Alkohol, Amore und Avancen
»… seit fünfzig Jahren eine gesunde, stabile Partnerschaft, die zahlreiche Höhepunkte zu verzeichnen weiß – kultureller, aber auch sportlicher Art. An Wettkämpfe und Begegnungen, die ganze Generationen geprägt haben, erinnern zahlreiche gerahmte Fotos an den Wänden unseres Rathauses.«
Liese Brauninger, Aichendorfs Erste Bürgermeisterin, stand auf der Tribüne der Begegnungshalle, einer zum Festsaal umgebauten Fabrikanlage hinter dem Bahnhof, und hielt seit zwanzig Minuten eine flammende Jubiläumsrede auf die Verbindung unserer niederbayerischen Marktgemeinde zu San Rosario, dem umbrischen Pendant. Dass allein die Begrüßung aller anwesenden Honoratioren ganze zehn Minuten gekostet hatte, ließ nicht auf ein baldiges Ende des offiziellen Teiles hoffen. Eine Dolmetscherin, die mit der achtzigköpfigen Delegation aus San Rosario angereist war, übersetzte zudem jedes Wort ins Italienische. Keine Frage, das auf der Einladungskarte angekündigte italienische Buffet würde ich mir hart verdient haben.
»Beginnen wir mit dem ersten Fußballturnier zwischen dem FC Aichendorf und dem SA Calcio Secondo im Jahre 1969. Damals gab es ja unseren tollen Sportplatz noch nicht, sodass diese legendäre sportliche Begegnung auf der Wiese vom Hinterdorfer Adi stattfand.«
Ein begeistertes Johlen erklang aus der hinteren Ecke des Saals, wo der örtliche Fußballverein an zwei großen Tischen Platz gefunden hatte. Während Liese Brauninger, die 1969 vielleicht eingeschult worden war, nun so lebhaft von dem Turnier berichtete, als wäre sie dabei gewesen, fragte ich mich zum wiederholten Male, wieso ich mich von ihr dazu hatte breitschlagen lassen, hier herumzusitzen. An den selbstgebackenen Keksen, die sie mir samt Einladungskarte in die Praxis geschleppt hatte, lag es jedenfalls nicht. Laut gesetzlicher Auflagen war bei Großveranstaltungen die Anwesenheit einer ausgebildeten notärztlichen Kraft verpflichtend, und Liese Brauninger sah in mir als niedergelassener Ärztin dieser Marktgemeinde dafür die optimale Besetzung.
Zufällig hatte ich dieses Notarztdiplom, frischte es auch regelmäßig auf – in erster Linie deshalb, weil die damit verbundenen Kurse immer besonders viele Fortbildungspunkte einbrachten. Genau die musste ich regelmäßig bei der Ärztekammer einreichen, um meinen Kassenvertrag zu behalten.
»Sie werden sich bestimmt amüsieren!«, hatte sie mir noch prophezeit, ehe sie glückselig aus meiner Praxis getanzt war. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich von eifrigen Saaldienern an einen Tisch in den Weiten der Begegnungshalle platziert worden war, hatte ich das tatsächlich auch noch vage gehofft.
Hinter mir lagen wenig erbauliche Monate. Vor rund einem Jahr hatte meine Ex-Partnerin Holly mit mir Schluss gemacht. Seither fühlte ich mich, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Zwar gelang es mir, das vor den Patienten gut zu verbergen, doch wer mich besser kannte, wusste inzwischen, wie es um mich stand.
Mein Onkel Gustav beispielsweise. Da wir uns sein Haus teilten und uns ständig über den Weg liefen, wurde er immer wieder Zeuge davon, dass ich meine Abende mit stumpfsinnigen US-Krimiserien verbrachte, anstatt unter Leute zu gehen. Selbst meinen besten Freund Jörg, Kriminaloberkommissar bei der Kripo im nahen Straubing, sah ich kaum noch.
Dafür legte ich Tabea in ausufernden abendlichen Telefongesprächen mein bis auf die Grundfeste zerrüttetes Seelenleben dar. Das kostete mich wahre Unsummen, da meine Schwester beruflich oft wochenlang in London, New York oder Singapur unterwegs war. Stress war Tabeas ständiger Begleiter, und wahrscheinlich lag darin auch der Grund, weshalb sie unsere Telefonate in letzter Zeit immer früher abbrach.
So blieb mir nichts anderes übrig, als mit meinen Emotionen alleine fertigzuwerden. Sport hätte mir vielleicht geholfen, aber ausgelaugt vom Praxisalltag, empfand ich zu Hause den Aufstieg in den zweiten Stock schon als anstrengend genug. Ein seit der Trennung erwachter Heißhunger hatte mir ein paar Kilo mehr auf die Rippen gebracht. Mittlerweile gab es in meinem Kleiderschrank kaum mehr eine Hose, die nicht spannte. Die elegante schwarze, die ich an diesem Abend trug, fühlte sich besonders eng an – und zwar noch vor dem Buffet.
Während Liese Brauninger jetzt zu den Leichtathletikwettkämpfen wechselte, die in den zurückliegenden Jahrzehnten zwischen den beiden Partnergemeinden ausgetragen worden waren, fühlte ich mich also fett und unglücklich. Obendrein missfiel mir die Anwesenheit einer schlanken brünetten Frau mit Kurzhaarschnitt. Dr. Katharina Habler, Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Scheidungs- und Familienrecht, war der Grund, weshalb Holly mir den Laufpass gegeben hatte.
Sehr erfolgreich war ich ihr in all den Monaten aus dem Weg gegangen. Und jetzt hockte sie da und flirtete ungeniert mit dem gutaussehenden Italiener im Maßanzug, dessen Tischkärtchen – welch ein Zufall – genau neben dem ihren platziert worden war.
