in dem Casino, das größer als ein Footballfeld war. Hunderte von Spielern – hübsche junge Frauen, freundlich aussehende Großmütter, Männer in Jeans und aufwendig bestickten Cowboyhemden, Rentner in teurer, aber geschmackloser Freizeitkleidung, einige Typen in Dreiteilern, Vertreter, Ärzte, Mechaniker, Sekretäre, Amerikaner von überall aus den westlichen Bundesstaaten, Ausflügler von der Ostküste, japanische Touristen, einige Araber – saßen an den halb elliptischen Blackjack-Tischen, schoben Geld und Chips nach vorn, nahmen gegebenenfalls ihren Gewinn in Empfang und griffen gierig nach den Karten, die aus dem Schlitten gezogen wurden. Jeder reagierte auf eine von mehreren vorhersehbaren Arten: Manche Spieler quiekten vor Freude; manche grummelten; andere lächelten reumütig und schüttelten den Kopf; einige scherzten mit den Gebern, flehten sie halb ernst um bessere Karten an; und wieder andere waren stumm, höflich, aufmerksam und nüchtern, als glaubten sie sich in einer vernünftigen Investmentplanung. Hunderte anderer Leute standen dicht hinter den Spielern, beobachteten ungeduldig das Geschehen und warteten, dass ein Platz frei wurde. An den Würfeltischen benahmen sich die Spieler, hauptsächlich die Männer, wilder als die Blackjack-Aficionados. Sie schrien, heulten, juchzten, stöhnten, feuerten die Werfer an und beteten laut zu den Würfeln. Links zogen sich die Spielautomaten über die gesamte Länge des Casinos, eine nervenzehrende Reihe nach der anderen, glänzend und bunt beleuchtet und von Spielern bedient, die redseliger als die Kartenspieler, aber nicht so laut wie die Würfler waren. Rechts hinter den Würfeltischen und ungefähr in der Mitte der Halle war der erhöhte Hauptbereich mit dem Baccara-Tisch aus weißem Marmor und Messing. Beim Baccara trugen der Saalchef, die Floormen und die Geber Smoking. Und überall in dem gigantischen Casino waren Cocktailkellnerinnen in knappen Kostümen, die viel Bein und Dekolleté zeigten. Sie huschten hin und her, vor und zurück, als wären sie die Fäden, die diese Menge zusammenhielten.
Tina drängte sich durch die Zuschauertrauben, die den breiten Mittelgang füllten, und machte Michael fast sofort ausfindig. Er gab an einem der vorderen Blackjack-Tische. Der Mindesteinsatz war fünf Dollar, und alle sieben Plätze waren besetzt. Michael grinste und plauderte freundlich mit den Spielern. Manche Geber waren kalt und wenig mitteilsam, aber Michael fand, dass der Tag schneller rumging, wenn er nett zu den Leuten war. Und selbstverständlich bekam er so auch erheblich mehr Trinkgeld als die meisten anderen Geber.
Michael war schlank und blond mit beinahe so blauen Augen wie Tinas. Er hatte eine vage Ähnlichkeit mit Robert Redford, war beinahe zu hübsch. Es wunderte jedenfalls niemanden, dass die Spielerinnen ihm häufiger und höheres Trinkgeld gaben als die Spieler.
Als Tina sich in die schmale Lücke zwischen den Tischen quetschte und seine Aufmerksamkeit auf sich zog, reagierte er völlig anders als erwartet. Sie hatte damit gerechnet, dass ihr Anblick ihm das Lächeln aus dem Gesicht treiben würde. Stattdessen wurde es breiter, und sie glaubte, echte Freude in seinen Augen wahrzunehmen.
Er mischte gerade und machte damit weiter, während er sagte: »Ah, hallo! Du siehst fantastisch aus, Tina. Eine wahre Augenweide.«
Hierauf war sie nicht vorbereitet. Seine warmherzige Begrüßung brachte sie aus dem Konzept.
»Schöner Pullover«, sagte er. »Gefällt mir. Blau hat dir schon immer gestanden.«
Sie lächelte unsicher und musste sich daran erinnern, dass sie hier war, um ihm gemeine Belästigung vorzuwerfen. »Ich muss mit dir reden, Michael.«
Er blickte auf seine Uhr. »In fünf Minuten habe ich Pause.«
»Wo wollen wir uns treffen?«
»Wie wäre es, wenn du hier wartest? Du kannst zugucken, wie diese Leute mich um einen Haufen Geld bringen.«
Alle Spieler am Tisch stöhnten und machten Bemerkungen dazu, wie gering die Chance war, dass sie bei diesem Geber irgendwas gewannen.
Michael zwinkerte Tina grinsend zu.
