40
Der Hubschrauber folgte dem vereisten Fluss weiter nach Norden durch das schneegepeitschte Tal.
Beim Anblick der gespenstischen Winterlandschaft musste Alexander an Friedhöfe denken. Er hatte ein Faible für Friedhöfe und machte gern lange Spaziergänge zwischen den Grabsteinen. Solange er sich erinnern konnte, faszinierte ihn der Tod, wie er funktionierte und was er bedeutete, und er sehnte sich danach zu wissen, wie es auf der anderen Seite aussah – natürlich, ohne sich selbst auf die einseitige Reise dorthin begeben zu wollen. Er wollte nicht sterben, sondern es lediglich wissen
. Jedes Mal, wenn er persönlich jemanden umbrachte, hatte er das Gefühl, eine Verbindung zur Welt jenseits der hiesigen herzustellen. Und er hoffte, wenn er dies erst oft genug getan hatte, würde er mit einer Vision von der anderen Seite belohnt. Eines Tages würde er vielleicht auf einem Friedhof vor dem Grab eines seiner Opfer stehen, und die Person, die er getötet hatte, würde ihn sehen lassen, wie genau der Tod war. Dann würde er es wissen.
»Nicht mehr lange«, sagte Jack Morgan.
Alexander linste nervös durch das dichte Schneetreiben, in dem sich der Hubschrauber bewegte wie ein Blinder, der mit vollem Tempo in die endlose Dunkelheit rannte. Er berührte die Waffe in seinem Schulterholster und dachte an Christina Evans.
Zu Kurt Hensen sagte er: »Töten Sie Stryker sofort. Wir brauchen ihn nicht. Aber verletzen Sie die Frau nicht. Ich will sie verhören. Sie wird mir erzählen, wer der Verräter ist. Von ihr werde ich erfahren, wer ihnen geholfen hat, ins Labor zu kommen, und wenn ich ihr dafür jeden Finger einzeln brechen muss.«
Als Dombey in der Isolierkammer ausgeredet hatte, sagte Tina: »Danny sieht furchtbar aus. Auch wenn er die Krankheit besiegt hat, wird er wieder ganz gesund?«
»Das glaube ich schon«, antwortete Dombey. »Er muss nur aufgepäppelt werden. Wie gesagt, hier konnte er nichts bei sich behalten, weil er immer wieder infiziert und bis zum bitteren Ende getestet wurde. Aber ist er erst draußen, sollte er schnell wieder zunehmen. Aber da gibt es noch eine Sache …«
Tina versteifte sich, weil ein besorgter Unterton in Dombeys Worten mitschwang. »Was? Was für eine Sache?«
»Wegen der vielen Neuinfektionen hat er einen Flecken auf seinem Parietallappen im Gehirn entwickelt.«
Tina wurde schlecht. »Nein.«
»Aber anscheinend ist der nicht lebensbedrohlich«, ergänzte Dombey rasch. »Soweit wir es sehen konnten, ist es kein Tumor. Weder ein bösartiger noch ein gutartiger. Zumindest weist er keinerlei Tumormerkmale auf. Narbengewebe ist es auch nicht. Und kein Blutgerinnsel.«
»Was ist es dann?«, fragte Elliot.
Dombey fuhr sich durch sein lockiges Haar. »Die gegenwärtige Analyse besagt, dass es identisch mit normalem Hirngewebe ist. Was keinen Sinn ergibt. Aber wir haben unsere Daten hundertmal überprüft, und wir können keinen Fehler an der Diagnose entdecken. Außer dass sie unmöglich ist. Was wir auf dem Röntgenbild gesehen haben, ist uns völlig unbekannt. Also sollten Sie mit ihm zu einem Gehirnspezialisten gehen, wenn Sie ihn hier rausgeholt haben. Bringen Sie ihn zu einem Dutzend Spezialisten, bis Ihnen jemand sagen kann, was mit ihm ist. Der Fleck scheint nicht gefährlich zu sein, aber man sollte ihn im Auge behalten.«
Tina sah Elliot an und wusste, dass sie beide dasselbe dachten. Könnte diese Stelle in Dannys Gehirn mit seinen übernatürlichen Fähigkeiten zu tun haben? Waren sie durch das von Menschen gemachte Virus, mit dem er wiederholt infiziert wurde, aktiviert worden? Verrückt, doch es schien nicht weniger unwahrscheinlich, als dass er überhaupt erst dem Projekt Pandora zum Opfer gefallen war. Und soweit Tina es sehen konnte, war es das Einzige, das Dannys neue übernatürliche Kräfte erklärte.