Sie hatte mich nicht einmal begrüßt. Auch ich ignorierte sie – nachdem ich mich dabei erwischt hatte, hastig meine naturblonden, schulterlangen Haare glattzustreichen. Über sie hinwegzusehen war nicht leicht, denn ich saß ihr quasi gegenüber. Zum Glück sorgten die Ausmaße des Tisches, an dem insgesamt zwölf Leute Platz fanden, für etwas Distanz. Doch wann immer ich meinen Kopf nicht konsequent in die Richtung der Tribüne drehte, fiel mein Blick auf die schlanke Person, die mit diesem Mann herumschäkerte, als wären sie alleine auf der Welt. Immer wieder ließ sie sich von ihm großzügig Wein nachschenken.
»… und inzwischen insgesamt fünfundzwanzig Schüleraustausche mit dem Instituto Belgran di San Rosario , an denen bisher insgesamt rund dreihundert Schülerinnen und Schüler beider Gymnasien teilgenommen haben.«
Immerhin, die Sportveranstaltungen waren inzwischen abgehakt. Ich sah auf die Uhr. Halb neun. Seit eineinhalb Stunden saß ich bereits hier und musste Katharina in diesem körperbetonten schwarzen Cocktailkleid ignorieren, das für eine Veranstaltung dieser Art sowieso vollkommen übertrieben war.
Irgendwann spielte die örtliche Blaskapelle zum Prosit auf. Alle hoben ihr Glas – auch ich, obwohl ich mit Mineralwasser anzustoßen lächerlich fand. Aber was blieb mir übrig; ich war schließlich dienstlich hier.
Dann sprach Liese Brauninger salbungsvoll jene Worte, auf die offenbar der ganze Saal bereits begierig gewartet hatte, mich eingeschlossen: »Das Buffet ist eröffnet!«
Als hätte sie den Startschuss für ein Sprintduell zwischen Niederbayern und Norditalienern gegeben, stürzten nun alle in Richtung Tafel. Die jungen Leute vom Catering-Team, das extra aus Regensburg bestellt worden war, wurden ganz blass um die Nasen. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. Allein der Anblick von Karl Weller, unserem Ortssheriff, der sich wie ein ausgehungerter Stier einen Weg durch die Menge bahnte und dabei die Gemeinderätin der Grünen über den Haufen rannte, war verstörend.
Die Frauenbund-Vorsitzende und ein paar andere, die eingeklemmt auf der Bank gesessen hatten, erhoben sich und drängten an mir vorbei. Unser Tisch leerte sich, der italienische Maßanzug ließ seine Angebetete in Stich. Ich blieb sitzen. War man nicht bei den Allerersten, wartete man lieber, anstatt sich würdelos ins Getümmel zu stürzen. Die Leute standen inzwischen Schlange – von zwei Seiten. Mir war klar, dass es dauern würde, bis alle mit Essen versorgt waren. Im Saal herrschte ein ohrenbetäubender Geräuschpegel. Die Niederbayern standen den Italienern an Lautstärke um nichts nach. Zu allem Überfluss hatte jemand die Musikanlage aktiviert. Über Lautsprecher plärrte Adriano Celentano »Il tempo se ne va« in den Saal … inzwischen vergeht die Zeit. Wie treffend.
Für mich verging sie noch immer zu langsam. Ich angelte mir die Speisekarte vom Tisch. So konnte ich mich zumindest schon einmal einlesen, was für Köstlichkeiten mich erwarteten.
Auf dem Deckblatt prangten die bayerische und die italienische Fahne. Gespannt rückte ich meine schwarze Hornbrille zurecht und überflog die im Innenteil aufgeführten Speisen. Mein Magen begann zu knurren. Ich klappte die Karte energisch zusammen, schob sie zurück in die Mitte des Tisches – und hob dabei den Kopf. Sekundenlang starrte ich in Katharinas Gesicht. Ihr Mund formte sich zu einem amüsierten Lächeln, ihre grünen Augen blitzten belustigt. Zu allem Überfluss griff sie auch noch nach ihrem Weinglas und prostete mir zu.
Mein Vorsatz verpuffte. Ich sprang so schwungvoll auf, dass mein Stuhl fast umkippte, und flüchtete zum Buffet. Dort stellte ich mich ans Ende der Schlange, setzte ein betont gleichgültiges Gesicht auf und ärgerte mich im Stillen über die Frau, deren Anwesenheit mich noch mehr aus dem inneren Gleichgewicht brachte, als ich es derzeit ohnehin schon war.
Wie konnte sie das alles so unberührt lassen? – Ich gab mir die Antwort selbst: Zum einen, weil mein Seitensprung für sie keinerlei Folgen gehabt hatte. Katharina war Single. Sie amüsierte sich – sofern den Gerüchten im Dorf Glauben zu schenken war – mal mit diesem, mal mit jenem. Zum anderen, weil ihr die Beziehungen und Probleme anderer Leute völlig egal waren. Die Männer, mit denen sie Affären hatte oder zumindest gehabt hatte, waren allesamt verheiratet. Sie störte sich offenbar nicht daran. Dass Holly und ich wegen ihr getrennt waren, musste sie erfahren haben. Ich hätte mir gewünscht, dass sie zumindest einmal das Gespräch mit mir gesucht hätte … und einen Hauch von Reue zeigte, immerhin war meine Beziehung durch ihr Mitwirken kaputtgegangen, anstatt mich jetzt so provokant anzugrinsen.
»Hallo, Frau Doktor Hofmann! Schön, Sie zu treffen!«
Eine der beiden Teenies, die vor mir in der Schlange standen, streckte mir artig die Hand entgegen.
Vom Regen in die Traufe!, kam mir unweigerlich in den Sinn, während ich das junge Mädchen mit dem rotblonden Haar begrüßte. Vor mir stand niemand anderes als Anna Gärtner, Katharinas Tochter.
»Oh, hallo, was machst du denn hier?«
Das klang nicht sehr geistreich und fast schon ein bisschen unhöflich. Was hätte ich sagen sollen? Anna war meine Patientin, aber so selten krank, dass wir uns fast nie sahen.