Sie schenkte ihm ein gekünsteltes Lächeln.
Die fünf Minuten zogen sich in die Länge, und sie wurde ungeduldig. In einem vollen Casino war ihr nie wohl gewesen. Die hektische Betriebsamkeit und die allgemeine Anspannung, die bisweilen an Hysterie grenzte, gingen ihr auf die Nerven.
In dem riesigen Raum war es so laut, dass sich das Hintergrundgeräusch zu einer sichtbaren Substanz zu verweben schien – wie feuchte gelbliche Nebelschwaden in der Luft. Die Spielautomaten bimmelten, piepten, pfiffen und summten. Kugeln klackerten auf sich drehenden Roulettescheiben. Eine fünfköpfige Band hämmerte schrecklich verstärkte Popmusik von einer kleinen Bühne in der offenen Cocktail-Lounge hinter den und leicht oberhalb der Automaten. Aus dem Lautsprechersystem plärrten Namen. Eis klimperte in den Gläsern der trinkenden Spieler. Und alle schienen gleichzeitig zu reden.
Als Michaels Ablösung kam und seinen Tisch übernahm, trat Michael auf den Mittelgang hinaus. »Du willst reden?«
»Nicht hier«, schrie sie beinahe. »Hier kann ich mich nicht denken hören.«
»Gehen wir runter in die Passage.«
»Okay.«
Um zu den Rolltreppen zu gelangen, die sie nach unten in die Einkaufspassage brachten, mussten sie das ganze Casino durchqueren. Michael ging vor, bahnte sich freundlich seinen Weg durch die Urlaubermassen, und Tina folgte ihm hastig, bevor der Platz, den er eben frei gemacht hatte, wieder verstellt war.
Auf halbem Weg machten sie an einem Blackjack-Tisch halt, vor dem ein ohnmächtiger Mann mittleren Alters auf dem Rücken lag. Er trug einen beigen Anzug, ein dunkelbraunes Hemd und eine beige gemusterte Krawatte. Neben ihm lag ein umgekippter Hocker, und Chips im Wert von annähernd fünfhundert Dollar waren auf dem Teppich verstreut. Zwei uniformierte Sicherheitsmänner leisteten Erste Hilfe, lockerten den Schlips und Kragen des Ohnmächtigen und fühlten seinen Puls, während ein dritter die neugierigen Gäste auf Abstand hielt.
»Herzinfarkt, Pete?«, fragte Michael.
Der dritte Sicherheitsmann antwortete: »Hi, Mike! Nee, ich glaube nicht, dass es sein Herz ist. Wahrscheinlich eine Mischung aus Blackjack-Blackout und Bingoblase. Er hat hier acht Stunden am Stück gesessen.«
Der Mann auf dem Boden stöhnte, und seine Augenlider flatterten.
Sichtlich amüsiert schüttelte Michael den Kopf und bewegte sich um den Bereich herum zurück in die Menge.
Als sie endlich das Ende des Casinos erreichten und auf der Rolltreppe hinunter zur Einkaufspassage fuhren, fragte Tina: »Was ist denn ein Blackjack-Blackout?«
»Das ist pure Dummheit«, erklärte Michael immer noch amüsiert. »Der Typ setzt sich zum Kartenspielen und steigert sich so rein, dass er die Zeit aus den Augen verliert. Natürlich will das Management genau das. Deshalb gibt es in einem Casino ja weder Fenster noch Uhren. Doch ab und zu passiert es, dass jemand so gründlich den Überblick verliert, dass er stundenlang nicht aufsteht und einfach weiterspielt wie ein Zombie. Und dabei zu viel trinkt. Wenn er sich dann doch endlich losreißen kann, bewegt er sich zu schnell, das Blut läuft aus dem Kopf nach unten und – peng!
– kippt er aus den Latschen. Blackjack-Blackout.«
»Aha.«
»Wir erleben das die ganze Zeit.«
»Und eine Bingoblase?«
»Manchmal taucht ein Spieler so ins Spiel ein, dass er regelrecht hypnotisiert ist. Er trinkt ziemlich stetig, ist aber in solcher Trance, dass er den Ruf der Natur komplett ignoriert, bis er – bingo!
– einen Blasenkrampf kriegt. Wenn es richtig schlimm ist, stellt er fest, dass seine Rohrleitungen blockiert sind. Er kann nicht mehr pinkeln und muss ins Krankenhaus gebracht werden, wo man ihm einen Katheter verpasst.«
»Mein Gott, im Ernst?«
»Jap.«
Sie traten von der Rolltreppe in die belebte Einkaufspassage. Hier strömten die Massen an Souvenirläden, Kunstgalerien, Juwelieren, Bekleidungs- und anderen Geschäften vorbei, doch dabei drängelten sie weniger als die Leute oben im Casino.