Offensichtlich besorgt, dass Tina etwas erwähnen und Dombey auf die unglaubliche Wahrheit aufmerksam machen könnte, blickte Elliot auf seine Uhr und sagte: »Wir sollten von hier verschwinden.«
»Sie sollten einige Akten zu Danny mitnehmen«, riet Dombey ihnen. »Sie sind auf dem Tisch direkt am Ausgang – der schwarze Kasten mit den Disketten. Sie werden Ihre Geschichte untermauern, wenn Sie damit zur Presse gehen. Und bringen Sie es um Gottes willen bitte so schnell in die Zeitungen, wie Sie können. Solange Sie die einzigen Außenstehenden sind, die wissen, was geschehen ist, sind Sie in Lebensgefahr.«
»Das haben wir leider schon bemerkt«, entgegnete Elliot.
Tina sagte: »Elliot, du musst Danny tragen. Er kann nicht gehen, und für mich ist er zu schwer. Er ist zwar schrecklich mager, aber immer noch zu groß.«
Elliot reichte ihr die Pistole und ging zum Bett.
»Könnten Sie mir vorher einen Gefallen tun?«, fragte Dombey.
»Welchen?«
»Bringen wir Dr. Zachariah hier rein und nehmen ihm den Knebel ab. Danach fesseln und knebeln Sie mich im vorderen Raum. Ich werde sie glauben machen, dass er es war, der mit Ihnen zusammengearbeitet hat. Vielleicht könnten Sie es sogar in Ihren Gesprächen mit der Presse so darstellen.«
Verwundert schüttelte Tina den Kopf. »Aber nach allem, was Sie zu Zachariah über die Größenwahnsinnigen hier gesagt haben und wie wenig Sie mit bestimmten Dingen hier einverstanden sind, warum wollen Sie bleiben?«
»Mir bekommt das Leben als Eremit, und die Bezahlung ist gut«, erklärte Dombey. »Außerdem, wenn ich weggehe und einen Job in einem zivilen Forschungszentrum annehme, ist hier nur eine vernünftige Stimme weniger. Hier gibt es eine Menge Leute, die ihre Arbeit mit einem Sinn für soziale Verantwortung machen. Wenn die alle gehen, würde diese Forschung ganz Männern wie Tamaguchi und Zachariah überlassen werden, und es wäre niemand mehr da, der ein Gegengewicht bildet. Welche Art der Forschung würde dann wohl hier betrieben?«
»Aber wenn unsere Geschichte in die Zeitungen kommt, werden sie den Laden dichtmachen«, wandte Tina ein.
»Auf keinen Fall, denn die Arbeit muss getan werden. Das Kräftegleichgewicht mit totalitären Staaten wie China muss erhalten bleiben. Sie täuschen eventuell vor, uns zu schließen, doch das werden sie nicht. Tamaguchi und einige seiner engsten Helfer wird man feuern. Es wird eine große Umstrukturierung geben, und das ist gut. Falls ich sie also überzeugen kann, dass es Zachariah war, der Ihnen die Geheimnisse verraten hat, und meine Position hier schützen kann, werde ich vielleicht befördert und erhalte mehr Einfluss.« Dombey lächelte. »Zumindest bekomme ich mehr Geld.«
»Na gut«, sagte Elliot. »Wir machen es. Aber wir müssen uns beeilen.«
Sie brachten Zachariah in die Isolierkammer und nahmen ihm den Knebel ab. Er riss an seinen Fesseln und verfluchte erst Elliot, dann Tina, Danny und Dombey. Als sie die luftdichte Tür zu dem kleinen Raum hinter Danny schlossen, verstummten Zachariahs Fluche schlagartig.
Elliot benutzte das restliche Seil, um Dombey zu fesseln, und der Wissenschaftler forderte ihn auf: »Befriedigen Sie meine Neugier.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Wer hat Ihnen erzählt, dass Ihr
Sohn hier ist? Wer hat Sie ins Labor gelassen?«
Tina blinzelte. Ihr fiel nichts ein, was sie antworten könnte.
»Ist schon okay«, sagte Dombey. »Sie wollen denjenigen nicht verraten. Aber sagen Sie mir nur eines. War es einer von den Sicherheitsleuten oder vom medizinischen Personal? Ich würde gern denken, dass es ein Arzt war, jemand, der wie ich denkt und endlich das Richtige getan hat.«
Tina blickte zu Elliot.
Der schüttelte den Kopf: Nein.
Sie gab ihm recht, dass es unklug war, jemanden von Dannys besonderen Kräften wissen zu lassen. Die Welt würde ihn für einen Freak halten, man würde ihn begaffen und ausstellen wollen. Und sollten die Leute hier auf die Idee kommen, dass Dannys neue Fähigkeiten eine Folge seiner wiederholten Infektion mit Wuhan-400 seien, würden sie ihn wieder testen wollen. Nein, sie konnten keinem erzählen, was Danny tat. Noch nicht. Nicht, ehe Elliot und sie gründlich überlegt hatten, was solch eine Enthüllung für das Leben des Jungen bedeuten würde.