»Ich bin doch Schülersprecherin. Außerdem haben wir einen italienischen Gast bei uns aufgenommen.« Sie zupfte ihre Begleiterin, die mir bisher noch den Rücken zugewandt hatte, am Arm. »Das ist Chiara Chiavelli aus San Rosario.«
Chiara Chiavelli war schlank und zierlich, aber, wie sich zeigte, kein Teenager mehr. Ihren Gesichtszügen und den kleinen Lachfältchen nach zu urteilen, ging sie schon auf die dreißig zu. Sie hatte lebhafte dunkle Augen und den Kopf voller Locken. Lediglich ihr für das schmale Gesicht viel zu großer Mund zerstörte das Bild einer italienischen Schönheit.
»Guten Tag.« Chiara reichte mir nun ebenfalls die Hand, während wir wieder einige Trippelschritte zum Buffet hin machten. »Oder Grüß Gott, wie man in Bayern sagt.« Sie hatte einen süßen italienischen Akzent, ihr Deutsch klang jedoch flüssig.
»Die Frau Doktor Hofmann ist auch mit Guten Tag einverstanden, sie ist nämlich nicht von hier«, wurde sie prompt von Anna aufgeklärt. »Deshalb spricht sie auch Hochdeutsch.«
Ich kam mir in diesem Moment vor wie eine Art Alien.
»Oh, Sie kommen aus dem Norden«, schlussfolgerte Chiara.
»Nein, aus München«, stellte ich trocken klar. »Aber für die hiesigen Eingeborenen ist alles, was nicht urbayerisch klingt, automatisch preußisch.«
Anna machte einen Moment lang ein Gesicht, als würde sie mir am liebsten den Hals umdrehen. Dass meine Worte sie unter der intellektuellen Gürtellinie trafen, lag auf der Hand. Wer Anna kannte und ihren Werdegang verfolgte – sie engagierte sich politisch, kulturell und wo immer sich Gelegenheit bot –, wusste schließlich, dass sie sich dem Provinziellen entwachsen fühlte und ihre Zukunft auf internationalem Parkett sah.
Chiara lachte nur – aus Höflichkeit, wie mir schien.
Irgendwann standen wir vor den Speiseplatten. Von den verheißungsvoll angekündigten Antipasti hatte uns die Meute etwas Mozzarella übrig gelassen, der in scharfem Balsamico-Essig lag, und ein paar Scheiben ölgetränkte gegrillte Auberginen. Die Spaghetti sahen so lasch aus, wie sie dann auch schmeckten, und aus den Fischresten, die es noch gab, spickten unzählige Gräten. Die Salatschüsseln waren allesamt leer. Lediglich bei den Desserts hatten wir noch volle Auswahl.
Mit einem mager befüllten Teller in der Hand plus zwei Bechern Tiramisu und einem Stück Torta di Mandorle begab ich mich zurück an meinen Platz. Während ich meiner Figur den Rest gab, war ich vor allem erleichtert, dass sich jetzt wieder alle am Tisch eingefunden hatten und ich zumindest nicht länger mit Katharina alleine dasitzen musste.
Gegen 22 Uhr begann sich der Saal zu leeren. Einige waren bereits nach Hause gegangen. Die meisten, die ihren Sitzplatz aufgegeben hatten, tummelten sich nun aber im Foyer, wo auf Pinnwänden eine Fotoausstellung zu »Fünfzig Jahre Partnerschaft Aichendorf & San Rosario« aufgebaut war. Einige weitere Attraktionen sorgten für Unterhaltung: Der lokale Schützenverein ließ Leute mit einem Tennisball auf Dosen werfen – das Schießen wie am Jahrmarkt war ihnen in der Halle nicht genehmigt worden. Eine Italienerin saß vor einer Töpferscheibe und zog aus einem Tonklumpen eine Vase nach oben; wer wollte, konnte es ihr gleichtun. Ein Imker aus dem Dorf verkaufte Honig und Kerzen. Aichendorfs einzige hauptberufliche Künstlerin bot Landschaftsaquarelle feil.
»Frau Doktor, Frau Doktor, Sie müssen unbedingt mitkommen, wir haben eine Hexe entdeckt!«
»Ja, und sie weiß alles! Sie kann in die Zukunft sehen.«
Liana und Luena Ionescu drängten sich um mich. Sie waren Zwillinge, dreizehn Jahre alt, und wegen ihrem Typ-1-Diabetes regelmäßige Besucherinnen meiner Praxis.
»Habt ihr auch italienische Gäste bei euch aufgenommen?«
Anders konnte ich mir ihre Anwesenheit nicht erklären. Ihnen bei dieser Partnerschaftsfeier zu begegnen, überraschte mich weit mehr als irgendeine angeblich hellsichtige Hexe.
»Nein, dafür ist doch unsere Wohnung zu klein«, belehrte mich Liana. »Und der Papa will das nicht«, ergänzte ihre Schwester. »Mama verkauft hier Lose, für die Tombola«, fuhr Liana fort. »Papa hat heute Schichtdienst, und weil wir nicht alleine zu Hause sein dürfen, mussten wir mitkommen.« Ein Blick in ihre leuchtenden Augen sagte mir, dass sich der Leidensdruck diesbezüglich in Grenzen hielt.
»Und jetzt kommen Sie mit uns zu der Hellseherin!« Luena zupfte erneut an meinem Ärmel. Ihre Wangen glühten vor Aufregung.
Ich gab mich geschlagen und ließ mich von den beiden vorbei an der Garderobe in die hinterste Ecke des Saals entführen, wo eine Frau, in eine Art Sari gehüllt, mit buntem Turban auf dem Kopf saß und mit gedämpfter Stimme auf Rita Wagner, die Vorsitzende des Turnvereins, einredete. Der Tisch war mit einer grünen, langen Tischdecke überzogen; rote und blaue Lampen säumten die Szenerie. Es roch intensiv nach irgendeinem Duft, den ich bisher nur in orientalisch angehauchten Läden in München wahrgenommen hatte, wo sie Räucherwerk, bunte Kleider und Tarot-Karten verkauften.