»Ich sehe immer noch keinen Ort, an dem wir ungestört reden können«, sagte Tina.
»Gehen wir zur Eisdiele und holen uns ein paar Pistazienwaffeln. Was meinst du? Pistazie hast du immer gemocht.«
»Ich will kein Eis, Michael.«
Ihre Wut war verflogen, und nun fürchtete sie, ganz den Ansporn zu verlieren, der sie hergetrieben hatte, um ihn zur Rede zu stellen. Er bemühte sich so sehr, nett zu sein, was Michael gar nicht ähnlich sah. Zumindest nicht dem Michael Evans, den sie die letzten paar Jahre gekannt hatte. Als sie jung verheiratet waren, war er witzig, charmant und unbekümmert gewesen, doch so war er ihr gegenüber schon lange nicht mehr.
»Kein Eis«, wiederholte sie. »Nur reden.«
»Tja, du willst vielleicht kein Pistazieneis, aber ich. Ich hole mir eine Waffel, dann können wir nach draußen auf den Parkplatz. Es ist ziemlich warm heute.«
»Wie lang ist deine Pause?«
»Zwanzig Minuten. Aber ich verstehe mich gut mit dem Saalchef. Er wird keinen Ärger machen, wenn ich nicht rechtzeitig zurück bin.«
Die Eisdiele war ganz hinten in der Passage. Auf dem Weg versuchte Michael weiter, sie mit Anekdoten von anderen ungewöhnlichen Spielerkrankheiten zu unterhalten.
»Es gibt auch die ›Jackpotattacke‘«, begann er. »Jahrelang kehren die Leute aus Vegas nach Hause zurück und erzählen ihren Freunden, dass sie das Spiel ausgetrickst haben. Lügen wie gedruckt. Jeder gibt sich als Gewinner aus. Und wenn auf einmal wirklich einer gewinnt, vor allem an den Automaten, wo es blitzartig passieren kann, fallen sie vor lauter Schreck in Ohnmacht. Herzattacken kommen an den Automaten öfter vor als irgendwo sonst im Casino, und oft trifft es die Leute, die gerade drei gleiche Symbole bekommen und einen Packen gewonnen haben.
Und dann gibt es das ›Vegassyndrom‹. Leute lassen sich so vom Spielen hinreißen und rennen von einer Show zur nächsten, dass sie einen ganzen Tag oder länger vergessen zu essen. Das passiert Frauen übrigens fast genauso oft wie Männern. Jedenfalls merken sie irgendwann doch, dass sie Hunger haben, verschlingen ein gewaltiges Mahl, das Blut rauscht vom Kopf in den Magen, und sie kippen mitten im Restaurant um. Normalerweise ist das nicht gefährlich, es sei denn, sie haben gerade den Mund voll, denn dann können sie ersticken.
Mein Favorit ist aber das, was wir ›Zeitschleifensyndrom‹ nennen. Oft stammen die Besucher hier aus verschlafenen Orten, und Vegas ist für sie wie ein Disneyland für Erwachsene. Hier ist so viel los, gibt es so viel zu sehen, so viel Aufregung, dass sie aus ihrem Rhythmus geraten. Sie gehen im Morgengrauen ins Bett, stehen nachmittags auf und kriegen nicht mehr mit, welcher Tag ist. Irgendwann nutzt sich die erste Begeisterung ein bisschen ab, sie checken aus dem Hotel aus und stellen fest, dass aus ihrem Dreitagetrip irgendwie fünf Tage geworden sind. Sie können es nicht glauben und denken, dass sie übers Ohr gehauen werden. Dann zanken sie sich mit den Leuten an der Rezeption, und wenn ihnen jemand einen Kalender und eine aktuelle Zeitung zeigt, sind sie richtig geschockt. Die sind in einer Zeitschleife gewesen und haben ein paar Tage verloren. Ist das nicht schräg?«
Michael plauderte weiter, während er sich sein Eis kaufte. Danach gingen sie durch den Hintereingang des Hotels nach draußen und bei einundzwanzig Grad am Rand des Parkplatzes entlang. »Also, worüber wolltest du reden?«
Tina wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Ihre Absicht war gewesen, ihm vorzuwerfen, dass er Dannys Zimmer auseinandergenommen hatte. Sie hatte einen richtigen Auftritt hinlegen wollen, damit er, sollte er nicht zugeben wollen, dass er es war, konsterniert genug wäre, um sich irgendwie trotzdem zu verraten. Doch nachdem er so freundlich zu ihr war, würde sie jetzt wie eine irre Furie wirken, sollte sie anfangen, ihm gemeine Vorhaltungen zu machen.
