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Kurt Hensen, George Alexanders rechte Hand, döste während des turbulenten Fluges von Las Vegas nach Reno. Sie saßen in einer Zehn-Passagier-Maschine des Netzwerks, die heftig von Höhenwinden auf ihrem zugeteilten Flugkorridor durchgeschüttelt wurde. Hensen, ein kräftiger Mann mit weißblondem Haar und katzengelben Augen, hatte Flugangst. Er konnte nur in ein Flugzeug steigen, nachdem er starke Medikamente eingeworfen hatte. Wie üblich nickte er Minuten nach dem Abheben ein.
George Alexander war der einzige andere Passagier. Er betrachtete die Anschaffung dieses Jets als eine seiner wichtigsten Errungenschaften in den drei Jahren, die er das Büro in Nevada leitete. Obwohl er über die Hälfte der Zeit in seinem Büro in Las Vegas arbeitete, hat er oft Grund, spontan zu entlegenen Punkten zu fliegen: nach Reno, Elko, sogar nach Texas, Kalifornien, Arizona, New Mexico oder Utah. Im ersten Jahr hatte er Linienflüge gebucht oder einen vertrauenswürdigen Piloten engagiert, der die konventionelle zweimotorige Maschine fliegen konnte, die Alexanders Vorgänger vom Netzwerkbudget hatte abzweigen können. Doch es schien falsch und kurzsichtig von dem Direktor, einen Mann in Alexanders Position zu zwingen, derart primitiv zu reisen. Seine Zeit war enorm wertvoll für das Land; seine Arbeit war heikel und erforderte oft schnelle Entscheidungen, wenn es galt, Informationen an fernen Orten zu prüfen. Nach längerer, mühseliger Überzeugungsarbeit hatte Alexander endlich diesen kleinen Jet bekommen. Und er hatte gleich zwei Vollzeitpiloten, Ex-Militärs, auf die Gehaltsliste seines Büros gesetzt.
Manchmal war das Netzwerk knausriger, als gut für alle war. Und George Lincoln Stanhope Alexander, der sowohl das Vermögen der Pennsylvania-Alexanders als auch den enormen Reichtum der Delaware-Stanhopes geerbt hatte, konnte geizige Leute nicht ausstehen.
Es stimmte, dass jeder Dollar zählte, weil es schwierig war, das Netzwerk-Budget zu bestücken. Weil die Existenz des Netzwerks geheim gehalten werden musste, finanzierte sich die Organisation aus umgeleiteten Geldern für andere Regierungsbehörden. Drei Milliarden Dollar, der größte Einzelposten im jährlichen Netzwerkbudget, kamen von der Behörde für Gesundheit und Wohlfahrt. Sie hatten einen Agenten namens Jacklin in die höchsten Ränge der Gesundheitsverwaltung eingeschleust. Jacklins Job war es, neue Wohlfahrtsprogramme zu konzipieren, den Gesundheitsminister von deren Notwendigkeit zu überzeugen, sie dem Kongress zu verkaufen und glaubwürdige Bürokratiemauern um sie herum einzurichten, um zu verbergen, dass es diese Programme nicht gab. Und wenn die Regierungsgelder flossen, wurden sie zum Netzwerk umgeleitet. Die drei Milliarden, die sie aus dem Gesundheitsbereich nahmen, waren noch am wenigsten riskant, weil der Bereich so riesig war, dass niemand solch eine kleine Summe bemerkte. Das Verteidigungsministerium, das dieser Tage weniger liquide war als das Gesundheitsministerium, dem aber dennoch Verschwendung vorgehalten wurde, steuerte mindestens eine Milliarde pro Jahr bei. Kleinere Beträge zwischen hundert Millionen und einer halben Milliarde wurden heimlich aus den Kassen für Energie, Bildung und andere Ministerien genommen.
Sicher, die Finanzierung war insgesamt etwas schwierig, aber es war eine Menge Geld da. Und ein Jet für den Chef des ungemein wichtigen Nevadabüros war keine Extravaganz. Außerdem glaubte Alexander, seine gesteigerte Leistung im letzten Jahr hatte dem alten Mann in Washington bestätigt, dass es gut angelegtes Geld war.
Alexander war stolz auf seine wichtige Stellung. Doch ihn frustrierte, dass so wenige Menschen wussten, wie wichtig er war.
Bisweilen beneidete er seinen Vater und seine Onkel. Die meisten von ihnen hatten ihrem Land offen gedient, sehr sichtbar, sodass jeder sie für ihr selbstloses Engagement bewundern konnte. Verteidigungsminister, Innenminister, Botschafter in Frankreich … In solchen Positionen wurde ein Mann geschätzt und respektiert.
George hingegen hatte bis vor sechs Jahren, da war er sechsunddreißig, nie einen Posten von Prestige und Autorität bekleidet. In seinen Zwanzigern und frühen Dreißigern hatte er in einer Vielzahl niederer Regierungsbüros gearbeitet. Seine Stellen in der Diplomatie und dem Geheimdienst waren nie eine Beleidigung des Familiennamens gewesen, aber immer kleine Posten in Botschaften kleinerer Länder wie Island, Ecuador und Tonga; nichts, was die New York Times
dazu bewegen würde, seine Existenz wahrzunehmen.