Ich stellte mich neben zwei Frauen, die gebannt an den Lippen der Wahrsagerin hingen, die Rita Wagner eine neue Liebe, mindestens ein Kind und ein eigenes Haus in Aussicht stellte. Dass die Wahrsagerin sich über die Vergangenheit der Turnverein-Vorsitzenden bestens informiert zeigte, war für mich keine Überraschung. Jeder im Dorf wusste, dass Rita Wagner sich vor Kurzem hatte scheiden lassen, sich sehnlichst Kinder wünschte und von einem verstorbenen Onkel einen Baugrund geerbt hatte. So viel also zum Thema Hellsehen. Rita und die Zuhörerinnen hatten trotzdem ihren Spaß. Als die Wahrsagerin nun in ihre Glaskugel starrte und darin den künftigen Ehemann der Wagner zu erkennen glaubte, war das Gekicher und Gejohle der Umstehenden groß. Allerdings war die Beschreibung so gehalten, dass sie auf jeden zweiten Mann im Saal gepasst hätte …
Trotzdem bedankte sich Rita überschwänglich bei der angeblichen Hellseherin, ehe sie den Platz frei machte.
»Jetzt kommt die Frau Doktor dran!«, rief Luena, und ehe ich mich weigern konnte, saß ich auch schon auf dem Stuhl und schaute in ein dunkel geschminktes Gesicht. Weder die Makeup-Schicht noch der schwarze Kajal konnten verbergen, wer hier vor mir saß: Veleda, Aichendorfs »Gegen-alles«-Aktivistin, die den von ihren Eltern geerbten Bauernhof in einen Esoterik-Tempel umgewandelt hatte und seither Selbstfindungsseminare für Frauen veranstaltete. Als dort im vergangenen Frühling ein schlimmer Magen-Darm-Virus einige Teilnehmerinnen niederstreckte, hatte ich das Vergnügen, sowohl die Hausherrin als auch den Hof kennenzulernen. Seither druckte sie meinen Namen auf die Esoterik-Folder, mit denen sie in München auf Kundenfang ging – unter der Rubrik behandelnde Ärztin im Krankheitsfall . Vermutlich sollte das mögliche Seminarteilnehmerinnen beruhigen. Bei mir hatte es den gegenteiligen Effekt: Ich war höchst beunruhigt von der Vorstellung, dadurch mit einem Haufen verwirrter Sinnsucherinnen in einen Topf geworfen zu werden. Allerdings hatte sie sich seither nicht mehr bei mir gemeldet, und ich brachte es nicht über mich, darum zu bitten, meinen Namen aus den Werbeflyern zu nehmen.
Minutenlang starrte mich Veleda nur aus großen, dunklen Augen an, ohne eine Miene zu verziehen. Ich hielt dem Blick stand, indem ich mich auf ihre eindrucksvolle Nase konzentrierte. Aichendorfs Esoteriktante hatte tatsächlich etwas Mystisches an sich. Dann machte sie eine ausschweifende Geste mit beiden Armen, murmelte Unverständliches vor sich hin – und riss plötzlich die Augen auf, als hätte sie den Teufel persönlich erspäht.
»Ich sehe … sehe große Aufregung, die bevorsteht!«
Ihre Stimme klang wie ein bedrohliches Donnergrollen. Die Glaskugel vor ihr begann rot zu leuchten.
Gebannt wartete ich ab, was da wohl noch kommen würde. Ihre Performance war wirklich beeindruckend.
»Ein Streit«, stieß sie hervor und vollführte wieder ein paar abenteuerliche Bewegungen mit ihren Händen. »Vielleicht auch … körperliche Auseinandersetzung! … Ich sehe Blut. Aber …« Sie machte eine vielsagende Pause und ergänzte in sachlicher Tonlage: »Sie werden es überleben.«
Na, da war ich ja beruhigt. Die bissige Frage, ob es dem anderen Part bei der körperlichen Auseinandersetzung auch so ergehen würde, lag mir auf der Zunge, doch Veleda hatte wieder in ihre Geisterstimme zurückgefunden und fuhr fort: »Ich sehe … eine Liebe. Noch ist sie zart wie ein Keimling, der gerade den Kopf aus der Erde streckt, doch sie wird größer … immer größer … wenn Sie es zulassen.«
Damit rutschte sie jetzt endgültig ins Reich der Fantasterei ab. Einen Streit hatte ich mir noch vorstellen können. Onkel Gustav und ich gerieten fast täglich aneinander, wenn es darum ging, die Küche sauber zu halten. Sein Ordnungssinn war noch weniger ausgeprägt als der meine.
»Sie können dieser Liebe auch nachhelfen.« Veleda näherte sich über ihre jetzt blau leuchtende Glaskugel hinweg meinem Ohr. Im Flüsterton, aber laut genug, damit das Publikum weiter mithören konnte, klärte sie mich auf: »Kleben Sie das Bild eines Drachens auf ein einfaches Holzstück. Zünden Sie eine Kerze an. Ritzen Sie zuvor den Namen Ihrer Liebe ins Wachs. Dann reiben Sie das Holzstück mit Patschuli-Öl ein und zünden Sie ein Räucherstäbchen an. Halten Sie das Holzstück über die Kerzenflamme und singen Sie zwölfmal den Namen der Person, nach der Sie sich sehnen. Und dann gehen Sie zu Bett.« Sie nickte, als würde sie sich ihre Worte selbst bestätigen müssen, und richtete sich wieder auf. Dann legte sie ihre Hand auf die Kugel. Das Licht im Inneren erlosch.
»Das war es.«
Die Hellseherin klang nun wieder ganz wie Veleda. Die Zuhörerschaft klatschte begeistert, allen voran die Zwillinge. Verdattert blieb ich auf meinem Sessel sitzen.