Schließlich sagte sie: »Es sind seltsame Sachen im Haus passiert.«
»Wie seltsam?«
»Ich glaube, jemand ist eingebrochen.«
»Du glaubst
?«
»Na ja … Ich bin mir sicher.«
»Wann ist das passiert?«
Sie dachte an die zwei Worte auf der Tafel. »Dreimal in der letzten Woche.«
Er blieb stehen und starrte sie an. »Dreimal?«
»Ja, zuletzt gestern Abend.«
»Was hat die Polizei gesagt?«
»Die habe ich nicht gerufen.«
»Warum nicht?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Zum einen, weil nichts gestohlen wurde.«
»Jemand ist dreimal eingebrochen, hat aber nichts geklaut?«
Falls er den Unschuldigen mimte, war er ein viel besserer Schauspieler, als sie gedacht hätte, und sie glaubte, ihn sehr gut zu kennen. Schließlich hatte sie lange mit ihm zusammengelebt, in guten und in schlechten Jahren, und sie hatte die Grenzen seines Talents in puncto Täuschung und Doppelzüngigkeit kennengelernt. Sie hatte immer erkannt, wenn er log. Und sie glaubte nicht, dass er es jetzt tat. Da war etwas Merkwürdiges in seinen Augen, solch ein nachdenklicher Ausdruck, der indes nichts Falsches hatte. Er schien ehrlich nicht zu wissen, was in dem Haus geschehen war. Vielleicht hatte er nichts damit zu tun.
Doch wenn Michael das Zimmer nicht verwüstet und die Worte an die Tafel geschrieben hatte, wer dann?
»Warum sollte jemand einbrechen und wieder gehen, ohne irgendwas mitzunehmen?«, fragte er.
»Ich glaube, sie haben versucht, mich zu erschrecken und mir Angst zu machen.«
»Wer würde das wollen?« Er schien aufrichtig besorgt.
Tina wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Du warst nie der Typ, der sich Feinde macht«, sagte er. »Es ist verflucht schwer, dich zu hassen.«
»Dir ist es gelungen«, sagte sie, und das war alles, was sie ihm vorwerfen konnte.
Er blinzelte verwirrt. »Nein, oh nein, Tina. Ich habe dich nie gehasst. Mich hat enttäuscht, wie sehr du dich verändert hattest, und ich war wütend auf dich. Wütend und verletzt. Ja, das gebe ich zu. Es gab eine Menge Bitterkeit auf meiner Seite, keine Frage. Aber die war nie so schlimm, dass daraus Hass hätte werden können.«
Sie seufzte. Michael hatte Dannys Zimmer nicht verwüstet. Dessen war sie sich nun absolut sicher.
»Tina?«
»Tut mir leid. Ich hätte dich damit nicht belästigen sollen, und ich weiß selbst nicht genau, warum ich es getan habe«, log sie. »Ich hätte gleich die Polizei rufen sollen.«
Er leckte an seinem Eis, betrachtete sie und lächelte mild. »Verstehe. Dir fällt schwer, das zu begreifen. Du weißt nicht, wo du anfangen sollst, also kommst du mit der Geschichte zu mir.«
»Geschichte?«
»Ist schon okay.«
»Michael, es ist nicht bloß eine Geschichte.«
»Muss dir nicht peinlich sein.«
»Es ist mir nicht peinlich. Warum sollte es mir peinlich sein?«
»Entspann dich. Alles gut, Tina«, sagte er sanft.
»Jemand ist
ins Haus eingebrochen.«
»Ich verstehe, wie du dich fühlst.« Sein Lächeln veränderte sich und wurde selbstgefällig.
»Michael …«
»Wirklich, ich verstehe es, Tina.« Seine Stimme klang beruhigend, aber der Tonfall war herablassend. »Du musst dir keinen Vorwand ausdenken, um mich das zu fragen, was du eigentlich fragen willst. Schatz, du brauchst keine Geschichte von einem Einbruch. Ich verstehe es, und ich bin ganz bei dir. Ehrlich. Also, sag schon. Kein Grund, verlegen zu sein. Sprich es einfach aus, na los.«
Sie war perplex. »Was soll ich aussprechen?«
»Wir haben unsere Ehe in die Brüche gehen lassen, dabei hatten wir viele Jahre etwas richtig Tolles. Das können wir wiederhaben, wenn wir es ernsthaft versuchen.«
Tina war fassungslos. »Ist das dein Ernst?«
»Die letzten Tage habe ich darüber nachgedacht. Und als ich dich vorhin ins Casino kommen sah, habe ich gewusst, dass ich recht habe. Sobald ich dich gesehen habe, war mir klar, dass alles genauso werden kann, wie ich es mir vorgestellt habe.«
»Es ist
dein Ernst.«
»Ja, sicher.« Ihre Verblüffung deutete er irrtümlich als überraschtes Entzücken. »Jetzt hast du deinen Auftritt als Produzentin gehabt und bist bereit, zur Ruhe zu kommen. Das finde ich nur einleuchtend.«
Auftritt!