Vor sechs Jahren dann wurde das Netzwerk gegründet, und der Präsident hatte George die Aufgabe übertragen, ein verlässliches südamerikanisches Büro für die neue Geheimdienstbehörde aufzubauen. Es war eine spannende, fordernde, wichtige Arbeit gewesen. George war direkt für zig Millionen Dollar verantwortlich gewesen und hatte Hunderte von Agenten in einem Dutzend Ländern befehligt. Nach drei Jahren äußerte sich der Präsident entzückt über die Erfolge in Südamerika und bat George, eines der heimischen Netzwerkbüros zu übernehmen – Nevada, dessen Leitung es furchtbar schlecht verwaltet hatte. Dieser Posten war einer von dem halben Dutzend wichtiger Positionen in der Hierarchie des Netzwerks. Der Präsident ermunterte George sogar, sich Hoffnungen auf eine Beförderung zum Leiter der gesamten Westhälfte des Landes zu machen – und noch mehr. Er müsste es nur schaffen, dass die schwächelnden westlichen Stellen so reibungslos funktionierten wie die Büros in Südamerika. Dann käme er auf den Direktorenposten in Washington und hätte das Sagen bei allen heimischen und ausländischen Operationen. Mit dem Titel wäre er einer der mächtigsten Männer in den Vereinigten Staaten, mächtiger, als es sich irgendein bloßer Innen- oder Verteidigungsminister erträumen durfte.
Doch er konnte niemandem von seinen Erfolgen erzählen. Er konnte nie hoffen, den öffentlichen Beifall und die Würdigung zu erfahren, mit denen andere Männer in der Familie überhäuft wurden. Das Netzwerk war geheim und musste es auch bleiben, wenn es etwas wert sein wollte. Mindestens die Hälfte der Leute, die dafür arbeiteten, wusste nicht mal von seiner Existenz. Manche glaubten, sie wären beim FBI angestellt, andere waren sicher, für die CIA zu arbeiten, und wieder andere glaubten, in diversen Unterabteilungen des Finanzministeriums tätig zu sein, einschließlich des Secret Service. Keiner dieser Menschen könnte das Netzwerk enttarnen. Einzig die Bürochefs, ihre engsten Mitarbeiter, die Stationsleiter in großen Städten und leitende Außendienstleute, die ihre Loyalität bewiesen hatten, kannten die Wahrheit über ihre Arbeitgeber und ihre Tätigkeit. In dem Moment, in dem die Medien Wind vom Netzwerk bekamen, wäre alles verloren.
Als er im gedämpften Licht der Kabine saß und die Wolken beobachtete, die unter ihm lagen, fragte Alexander sich, was sein Vater und seine Onkel sagen würden, wüssten sie, dass sein Dienst für sein Land oft verlangte, Tötungsbefehle zu erteilen. Noch schockierter wären die Ostküsten-Patrizier, erführen sie, dass Alexander bei drei Gelegenheiten in Südamerika selbst den Abzug gedrückt hatte. Er hatte jene Morde so sehr genossen, hatte einen solch erhabenen Kitzel gespürt, dass er danach freiwillig die Henkerrolle bei einem halben Dutzend anderer Aufträge übernahm. Was würden die alten Alexanders, die berühmten Staatsmänner, denken, wüssten sie, dass Blut an seinen Händen klebte? Dass er in seinem Job hin und wieder anderen befehlen musste zu töten, würde seine Familie wohl verstehen. Die Alexanders waren alle Idealisten, wenn sie darüber sprachen, wie die Dinge sein sollten; aber sie waren auch Pragmatiker, wenn es darum ging, wie die Dinge waren. Sie wussten, dass die Welt der nationalen Militärsicherheit und der internationalen Spionage kein Kinderspielplatz war. George wollte gern glauben, dass sie ihm sogar verzeihen würden, selbst abgedrückt zu haben.
Schließlich hatte er nie gewöhnliche Bürger oder jemanden von wahrem Wert getötet. Seine Ziele waren stets Spione und Verräter gewesen; und einige von ihnen waren selbst kaltblütige Killer. Abschaum. Er hatte nur Abschaum getötet. Es war kein hübscher Job, aber es mangelte ihm auch nicht an einem gewissen Maß an wahrer Würde und Heldentum. So zumindest sah George es. Er betrachtete sich als heldenhaft. Ja, er war sich sicher, dass sein Vater und seine Onkel ihm ihren Segen geben würden – wäre es ihm nur erlaubt, ihnen davon zu erzählen.
Der Jet geriet in eine besonders schlimme Turbulenz, schwankte, hüpfte und bebte.
Kurt Hensen schnarchte im Schlaf, wachte jedoch nicht auf.
Als sich das Flugzeug wieder beruhigt hatte, blickte Alexander nach draußen zu den milchig weißen mondbeschienenen, feminin gerundeten Wolken unten und dachte an diese Evans. Sie war ziemlich ansehnlich. Ihre Akte lag auf dem Sitz neben ihm. Er öffnete sie und sah sich das Foto an. Fürwahr ziemlich hübsch. Er beschloss, dass er sie selbst töten würde, wenn es so weit war, und bei diesem Gedanken bekam er sofort eine Erektion.
Er genoss das Töten. Er versuchte nicht, sich etwas anderes vorzumachen, egal, wie er sich der Welt präsentieren musste. Sein Leben lang schon hatte ihn – aus Gründen, die er selbst nie ganz verstanden hatte – der Tod fasziniert. Ihn reizten dessen Natur, dessen Formen und Möglichkeiten, er war begeistert darüber, seine Bedeutung zu studieren. Er sah sich als Botschafter des Todes, als einen von Gott auserwählten Scharfrichter. Mord war in vielerlei Hinsicht viel erregender für ihn als Sex. Seine Vorliebe für Gewalt wäre beim alten FBI nicht lange toleriert worden – vielleicht nicht einmal beim neuen, durch und durch politisierten – oder in irgendeiner anderen vom Kongress überwachten Polizeibehörde. Doch in dieser unbekannten Organisation, auf diesem geheimen und unvergleichlich gemütlichen Posten, blühte er auf.
Er schloss die Augen und dachte an Christina Evans.