Prolog
Die Dämonen kamen näher. Das heisere, bedrohliche Schnaufen wurde lauter und ging ihr unter die Haut.
Das untrügliche Zeichen der Macht an sich gepresst, flüchtete sie durch die Dunkelheit. Längst hatte sie die Orientierung verloren. Regen peitschte ihr ins Gesicht und brannte in den Augen. Der heftige Wind, der ständig die Richtung zu wechseln schien, machte ein Vorwärtskommen beschwerlich.
Eine leise innere Stimme befahl ihr, stehen zu bleiben und sich zu sammeln. Ihre kopflose Flucht führte zu nichts Gutem. Wo war der Ausgang, wo die stählernen Gitter, die das Grundstück umschlossen wie eine Festung? Keine Chance, es sich in Erinnerung zurufen; jetzt, wo die Dämonen auf sie losgelassen worden waren, gab es keine Zeit für rationale Überlegungen.
Verlier nicht dein Ziel aus den Augen! Es gibt keine Dämonen! Es gibt keinen Zauber, mit dem man dich bestrafen könnte! Es ist eine Welt voller Lügen, in der du lange gefangen warst – zu lange. Und nun hast du dich von allem befreit!
Die Stimme, die so beruhigend zu ihr sprach, gab ihr neue Zuversicht. Sie hielt inne. Mit klopfendem Herzen lauschte sie in die Nacht.
Nichts.
Nur ihr schneller, lauter Atem durchbrach die Stille, die sie umgab.
Sie beschirmte die Augen mit der Hand, um sich vor den wie spitze Nadeln auf ihr Gesicht prasselnden Regentropfen zu schützen, und versuchte sich zu orientieren. In einiger Entfernung glaubte sie die Umrisse des Tores zu erkennen, durch das sie zuvor hindurchgefahren worden war.
Zaghaft trat sie einen Schritt nach vorn, blieb aber sogleich wieder stehen. Plötzlich wurde ihr schwindlig. Die Regentropfen begannen vor ihren Augen zu tanzen, auf und ab. Leichte Übelkeit stieg in ihr auf.
Und plötzlich waren sie da, die Dämonen. Es gab sie doch!
Das grauenvolle Aufheulen hinter ihrem Rücken ließ ihren Puls nach oben schnellen. Sie glaubte, durch den Stoff der Hose hindurch heißen Atem zu spüren, rechnete jeden Moment damit, dass sich die Zähne der nach Blut lechzenden Bestien in ihr Fleisch schlugen. Ohne sich umzusehen, begann sie zu laufen, so schnell es der unwegsame Untergrund zuließ.
Wenn es aber die Dämonen gab, existierte auch alles andere! Dann waren sie doch mächtig, diejenigen, an deren Allmacht sie zuletzt gezweifelt hatte! Sie würden sie finden und bestrafen, vielleicht selbst dann, wenn sie sich in die Welt der Unwissenden
rettete.
Gib nicht auf!, befahl die Stimme in ihrem Inneren. Lauf! – Nichts davon ist wahr! Sie sind machtlos. –
Noch glaubte sie zu wissen, wo sich das Tor befand. Doch dann war es plötzlich verschwunden. Ihr Blick wurde unscharf; selbst die Konturen ihrer eigenen Füße konnte sie nicht mehr klar erkennen. Den rasselnden Atem der Dämonen hörte sie dagegen umso deutlicher. Sie scherte nach rechts aus, versank in weichem Erdreich, wollte weiter – doch ihr Fuß steckte fest. Von heller Panik ergriffen, zappelte sie sich frei. Erst nach ein paar Metern fiel ihr auf, dass sie den rechten Schuh verloren hatte.
Umkehr war keine Option. Sie hastete weiter, hinein ins unbekannte Dunkel. Tannenzweige peitschten ihr ins Gesicht. Die Schnalle ihres Umhangs verhedderte sich im Geäst und hielt sie Bruchteile von Sekunden lang fest. Sie hörte den Stoff reißen, als sie sich gewaltsam befreite.
Sie kam nur mühsam vorwärts. Bei jedem Schritt gab der
morastige Untergrund unter ihr nach. Am rechten Fuß drang Feuchtigkeit kalt durch ihre wollene Socke. Dann jedoch spürte sie wieder festen Boden unter sich und konnte schneller laufen. Die Erleichterung darüber war nur von kurzer Dauer. Der Erdboden wurde schmierig, brachte sie ins Rutschen. Sie versuchte das Gleichgewicht wiederzufinden und ihren Sturz aufzuhalten, doch stattdessen vollführte ihr Körper wie von selbst eine abenteuerliche Drehung.
Und plötzlich umschloss eisiges Wasser Beine, Corpus, Arme und Kopf. Wie von einem mächtigen Sog wurde sie in die Tiefe gerissen.
Der Schock ließ sie einen Moment lang klar denken. Wasser! Ein See! Das Adrenalin schoss ihr durch die Adern. Sie begann zu strampeln, kam an die Oberfläche, schnappte nach Luft. Zu wissen, dass sie nicht schwimmen konnte, steigerte ihre Panik. Wie wild ruderte sie mit den Armen. Eiskaltes, modriges Wasser strömte in ihren Mund, ließ sie spucken und würgen. Sie strampelte, tauchte auf, rang verzweifelt nach Atem. Dann spürte sie Grund unter ihren Füßen. Keuchend und unter größter Anstrengung schaffte sie es, sich ans Ufer zu schleppen.
Erschöpft blieb sie am Boden liegen, die Wange gegen den schlammigen Untergrund gepresst. War ihr kalt? – Sie wusste es nicht. Sie spürte nichts, schmeckte aber das Salz der Tränen, die sich mit den Rinnsalen mischten, die von ihren klatschnassen Haaren aufs Gesicht tropften. Als sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, war da Blut. Ihr Brustkorb schmerzte bei jedem Atemzug.
Ich kann hier nicht liegen bleiben.
Der Satz fraß sich in ihr Bewusstsein. Gleichzeitig zogen Bilder vor ihrem inneren Auge vorbei. Das Feuer. Die tanzenden Gestalten. Die dunkle Kammer. Müdigkeit ergriff von ihr Besitz. Obwohl sie flach dalag, schien sich um sie herum alles zu drehen.
Mit letzter Kraft rappelte sie sich auf. Sie wollte nicht sterben! Wozu sonst die Flucht?!
Doch der Schwindel zwang sie erneut in die Knie. Auf allen vieren robbte sie weiter, ohne sich sicher zu sein, wohin eigentlich, begleitet von der Gewissheit, dass sie jederzeit entdeckt werden konnte.
Und dann flammten sie plötzlich auf: zwei Lichter am Horizont, die sich näherten. Die glühenden Augen eines Dämons, größer als jene, deren rasselnden Atem sie ganz in der Nähe hören konnte.
Da begriff sie, dass es kein Entkommen gab.
Sie würde sie holen kommen, ihre Flucht als Verrat werten und sie dafür bestrafen.