, dachte sie erbost.
Er hielt sie nach wie vor für eine flatterhafte Frau, die sich mal kurz als Produzentin in Las Vegas ausprobieren wollte. Dieser Vollidiot! Sie war in Rage, sagte aber nichts, denn sie fürchtete, wenn sie den Mund aufmachte, würde sie ihn anschreien.
»Es gibt mehr im Leben als eine glänzende Karriere«, sagte Michael feierlich. »Das Zuhause zählt auch. Das Heim und die Familie, die sind auch Teil des Lebens. Vielleicht sind sie der wichtigste.« Er nickte. »Die Familie. Die letzten Tage, kurz bevor deine Show eröffnen sollte, habe ich das Gefühl gehabt, du könntest am Ende erkennen, dass du mehr im Leben brauchst, etwas emotional Befriedigenderes als das, was dir das stumpfe Produzieren von Bühnenshows geben kann.«
Tinas Ehrgeiz hatte seinen Teil zum Niedergang ihrer Ehe beigetragen. Oder vielmehr nicht ihr Ehrgeiz, sondern Michaels alberne Einstellung dazu. Ihm genügte es, Geber beim Blackjack zu sein; sein Lohn und seine guten Trinkgelder reichten ihm, und er war zufrieden damit, durch die Jahre zu gleiten. Tina hingegen wollte mehr, als sich einfach mit dem Strom treiben zu lassen. Als sie sich von der Tänzerin über Kostümbildnerin, Choreografin und Lounge-Revue-Koordinatorin zur Produzentin hochkämpfte, hatte Michael sich an ihrem Ehrgeiz gestört. Ihn und Danny hatte sie nie vernachlässigt, sondern war entschlossen gewesen, keinem von ihnen einen Grund zu geben, sich für weniger wichtig zu halten. Danny war wunderbar gewesen; er hatte es verstanden. Michael konnte oder wollte es nicht. Nach und nach wurde sein Missfallen von einem niederen Gefühl verschärft: Er wurde eifersüchtig auf ihre kleinsten Erfolge. Derweil hatte sie versucht, ihn anzuspornen, selbst voranzukommen – vom Geber zum Floorman, Saalchef und ins höhere Casino-Management. Nur hatte er keine Lust gehabt, diese Leiter hinaufzusteigen. Er war zickig und trotzig geworden. Irgendwann fing er an, sich mit anderen Frauen zu treffen. Tina hatte sein Verhalten erst geschockt, dann verwirrt und letztlich zutiefst traurig gemacht. Sie hätte ihren Mann einzig halten können, indem sie ihre neue Karriere aufgab, und sie hatte sich geweigert, das zu tun.
Bald hatte Michael ihr zu verstehen gegeben, dass er die wahre Christina eigentlich nie geliebt hatte. Nicht dass er es ihr so auf den Kopf zusagte, doch sein Verhalten war deutlich genug. Er hatte nur das Showgirl gemocht, das niedliche kleine Ding, das andere Männer begehrten; die hübsche Frau an seinem Arm zu haben war gut für sein Ego gewesen. Solange sie eine Tänzerin blieb und zum Anbeißen aussah, fand er sie prima. Doch in dem Moment, in dem sie mehr sein wollte als seine Trophäe, rebellierte er.
Und gekränkt, wie sie von dieser Erkenntnis war, hatte sie ihm die Freiheit gegeben, die er wollte.
Jetzt dachte er tatsächlich, sie würde wieder zu ihm zurückgekrochen kommen. Deshalb hatte er gelächelt, als er sie an seinem Blackjack-Tisch sah. Deshalb war er so charmant. Es war erstaunlich, was für ein Ego der Mann hatte!
Er stand im Sonnenschein vor ihr, und auf seinem weißen Hemd schimmerten die Spiegelungen von den geparkten Wagen um sie herum. Er bedachte sie mit seinem selbstgewissen, überheblichen Lächeln, bei dem ihr so kalt wurde, wie dieser Wintertag hätte sein sollen.
Einst, vor langer Zeit, hatte sie ihn sehr geliebt. Jetzt fiel ihr nicht mehr ein, wie oder warum er sie jemals interessiert hatte.
»Michael, falls du es nicht gehört hast, Magyck!
ist ein Hit. Ein großer Hit. Riesig.«
»Klar«, sagte er. »Das weiß ich, Baby. Und es freut mich für dich. Für dich und
mich. Jetzt hast du bewiesen, was du beweisen musstest, und kannst lockerlassen.«
»Ich habe vor, weiter als Produzentin zu arbeiten. Ich werde nicht …«
»Oh, ich erwarte nicht, dass du es aufgibst«, unterbrach er sie.