»Es war jemand vom medizinischen Personal«, log Elliot. »Ein Arzt hat uns reingelassen.«
»Gut«, sagte Dombey. »Freut mich, das zu hören. Ich wünschte, ich hätte schon vor langer Zeit den Mumm dazu gehabt.«
Elliot stopfte ein Taschentuch in Dombeys Mund.
Tina öffnete die äußere Tür.
Dann hob Elliot Danny hoch. »Du wiegst ja fast nichts, Junge. Wir müssen dich direkt zu McDonald’s bringen und mit Hamburgern und Pommes vollstopfen!«
Danny lächelte ihn matt an.
Mit der Pistole in der Hand ging Tina voran. In dem Raum nahe den Aufzügen lachten und redeten immer noch Leute, doch niemand betrat den Korridor.
Danny öffnete den Hochsicherheitsfahrstuhl und ließ ihn nach oben gleiten. Er hatte die Stirn gerunzelt, als würde er sich konzentrieren, aber das war auch das einzige Indiz, dass er irgendwas mit der Bewegung des Aufzugs zu tun hatte.
Oben waren die Gänge verlassen.
In dem Wachraum saß der ältere Sicherheitsmann noch auf seinen Stuhl gefesselt und geknebelt. Er beobachtete sie voller Wut.
Tina, Elliot und Danny gingen durch den Vorraum und hinaus in die kalte Nacht. Schnee peitschte ihnen entgegen.
Über das Heulen des Windes legte sich noch ein anderes Geräusch, und Tina brauchte einige Sekunden, um es zu erkennen.
Ein Helikopter.
Sie blinzelte in das Schneetreiben und sah den Hubschrauber über den Bergkamm am Westende des Plateaus kommen. Welcher Wahnsinnige flog bei diesem Wetter mit einem Helikopter los?
»Zum Explorer!«, rief Elliot. »Schnell!«
Sie rannten zum Wagen, wo Tina ihm Danny abnahm und auf die Rückbank hob. Dann stieg sie selbst ein.
Elliot sprang hinters Lenkrad und steckte den Zündschlüssel ein. Der Motor startete nicht gleich.
Und der Hubschrauber schwebte auf sie zu.
»Wer ist in dem Hubschrauber?«, fragte Danny, der durchs Seitenfenster starrte.
»Weiß ich nicht«, sagte Tina. »Aber das sind keine netten Leute, Baby. Sie sind wie das Monster in dem Comicheft. In dem, dessen Bilder du mir in meinem Traum geschickt hast. Sie wollen nicht, dass wir hier wegkommen.«
Danny blickte weiter zu dem Hubschrauber und runzelte abermals die Stirn.
Plötzlich sprang der Motor des Explorers an.
»Gott sei Dank!«, sagte Elliot.
Doch die Falten an Dannys Stirn blieben.
Tina begriff, was der Junge vorhatte, und sagte: »Danny, warte!«
George Alexander beugte sich vor, um den Explorer durch die gewölbte Scheibe des Hubschraubers besser sehen zu können. »Setzen Sie uns direkt vor ihnen ab, Jack.«
»Wird gemacht«, antwortete Morgan.
Zu Hensen, der die Maschinenpistole hielt, sagte Alexander: »Wie gesagt, Stryker wird sofort ausgeschaltet, aber nicht die Frau.«
Abrupt stieg der Hubschrauber nach oben. Er war nur noch fünf oder sechs Meter über dem Boden gewesen, ging jetzt jedoch rapide auf zehn, fünfzehn, zwanzig Meter.
»Was ist los?«, fragte Alexander.
»Der Schaltknüppel«, sagte Morgan. Ein Hauch von Angst lag in seiner Stimme, zum ersten Mal auf diesem Albtraumflug durch die Berge. »Ich kann das verdammte Ding nicht kontrollieren. Es ist eingefroren.«
Sie gingen auf fünfundzwanzig, dreißig, fünfunddreißig Meter Höhe, steil hinauf in die Nacht.
Dann verstummte der Motor.
»Was zum Teufel?«, rief Morgan.
Hensen schrie.
Alexander beobachtete, wie der Tod ihm entgegenraste, und wusste, dass seine Neugier auf die andere Seite in Kürze gestillt würde.
Als sie an dem brennenden Helikopterwrack vorbei von dem Plateau fuhren, sagte Danny: »Die waren böse. Ist schon in Ordnung, Mom. Sie waren richtig böse Menschen.«
Alles hat seine Zeit
, erinnerte Tina sich. Töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit
.
Sie hielt Danny dicht bei sich, blickte in seine dunklen Augen und fand keinen Trost in jenen Worten aus der Bibel. In Dannys Augen war zu viel Schmerz, zu viel Wissen. Er war immer noch ihr süßer Junge – dennoch war er verändert. Sie dachte an die Zukunft und fragte sich, was ihnen bevorstand.