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Die kahlen Bäume wirkten wie verkohlt, als wäre dieser Winter strenger als andere und so unheilvoll wie ein Feuer. Auf den immergrünen Kiefern, Fichten und Tannen lag dick der Schnee. Ein scharfer Wind blies über den Horizont, der unter einem tiefen, bedrohlichen Himmel lag, und schleuderte vereisten Schnee gegen die Windschutzscheibe des Explorers.
Der stattliche Wald, der sie auf der schmaler werdenden Landstraße nach Norden umgab – beeindruckte und beunruhigte sie zugleich. Selbst wenn sie nicht gewusst hätte, dass dieser Wald Geheimnisse über Danny und den Tod der anderen Pfadfinder barg, würde sie ihn mysteriös und beängstigend urtümlich finden.
Elliot und sie waren vor einer Viertelstunde von der Interstate 80 abgefahren, der Route folgend, die Danny markiert hatte, und fuhren weiter an den Ausläufern der Wildnis entlang. Auf dem Papier waren sie immer noch am Rand der Karte, auf der sich nach links ein weites Terrain in Blau und Grün auftat. Bald würden sie von der zweispurigen Straße auf einen Weg wechseln, der laut Karte »unasphaltiert, unbefestigt« war, was immer das bedeuten mochte.
Nachdem sie Billy Sandstones Haus in seinem Explorer verlassen hatten, waren sie nicht mehr ins Hotel zurückgekehrt. Sie teilten beide die Befürchtung, dass jemand sehr Unfreundliches in ihrem Zimmer warten könnte.
Zunächst waren sie in einem Sportgeschäft gewesen, hatten zwei Skianzüge aus Goretex und Thermolite, Stiefel, Schneeschuhe, kleine Nahrungsrationen, Brennpaste und weitere nützliche Survivalausrüstung gekauft. Sollte der Rettungsversuch gelingen, wie es Tinas Traum prophezeit hatte, würden sie vieles von dem, was sie besorgt hatten, nicht brauchen. Aber falls der Explorer in den Bergen eine Panne hatte oder sich irgendein anderes Hindernis auftat, mussten sie vorbereitet sein.
Elliot kaufte auch hundert Schuss Hohlspitz-Munition für die Pistole. Die war keine Vorsichtsmaßnahme gegen das Unvorhergesehene, sondern schlicht kluge Planung für den Ärger, den sie mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen konnten.
Vom Sportladen aus waren sie aus der Stadt und nach Westen in Richtung Berge gefahren. Auf einer Raststätte an der Interstate hatten sie sich umgezogen. Elliot trug nun einen grünen Skianzug mit weißen Streifen, Tina einen weißen mit grünen und schwarzen Streifen. Sie sahen aus wie zwei Skifahrer, die zu den Pisten unterwegs waren.
Als sie die eindrucksvollen Berge erreichten, wurde ihnen bewusst, wie schnell sich die Dunkelheit über diese abgeschiedenen Täler und Schluchten legen würde, und sie hatten überlegt, ob sie weiterfahren sollten. Vielleicht wäre es besser, nach Reno umzukehren, sich ein anderes Hotelzimmer zu suchen und morgen früh frisch zu starten. Doch keiner von ihnen wollte es aufschieben. Vielleicht wären die späte Stunde und das schwindende Licht zu ihrem Vorteil. Vor allem fühlten sie sich beide, als hätten sie den richtigen Schwung, einen guten Lauf, und sie wollten das Schicksal nicht herausfordern, indem sie die Fahrt verschoben.
Jetzt waren sie auf der schmalen Landstraße, fuhren stetig bergan, während das Tal zu seinem Nordende hin abfiel. Schneepflüge hatten hier geräumt, sodass die Straße frei war bis auf einige Flecken, an denen festgefrorener Schnee Schlaglöcher auffüllte. Zu beiden Seiten türmte sich der Schnee anderthalb bis zwei Meter hoch.
»Jetzt kommt es bald«, sagte Tina, die zur ausgebreiteten Karte auf ihren Knien blickte.
»Ganz schön einsam hier, was?«
»Man hat das Gefühl, die Zivilisation könnte zerstört werden, während man hier draußen ist, und man bekäme nichts mit.«
Seit zwei Meilen hatten sie keine Häuser oder sonstigen Gebäude gesehen. Und seit drei Meilen waren sie keinem anderen Wagen mehr begegnet.
Die Dämmerung senkte sich über den Winterwald, und Elliot schaltete die Scheinwerfer an.
Weiter vorn erschien links eine Lücke in dem von den Pflügen aufgetürmten Schnee. Als der Explorer sie erreichte, bog Elliot ab und hielt an. Der enge, unwirtliche Weg führte in den Wald, war kürzlich geräumt worden, aber immer noch heikel. Er war kaum mehr als eine Spur breit, und die Bäume bildeten einen Tunnel über ihm, sodass fünfzehn bis zwanzig Meter weiter bereits Nacht herrschte. Der Weg war nicht geteert, auch wenn sich über die Jahre durch großzügiges Auftragen von Teer und Kies eine feste Oberfläche geformt hatte.
»Laut Karte suchen wir nach einem ›unasphaltierten, unbefestigten‹ Weg«, sagte Tina.
»Ich schätze, den haben wir gefunden.«
»Eine Art Wirtschaftsweg?«
»Sieht eher wie die Sorte Weg aus, die sie in diesen alten Filmen wählen, wenn sie zu Draculas Schloss wollen.«
»Tausend Dank!«, sagte Tina.
»Entschuldige.«
»Und es hilft auch nicht, dass du recht hast. Er sieht wirklich wie der Weg zu Draculas Schloss aus.«
Sie fuhren unter dem Dach schwerer immergrüner Äste weiter ins Herz des Waldes.