»Ach nein?«
»Nein, natürlich nicht. Es tut dir gut, wenn du dich ausprobieren kannst. Das sehe ich jetzt ein. Ja, ich habe es verstanden. Aber solange Magyck!
erfolgreich läuft, wirst du nicht mehr so viel zu tun haben. Es wäre nicht mehr wie vorher.«
»Michael …«, begann sie und wollte ihm sagen, dass sie innerhalb des nächsten Jahres eine neue Show auf die Beine stellen würde und mehr als nur eine Produktion laufen haben wollte; dass sie sogar Pläne hatte, es am Broadway in New York zu versuchen, wo ein Revival von Busby-Berkeley- Musicals eventuell gut ankäme.
Doch er war so in seiner Fantasie gefangen, dass er gar nicht merkte, wie wenig sie darin vorkommen wollte. Er unterbrach sie, bevor sie mehr als seinen Namen gesagt hatte.
»Wir können das schaffen, Tina. Mit uns war es gut, in den frühen Jahren. Das kann es wieder sein. Wir sind noch jung, haben Zeit, wieder eine Familie zu gründen. Vielleicht sogar zwei Jungen und zwei Mädchen. Das habe ich mir immer gewünscht.«
Als er innehielt, um an seinem Eis zu lecken, sagte sie: »Michael, so wird es nicht kommen.«
»Ja, vielleicht hast du recht. Eine große Familie ist heutzutage wohl keine gute Idee mehr, wo die Wirtschaft am Boden ist und es so viel Unruhe auf der Welt gibt. Aber zwei Kinder könnten wir leicht finanzieren, und vielleicht haben wir Glück und kriegen einen Jungen und ein Mädchen. Natürlich warten wir noch ein Jahr oder so. Sicher gibt es noch einen Haufen Arbeit an einer Show wie Magyck!
, auch nach der Premiere. Wir warten, bis sie sauber läuft und du nicht mehr so gebraucht wirst. Dann können wir …«
»Michael, hör auf!«, sagte sie scharf.
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geohrfeigt.
»Ich fühle mich nicht unausgefüllt«, sagte sie. »Ich sehne mich nicht nach einem häuslichen Leben. Du verstehst mich kein bisschen besser als bei unserer Scheidung.«
Seine überraschte Miene wich einem Stirnrunzeln.
»Ich habe mir die Geschichte von den Einbrüchen nicht ausgedacht, damit du den starken, verlässlichen Mann geben kannst, der mich schwache, ängstliche Frau tröstet. Jemand ist wirklich
eingebrochen. Ich bin zu dir gekommen, weil ich dachte … Ich habe geglaubt … Ach, es spielt keine Rolle mehr.«
Sie drehte sich weg und wollte zum Hintereingang des Hotels, aus dem sie vor wenigen Minuten gekommen waren.
»Warte!«, sagte Michael. »Tina, warte!«
Sie blieb stehen und sah ihn voller Verachtung und Bedauern an.
»Es tut mir leid«, sagte er, als er zu ihr gelaufen kam. »Es ist meine Schuld, Tina. Ich habe es vermasselt. Gott, ich habe gefaselt wie ein Idiot, oder? Sicher wolltest du es auf deine Weise machen. Ich wusste, was du sagen willst, aber ich hätte es dich in deinem Tempo tun lassen sollen. Das war falsch. Es ist nur – ich habe mich so gefreut, Tina. Weiter nichts. Ich hätte den Mund halten und dich zuerst sagen lassen sollen, was du sagen wolltest. Tut mir leid, Baby.« Sein enervierendes Jungengrinsen war wieder da. »Sei mir nicht böse, okay? Wir beide wollen dasselbe – ein schönes Familienleben. Lass uns diese Chance nicht wegwerfen.«
Sie funkelte ihn wütend an. »Ja, du hast recht, ich wünsche mir ein schönes, ein erfüllendes Privatleben. Das stimmt. Aber bei allem anderen irrst du dich. Ich will nicht bloß Produzentin sein, weil ich irgendwas brauche, um mich auszuprobieren. Ausprobieren?