»Das war’s?«, wiederholte ich amüsiert. »Ich singe den Namen, gehe zu Bett … und dann? Fehlt da nicht das Happy End?«
Ein paar der Frauen, die sich um uns herum versammelt hatten, kicherten. Veleda machte eine Geste, als wolle sie eine lästige Fliege verscheuchen.
»Sie gehen zu Bett, und am nächsten Tag steht sie vor Ihrer Tür.« Sie sprach es aus, als läge die Lösung klar auf der Hand.
»So einfach ist das also«, erwiderte ich mit einem Schmunzeln. Und wie selbstverständlich sie von einer Frau sprach. Nun, meine Beziehung mit Holly, deren Mutter im Ort einen Teeladen führte, hatte ich niemals verheimlicht. Angefeindet war ich wegen meiner Homosexualität nicht geworden. Trotzdem taten sich einige im Dorf schwer zu akzeptieren, dass ihre Hausärztin nun einmal auf Frauen stand – auch wenn sie es nicht direkt aussprachen. Veleda gehörte eindeutig nicht dazu.
»Natürlich, was hatten Sie denn gedacht?«, konterte sie nun trocken. »Dass sie schon in Ihrem Bett liegt?« Sie schüttelte todernst den Kopf. »Nein, nein, der Zauber muss ja erst wirken!«
Veledas schauspielerisches Talent war wirklich beeindruckend. Die Frau war wie geschaffen für einen Auftritt auf dem Jahrmarkt. Ich grinste, räumte den Platz für die nächste, die über ihre Zukunft Bescheid wissen wollte, und suchte die Toiletten auf. Mit einem leisen Seufzer reihte ich mich in die Schlange, die sich vor den Kabinen gebildet hatte, als draußen am Gang lautes Geschrei erklang.
Es war ein heftiger Wortwechsel zwischen zwei Frauen. Die Wartenden vor mir tauschten bedeutungsvolle Blicke; eine, die am Waschbecken stand, kicherte verhalten. Als sie die Türe öffnete, um sich wieder ins Festgeschehen zu stürzen, drangen Wortfetzen an mein Ohr: »… peinlich!« – »… nichts an!«
Nun wusste ich, zu wem diese beiden Stimmen gehörten, und hastete nach draußen. Gegenüber der Toilettentüre lehnte eine leichenblasse Katharina an der Wand und starrte finster ihre Tochter an, die mit in die Taille gestützten Händen ein paar Schritte vor ihr stand. Eine Traube sensationslüsterner Menschen hatte sich vor den beiden gebildet, die stetig wuchs.
»Schau dich doch nur mal an«, giftete Anna, die völlig ausgeblendet zu haben schien, dass sie sich an einem öffentlichen Ort befand. Es war nicht ihre Art, sich derart zu exponieren; gewöhnlich gab sie sich überlegt und kontrolliert. »Du läufst hier herum wie ein Flittchen, und du bist schon wieder betrunken! Das ist widerlich!«
Tatsächlich waren die Träger von Katharinas Cocktailkleid über ihre Schultern herabgerutscht und hatten das luftige schwarze Kleidungsstück etwas tiefer sinken lassen. Der Ansatz eines dunklen Spitzen-BHs kam damit zum Vorschein. Am linken Unterschenkel breitete sich eine gewaltige Laufmasche aus. Der rote Lippenstift war verschmiert, genauso wie die Wimperntusche.
In gewisser Weise konnte ich Anna verstehen, trotzdem widerstrebte es mir, dass sie ihre Mutter hier so bloßstellte.
»Lass mich in Ruhe«, murmelte Katharina ohne Nachdruck und machte eine wegwerfende Handbewegung. Ihre Aussprache klang leicht verwaschen. Anders als Anna schien sie sich plötzlich ihres Umfelds bewusst zu werden. Sie richtete sich auf, zupfte ihr Kleid zurecht und sah sich suchend um, bis sie unter den Leuten einen Rettungsanker entdeckte.
»Giovanni, andiamo a ballare
Sie hakte sich bei dem Italiener unter, der bereits am Tisch an ihrer Seite gesessen war, und zog ihn in Richtung Saal, in dem die örtliche Blaskapelle jetzt Schunkellieder spielte.
»Cos’è stato? «, hörte ich den Italiener fragen. Was sie ihm zur Antwort gab, war nicht mehr zu verstehen.
Anna schaute den beiden nach. Ihre Nasenflügel bebten, die Unterlippe zitterte. Sie war sichtlich aufgebracht, doch in ihren Augen las ich weniger Wut als Enttäuschung und Schmerz.
»Anna, was ist denn los?«
Aus der Zuschauermenge löste sich ein bärtiger Mann mittleren Alters – ein Lehrer vom Aichendorfer Gymnasium, der sich allem Anschein nach um sie sorgte. Doch Anna winkte ab, ironischerweise mit der gleichen Geste, mit der zuvor Katharina Distanz geschaffen hatte. Dann hastete sie Richtung Garderoben davon. Die Zuschauertraube löste sich auf. Ich sah in ratlose, aber auch neugierige Gesichter. Die Aichendorfer versuchten sich auf das, was sie da erlebt hatten, einen Reim zu machen.
Ein paar schienen besser informiert als andere, wie mir ihr Getuschel verriet.