Michael, das ist Schwachsinn. Keiner stellt eine Show wie Magyck!
auf die Beine, indem er einfach mal ausprobiert. Ich fasse nicht, dass du das sagst! Es war kein kleiner Auftritt. Das war eine geistig und körperlich sehr fordernde Erfahrung – richtig hart
–, und ich habe jede Minute davon genossen! So Gott will, mache ich das wieder. Und wieder und wieder. Ich werde Shows produzieren, die Magyck!
amateurhaft dastehen lassen. Eines Tages könnte ich auch wieder Mutter werden. Und ich wäre auch eine verdammt gute. Eine gute Mutter und eine gute Produzentin. Ich besitze genug Intelligenz und das Talent, mehr zu sein als eines von beidem. Und ganz sicher kann ich mehr sein als dein hübsches Anhängsel und deine Haushälterin.«
»Jetzt mach mal halblang.« Er wurde merklich wütend. »Warte mal, verflucht! Du kannst nicht …«
Sie fiel ihm ins Wort. Über Jahre war sie voller Schmerz und Verbitterung gewesen und hatte ihre Wut nie herausgelassen, weil sie dachte, sie müsste es vor Danny verbergen, denn er sollte sich nicht gegen seinen Vater wenden. Später, nach Dannys Tod, hatte sie ihre Gefühle unterdrückt, weil sie wusste, dass Michael unter dem Verlust seines Kindes litt, und seinen Kummer nicht verschlimmern wollte. Doch jetzt ließ sie einiges von der Säure raus, die sie schon so lange innerlich zerfraß.
»Du irrst dich, wenn du gedacht hast, ich würde bei dir angekrochen kommen. Warum sollte ich das denn wollen? Was kannst du mir geben, das ich woanders nicht kriegen kann? Im Grunde hast du nie viel gegeben, nicht wahr, Michael? Du gibst nur, wenn du dir gewiss sein kannst, es doppelt und dreifach zurückzubekommen. Letztlich nimmst du immer nur. Und ehe du mir noch mehr von dem zuckersüßen Gerede von der tollen Familie servierst, darf ich dich daran erinnern, dass nicht ich
es war, die unsere Familie auseinandergebracht hat? Ich war es nicht, die von Bett zu Bett gehüpft ist.«
»Jetzt warte mal …«
»Du warst der, der anfing, alles zu vögeln, was nicht bei drei auf den Bäumen war! Und jede deiner billigen Affären hast du mir vor den Latz geknallt, um mich zu verletzen. Du
warst derjenige, der nachts nicht nach Hause gekommen ist. Du bist übers Wochenende mit deinen Affären verreist. Und das hat mir das Herz gebrochen, Michael, ja, gebrochen – was du ja auch erreichen wolltest, weshalb es für dich in Ordnung war. Aber hattest du jemals darüber nachgedacht, was das für Danny hieß? Wenn du so viel Wert aufs Familienleben gelegt hast, warum hast du die Wochenenden damals nicht mit deinem Sohn verbracht?«
Er wurde rot, und da war wieder dieser fiese Ausdruck in seinen Augen, den sie nur zu gut kannte. »Ah, ich kann also nicht geben, ja? Und wer hat dir das Haus geschenkt, in dem du wohnst, hm? Wer musste nach der Trennung in eine Wohnung ziehen, und wer hat das Haus behalten?«
Verzweifelt versuchte er, sie abzulenken und die Richtung des Streits zu ändern. Sie erkannte, was er vorhatte, und sie würde sich nicht irritieren lassen.
»Mach dich nicht lächerlich, Michael«, erwiderte sie. »Du weißt verdammt gut, dass ich die Anzahlung für das Haus berappt hatte. Dein ganzes Geld hast du immer für schnelle Autos und Klamotten ausgegeben. Ich habe jede Hypothekenrate bezahlt. Das weißt du. Und ich habe nie Unterhalt verlangt. Überhaupt ist es jetzt nebensächlich. Wir reden über Familienleben, über Danny.«
»Jetzt hör mir mal zu …«
»Nein, jetzt hörst du zu! Nach all den Jahren bist du dran mit Zuhören. Sofern du das kannst. Du hättest mit Danny über die Wochenenden wegfahren können, wenn du nicht bei mir sein wolltest. Du hättest mit ihm zum Campen fahren können, für ein paar Tage nach Disneyland. Oder zum Angeln an den Colorado River. Aber du warst ja zu sehr mit all den Frauen beschäftigt, um mich zu verletzen und dir selbst zu beweisen, was für ein toller Hengst du bist. Du hättest die Zeit mit deinem Sohn genießen können. Er hat dich vermisst. Du hättest die kostbare Zeit mit ihm genießen können. Und wie sich herausgestellt hat, blieb Danny nicht mehr viel.«
Michael war kreidebleich und zitterte. Seine Augen waren dunkel vor Wut. »Du bist immer noch dieselbe verfluchte Bitch wie früher.«
Seufzend ließ sie die Schultern hängen. Sie war erschöpft. Und sie war fertig damit, ihm die Meinung zu sagen, fühlte sich auf gute Art ausgelaugt, als hätte sie eine böse, nervöse Energie abgestoßen.
»Du bist immer noch dieselbe kastrierende Oberzicke«, sagte Michael.
»Ich will nicht mit dir streiten, Michael. Es tut mir sogar leid, wenn etwas, was ich über Danny gesagt habe, dir wehgetan hat, auch wenn du bei Gott verdienst, es zu hören. Ich will dich wirklich nicht verletzen. So komisch es klingen mag, hasse ich dich eigentlich nicht mehr. Ich empfinde überhaupt nichts für dich. Gar nichts mehr.«
Sie drehte sich um und ließ ihn im Sonnenschein, der sein Eis aus der Waffel über seine Hand rinnen ließ, zurück.
Sie kehrte zurück in die Einkaufspassage, fuhr mit der Rolltreppe nach oben und bahnte sich ihren Weg durch die lärmende Menge im Casino zum Ausgang. Ein Mann vom Parkservice brachte ihr ihren Honda, und sie fuhr die geschwungene Ausfahrt des Hotels hinunter.
Ihr nächster Halt sollte das Golden Pyramid sein, wo sie ein Büro hatte und einige Arbeit auf sie wartete.
Doch nach nur einem Block musste sie rechts ranfahren. Sie konnte nichts sehen, weil ihr heiße Tränen übers Gesicht strömten. Sie parkte und war selbst überrascht darüber, wie hemmungslos sie schluchzte.
Anfangs wusste sie nicht recht, worum sie weinte. Sie gab einfach dem überwältigenden Kummer nach, der sie überkam, und stellte ihn nicht infrage.
Nach einer Weile begriff sie, dass sie um Danny weinte. Den armen süßen Danny. Er hatte kaum angefangen zu leben. Und sie weinte auch um sich und Michael. Sie weinte um all die Dinge, die hätten sein können und die es nie mehr geben würde.
Nach einigen Minuten fing sie sich, wischte sich die Augen und putzte sich die Nase.
Diese Traurigkeit musste aufhören. Es gab genug Dunkles in ihrem Leben. Höllisch viel Dunkles.
»Denk positiv«, ermahnte sie sich laut. »Vielleicht war die Vergangenheit nicht so klasse, aber die Zukunft scheint ziemlich gut zu werden.«
Im Rückspiegel prüfte sie, wie viel Schaden die Heulattacke angerichtet hatte. Sie sah besser als erwartet aus. Ihre Augen waren gerötet, doch wie Dracula wirkte sie nicht. Sie öffnete ihre Handtasche, holte ihr Make-up heraus und deckte die Tränenspuren so gut ab, wie sie konnte.
Dann bog sie wieder auf die Straße ein und fuhr zum Pyramid.
Als sie an der nächsten roten Ampel wartete, wurde ihr bewusst, dass sie immer noch ein Rätsel zu lösen hatte. Michael war es nicht gewesen, der Dannys Zimmer so zugerichtet hatte. Aber wer dann? Niemand sonst hatte einen Schlüssel, und nur ein sehr versierter Einbrecher konnte in ein Haus einsteigen, ohne Spuren zu hinterlassen. Doch warum sollte solch ein Einbrecher es wieder verlassen, ohne irgendwas mitzunehmen? Warum brach er ein, um Dannys Tafel zu beschmieren und die Sachen eines toten Jungen zu zerstören?
Seltsam.
Als sie noch Michael verdächtigt hatte, war sie verstört und verärgert gewesen, hatte jedoch keine Angst gehabt. Wollte hingegen irgendein Fremder
, dass sie noch mehr unter dem Verlust ihres Kindes litt, war es definitiv beunruhigend. Es war furchterregend, weil es keinen Sinn ergab. Ein Fremder? Aber es musste so sein. Michael war der Einzige, der ihr je die Schuld an Dannys Tod gegeben hatte. Keiner ihrer Verwandten oder Bekannten hatte jemals angedeutet, dass sie auch nur indirekt verantwortlich wäre. Dennoch schienen die Worte an der Tafel und die Zerstörung des Zimmers das Werk von jemandem zu sein, der sie für den Unfall zur Rechenschaft ziehen wollte. Es musste jemand sein, den sie nicht einmal kannte. Aber warum sollte ein Fremder solche starken Gefühle wegen Dannys Tod haben?
Die Ampel wurde grün.
Hinter ihr wurde gehupt.
Als sie über die Kreuzung und in die Zufahrt zum Golden Pyramid Hotel fuhr, wurde Tina das Gefühl nicht los, dass sie jemand beobachtete, der ihr schaden wollte. Sie blickte in den Rückspiegel, ob ihr jemand folgte. Soweit sie es sagen konnte, war da niemand.