»Es heißt ja, dass die Anna adoptiert ist …«
»Ja, angeblich ist sie die Tochter von der Habler, aber die war wohl drogensüchtig, und da hat das Jugendamt ihr das Kind weggenommen.«
»Tragische Geschichte. Man kann nur hoffen, dass sie nicht nach der Mutter kommt.«
»Die Gärtners werden das schon verhindern. Haben sich ja immer gut gekümmert. Aber das gerade eben …«
Ich wandte mich ab. Schließlich kannte ich die ganze Wahrheit, hatte sie von Katharina persönlich gehört, und Drogen und das Jugendamt kamen in ihr nicht vor. Katharina war in einem Kinderheim aufgewachsen. Da sie selbst nur für eine kurze Zeit ihres Lebens Mutterliebe erfahren hatte, war sie überzeugt davon gewesen, nicht fähig zu sein, ihr eigenes Kind liebevoll zu umsorgen. Anna unmittelbar nach ihrer Geburt in die Hände ihrer besten Freunde zu geben, entsprach vor diesem Hintergrund der wohlüberlegten Handlung einer intelligenten Frau, die für ihr Kind das Beste wollte und wusste, dass sie es ihm selbst nicht würde bieten können. Das Geschwätz der Leute brachte mich daher nur auf. Ihre ehemals besten Freunde, korrigierte ich mich in Gedanken. Denn seit Anna von ihrer wahren Abstammung wusste, hatte es zwischen den Gärtners und der leiblichen Mutter einige Turbulenzen gegeben.
Im Foyer war Hellseherin Veleda dabei, ihr Equipment in einem großen Rollkoffer zu verstauen. Sie hatte den Turban abgelegt. Braunes, mit grauen Strähnen durchzogenes Haar fiel über ihre hageren Schultern.
»Na, für heute ist wohl Schluss«, stellte ich plauderlaunig fest. »Wann geht es weiter? Am Volksfest?«
Veleda schloss den Koffer und blickte zu mir herauf.
»Sie können jederzeit kommen. Sie wissen ja, wo ich wohne. Dann kostet es halt ein bisschen was. Schließlich ist das alles sehr anstrengend für mich.«
Ihr Tonfall war so ernst, dass mir das Grinsen verging. Wovon sprach die Frau da eigentlich? Es war doch alles nur Spaß gewesen, oder etwa nicht?
»Was genau ist denn daran anstrengend?«, hakte ich irritiert nach.
Da richtete sie sich auf und bedachte mich mit einem kurzen, prüfenden Blick. »Ich muss mich jedes Mal auf die Aura des Menschen einlassen, der vor mir sitzt, seine energetischen Schwingungen auffangen und analysieren. Das kostet Kraft.«
Ich nickte benommen, während mir bewusst wurde: Veleda glaubte wirklich an den Unsinn, den sie da verzapfte!
»Und wie viel verlangen Sie üblicherweise für Ihre … äh … Dienste?«
»Zwischen achtzig und hundert Euro pro Sitzung. Wenn Sie besonders viele Detailfragen an die Zukunft haben, auch dreißig oder fünfzig mehr. Nach dem fünften Besuch bei mir gibt es aber Rabatt«, erwiderte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich zog einen Vergleich zu dem, was ich als Ärztin für die Erstuntersuchung eines Kassenpatienten an Honorar bekam. Wahrsagen war eindeutig lukrativer als ein Medizinstudium.
»Irgendwie muss ich ja meine Ausbildung refinanzieren. Die Seminare waren wirklich nicht billig!«
Offenbar fühlte sie sich bemüßigt, ihre Preispolitik zu rechtfertigen. »Sie haben eine Ausbildung zur Wahrsagerin gemacht?« Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Dass Veleda immer schon einen Esoterik-Faible gehabt hatte, war allgemein bekannt. Aber dies war wohl die nächste Stufe kompletter Verblendung.
»Selbstverständlich, woher sollte ich es denn sonst können? Ich bin zertifizierte Hellseherin und Aura-Beraterin. Und bald habe ich außerdem noch ein Diplom in spirituellem Coaching!« Ihre noch immer dunkel geschminkten Augen leuchteten. Es war eindeutig, dass ihre Qualifikationen sie mit Stolz erfülltem.
»Eigentlich dachte ich bisher, Sie bieten selbst Seminare an«, warf ich ein.
»Das eine schließt das andere ja nicht aus«, bekam ich zur Antwort. »Sie als Ärztin müssen sich ja auch regelmäßig weiterbilden, oder etwa nicht? Genauso verhält es sich bei mir. Wer rastet, der rostet!«
Der Punkt ging an sie.
Ich sah auf die Uhr. Es war inzwischen weit nach Mitternacht. In Anbetracht der Tatsache, dass die Blaskapelle zu spielen aufgehört hatte und nur noch wenige Mäntel in der Garderobe hingen, sah ich meine ärztliche Anwesenheitspflicht für beendet. Ich ging zum Saal zurück in dem Vorhaben, mich von der Bürgermeisterin zu verabschieden. Statt In München steht ein Hofbräuhau s füllte wieder Adriano Celentano den Saal – diesmal in erträglicher Lautstärke. Ein paar Leute hatten die Bühne zur Tanzfläche umgewandelt.
Suchend ließ ich meinen Blick über die geleerten Reihen wandern. Er blieb prompt an Katharina hängen.
Aichendorfs Scheidungsanwältin Nummer eins saß mit einigen anderen an einem Tisch in der Saalmitte – besser gesagt, sie hing dort auf einem Stuhl und wäre wohl längst abgerutscht, wenn nicht der italienische Kavalier ihren Arm umklammert hätte. Auch er machte keinen besonders stabilen Eindruck mehr. Seine wulstigen Lippen näherten sich soeben Katharinas Hals.
»Oans, zwoa, gsuffa!«, unterbrach Georg Reif, Landwirt und CSU-Gemeinderatsmitglied, das abstoßende Schauspiel und hob seinen Maßkrug in die Höhe. Mit ihrer freien Hand tastete Katharina nach ihrem Glas. Ehe sie es an den Mund führen konnte, verschüttete sie bereits die Hälfte, was die Trinkgenossen um sie herum mit grölendem Gelächter quittierten.
Kaum war das Glas wieder abgestellt, versuchte der Italiener erneut, den Körperkontakt zu intensivieren.
»Lass mich! Non voglio !« Ihr bissiges Fauchen übertönte sogar die Musik. Die Blicke der Anwesenden auf sich spürend, ließ der angetrunkene Mann sie abrupt los. Katharina rutschte vom Stuhl und krachte auf den gefliesten Boden.
Mit ein paar Schritten war ich drüben und kniete mich neben sie. Zwischen ihrem Kopf und dem nach oben gestreckten Arm hatte sich eine rote Pfütze gebildet – Wein, wie ich zu meiner Erleichterung feststellte. Zerborsten war zum Glück nur das Glas, dessen Splitter nun quer über den Boden verteilt lagen.
Katharina schlug die Augen auf. Ihr Blick war glasig.
»Lass mich«, wiederholte sie. Bei dem Versuch, sich aufzurichten, fasste sie mitten in die Scherben.
»Ah …!« Ungläubig starrte sie auf ihre Handfläche, in der ein daumennagelgroßer Splitter steckte. Nach ein paar Schrecksekunden zog sie ihn heraus. Das Blut begann prompt zu fließen und lief den Arm entlang, von wo aus es auf ihr Kleid tropfte.
»Keine Sorge, Katl, die Frau Doktor ist schon zur Stelle!«, johlte der betrunkene Georg Reif unter beifälligem Grunzen der anderen Trinkgenossen, hob erneut sein Bierglas und schrie: »Ein Prosit! Ein Prosit … der Gemüüüütlichkeit!«
Der Italiener kniete nun auch am Boden und stammelte schuldbewusst: »Amore … amore … scusa …« Seine Alkoholfahne roch ich trotz des knappen Meters, der zwischen uns lag. Ich hatte genug.
»Wir gehen«, herrschte ich Katharina an und zog sie unsanft nach oben. Immerhin leistete sie keinen Widerstand, sondern ließ sich von mir stützen, während wir uns gemeinsam aus dem Saal bewegten. An der Garderobe stießen wir auf die Bürgermeisterin. In einen Pelzmantel gehüllt, der für Ende September etwas übertrieben war und sie älter aussehen ließ als die knapp sechzig Jahre, die sie zählen mochte, war sie gerade im Begriff zu gehen. Ihr Gatte hatte bereits den Autoschlüssel gezückt.
Als sie die blutende Katharina an meinem Arm erblickte, riss Liese Brauninger entsetzt die Augen auf. »Um Himmels willen, zum Glück sind Sie hier!«, rief sie theatralisch aus. »Siehst du, Helmut, wie gut, dass ich immer an alle Eventualitäten denke und zur Sicherheit eine Ärztin herbestellt habe.« Was sie ohne die gesetzliche Vorschrift wohl nie getan hätte, aber bitte.
»Bringen Sie sie ins Krankenhaus?«, erkundigte sie sich nun bei mir, während ihr Mann bereits unruhig auf der Stelle trat. Er sah hundemüde aus. »Sie muss doch sicher genäht werden!«
»Nicht ins … Krankenhaus!«, begehrte Katharina auf, wand sich aus meinem stützenden Arm und wäre beinahe wieder zu Boden gefallen, hätte ich sie nicht aufgefangen. Einen Moment lang standen wir Brust an Brust und sahen uns in die Augen.
Ein Kribbeln überzog meine Haut, und ein verheißungsvolles Ziehen in meinem Unterleib weckte Erinnerungen an die verhängnisvolle Nacht im Herbst vergangenen Jahres. Ich verstand mich selbst nicht: Katharina widerte mich in ihrem betrunkenen Zustand regelrecht an, dennoch reagierte mein Körper auf sie.
Ich trat einen kleinen Schritt zurück, stützte sie aber weiter.
»Ich bringe die Dame ins Bett«, erklärte ich spontan.
Katharina zog die Augenbrauen nach oben und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Doch erst das amüsierte Auflachen von Helmut Brauninger, der sein Kopfkino schließlich mit einem Hustenanfall tarnte, machte mir den Doppelsinn meiner Aussage bewusst. Aus rein ärztlichem Verantwortungsgefühl verzichtete ich darauf, die plötzlich wieder klar wirkende Katharina einfach ihrem Schicksal zu überlassen.
Ich zog meine Softshelljacke über und half ihr in den Mantel. Am Parkplatz steuerte ich zielstrebig auf mein Auto zu. Katharina strebte in die andere Richtung.
»Mein W…wagen steht um die … Ecke …«
»In deinem Zustand fährst du keinen Meter!«, schnauzte ich sie an. Mein autoritärer Tonfall verfehlte auch diesmal nicht seine Wirkung. Wenig später saß sie auf meinem Beifahrersitz.
Das Blut tropfte noch immer aus ihrer Hand. Ich opferte das Halstuch, mit dem ich mein dunkles Abendoutfit aufgehübscht hatte, um ihr einen Notverband anzulegen. Und um die hellen Sitze meines nagelneuen Skoda Octavia zu retten.
»Ich muss jetzt erst einmal eine rauchen«, informierte mich meine Patientin, kaum dass wir ihr Heim betreten hatten. Inzwischen wirkte sie verhältnismäßig nüchtern – wozu vielleicht auch die Kälte beitrug, die hier herrschte. In dem alten Gebäude, einem sogenannten Krüppelwalmdachhaus, gab es nur Ölöfen. Da offenbar nicht angeheizt war, behielt ich die Jacke an. Ohnehin hatte ich nicht vor, länger zu bleiben als nötig.
»Erst werde ich deine Hand verarzten, dann kannst du rauchen. Setz dich jetzt.«
Sie ließ sich tatsächlich auf ihrem extravaganten Sofa nieder und grinste anzüglich. Wieder fühlte ich mich unweigerlich an die Nacht erinnert, die meine Beziehung zu Holly beendete. Ein Brieföffner, Feuerzeug, ein Post-it-Block und diverse geöffnete Kuverts wurden mit großer Geste auf den Boden geschubst. Ordnung war nicht Katharinas Stärke. Auf ihrem Couchtisch zeugten zwei benutzte Weingläser und eine leere Flasche Merlot davon, dass sie Besuch gehabt hatte.
Wer da wohl wieder in die Gunst ihrer Freizügigkeit gekommen sein mochte, fragte ich mich und ärgerte mich gleichzeitig, weil mich das überhaupt beschäftigte. Ich trug großzügig Desinfektionsmittel auf, als ich die Wunde mit einem Wattebausch reinigte und mich vergewisserte, dass keine weiteren Glassplitter darin steckten. Dann legte ich einen Verband an.
»So. Fertig. Gute Nacht.«
Ich verstaute die Utensilien in meinem Arztkoffer und wollte gehen, doch sie griff nach meiner Hand und hielt mich zurück.
»Was?«, entfuhr es mir unwirsch, doch ein Blick in ihre erwartungsvollen Augen brachte mich zum Verstummen.
»Komm. Bleib noch. Lass uns noch was trinken.«
Ich entzog ihr die Hand.
»Du hattest für heute wahrhaftig genug, Katharina.«
»Dann lass uns eben nichts trinken, einfach nur reden …«
»Ich finde nicht, dass wir das tun sollten.« Meine Stimme klang sogar in meinen eigenen Ohren lahm.
»Ich fühl mich einsam, Gesine. Ich weiß nicht, wen ich sonst bitten könnte, mir zuzuhören.«
Mit hängenden Schultern saß sie vor mir. Die coole, leicht überhebliche Anwältin, als die sie sich sonst so gerne präsentierte, war verschwunden. Zu meinem Entsetzen löste sich nun eine kleine Träne aus ihrem Augenwinkel und rollte ihr über die Wange.
Damit hatte sie mich endgültig. Seufzend stellte ich den Arztkoffer ab.
»Na gut. Aber nur, wenn du den Ofen anzündest. Hier ist es eiskalt.«
Ein vages Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Im Schlafzimmer ist es warm.«
Mein Gesicht verfinsterte sich schlagartig.
»Danke, kein Bedarf.« Natürlich, ich hätte es wissen können! Menschen änderten sich eben nie. Ich griff nach meinem Koffer.
»Nein – du hast das missverstanden!« Katharina nahm ihn mir aus der Hand und stellte ihn außerhalb meiner Reichweite auf den Boden. »Ich will wirklich reden. Der Ofen hier funktioniert momentan nicht richtig; irgendetwas am Ölregler ist defekt … das Schlafzimmer ist der einzig warme Raum.« Als spürte sie, dass meine Skepsis noch immer nicht verflogen war, fügte sie hinzu: »Kein Sex … keine Sorge.«
Ich schüttelte resigniert den Kopf.
Im Schlafzimmer hatte sich seit meinem letzten Aufenthalt nicht wirklich viel verändert. Wie immer waren im ganzen Zimmer Klamotten verstreut. Der Schrank zeigte offen, dass kein Platz mehr darin war.
Katharina schälte sich aus ihrem Mantel. Als hätte sie meine Anwesenheit vergessen, legte sie Stück für Stück ihre komplette Kleidung ab und zog sich ein weites, bis zu den Knien reichendes Shirt über. Dann schlüpfte sie unter die Bettdecke. Den Kopf auf das Kissen gebettet, sah sie mich aus müden Augen an.
Die Luft war warm, aber auch stickig, ich verspürte Durst.
»Hättest du vielleicht doch ein Glas Wasser?«
»Mineralwasser ist im Kühlschrank.«
Da sie keine Anstalten machte, sich zu erheben, begab ich mich selbst in die Küche. Im Gegensatz zum Rest der Wohnung war sie aufgeräumt – nein, unbenutzt. Lediglich ein paar schmutzige Gläser standen auf der Arbeitsplatte zwischen Spülbecken und Herdplatte. Im Kühlschrank fand ich einen Joghurt, ein Päckchen Schafskäse und ein Glas Oliven, daneben Weißwein, Sekt und Champagner. Kein Mineralwasser.
Ein Schluck aus der Leitung täte es auch. Auf der Suche nach einem Glas öffnete ich den Küchenschrank. Sorgfältig gestapeltes Geschirr. Überrascht nahm ich den obersten Teller in die Hand. Bisher hatte ich Katharina nicht als eine Frau kennengelernt, die auf Tischkultur achtete. Ich wollte den Teller gerade wieder zurücklegen, als ich das Foto entdeckte, das unter ihm lag. Es zeigte eine etwas jüngere Anna mit längerem rotblonden Haar auf einem Fahrrad.
Neugierig hob ich auch den zweiten Teller an. Auch darunter lag wieder ein Foto – Anna mit schätzungsweise zwölf, dreizehn Jahren auf Inlineskates. Unter jeden Teller hatte Katharina ein Foto ihrer Tochter gelegt: Anna am Schreibtisch sitzend. Anna auf einem Klassenfoto. Anna mit einer Urkunde in der Hand. Anna vor einem Rednerpult.
Mit der Beklommenheit von jemandem, der in die Intimsphäre eines anderen Menschen eingedrungen war, schichtete ich alles wieder zurück. Hinter der nächsten Schranktür fand ich Gläser, füllte eines mit Leitungswasser und ging zurück ins Schlafzimmer.
Katharina hatte sich auf den Bauch gedreht. Ihre Augen waren geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Ich betrachtete die Schlafende eine ganze Weile und fragte mich, wie es dieser rätselhaften Person gelang, innerhalb weniger Stunden sämtliche Gefühle wachzurufen, die ich nur irgendwie zu fühlen fähig war: Wut, Ärger, Ekel, Mitleid, Sorge, Verbundenheit, Begierde – um nur einige davon zu nennen.
Gut, dass sie jetzt schlief. Miteinander zu reden, hätte eine gefährliche Vertrautheit geschaffen. Denn diese kaputte Frau war schlecht für mein Seelenleben. Sie rauchte, soff und stieg mit jedem ins Bett, der es darauf anlegte. Jede einzelne dieser Tatsachen stieß mich ab.
Erleichtert ließ ich schließlich die Wohnungstüre hinter mir ins Schloss fallen.