Kernseife, Kohlsuppe und klare Regeln
Noch ehe die Dämmerung hereinbrach, erfüllte ein dumpfer, metallener Ton den Saal und riss die Frauen aus dem Schlaf. Iris, die schon seit rund einer Stunde wach lag und den Beginn des Tages erwartete, beobachtete von ihrer Matratze aus, wie sich die anderen müde aus dem Bettzeug kämpften, sich steckten und den Schlaf aus den Augen wischten.
Iris. Der Name kam ihr inzwischen selbst fremd vor. Seit sie hier war, galt sie als Nummer eins. Noch nie war sie irgendwo die Nummer eins gewesen. Eins, das hörte sich wichtig an, nach jemandem, der an der Spitze der Reihe stand, einem, der bevorzugt wurde, der besser war als die anderen.
Die Meisterin und ihr Gefolge sprachen sie und die anderen Frauen mit Nummern an, bevor sie neue Namen erhielten. Sie waren angehalten, die Nummern auch untereinander zu benutzen – eigentlich. So ganz daran halten konnte sich keine, weshalb sie die Vornamen der anderen durchaus kannte.
Für Gespräche war es an diesem Morgen allerdings noch zu früh. Zudem sollten sie diese Woche mit Worten sparen. Unterhaltungen waren nicht ausdrücklich verboten, aber auch nicht erwünscht. Mit ihrer Energie zu haushalten, sei für ihre Ausbildung essenziell, hieß es.
Iris schloss sich den anderen Frauen an, die in ihren dünnen weißen Nachtgewändern schweigend durch das nur spärlich erleuchtete Treppenhaus ins Kellergewölbe schlichen. Die Kälte und die Düsternis im Untergeschoss des großen Hauses waren etwas, woran sie sich noch immer nicht gewöhnt hatte, genauso wenig wie an das eiskalte Wasser, das aus den alten Leitungen kam. Manchmal spielte sie mit dem Gedanken, das morgendliche Duschen einfach auszulassen, so zuwider war es ihr, sich splitternackt hinzustellen und zu warten, dass aus den rostigen Düsen an der Decke des weiß gekachelten Raumes das kalte Nass auf sie niederprasselte wie Starkregen.
Sie wusste, dass die Meisterin eine Weigerung nicht akzeptieren würde. Kaltes Wasser reinige die Seele und aktiviere ihre noch immer von der Ratio zurückgehaltenen Energien, würde sie sie erinnern. Wenn sie die Prinzipien zu ihrer Selbstheilung nicht befolgen wolle, könne sie auch gleich gehen.
Genau das wollte Iris auf keinen Fall, genauso wenig wie die anderen Frauen, von denen jede ihre eigene Geschichte hatte. Von einigen wusste sie, welche Schicksalsschläge sie ereilt hatten: Irmas Kinder waren bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen, während sie selbst nur kurz einkaufen gewesen war. Doro, mit ihren neunzehn Jahren die Jüngste hier, hatte vier Jahre lang auf der Straße gelebt. Gelegentlich erwähnte sie ihren gewalttätigen Ex-Freund. Ob er immer noch nach ihr suchte, wusste sie nicht genau. Sicher war sie sich aber darin, dass ihr derzeitiger Aufenthaltsort inmitten der niederbayerischen Felder und Wiesen ein super Versteck bot. Den Hof und den zugehörigen Grund umgab ein großer Stacheldrahtzaun, niemand konnte in ihre friedvolle Welt eindringen.
Im Vergleich zu ihren Mitschwestern – so lautete die offizielle Bezeichnung der Lernenden untereinander – hielt sich Iris mit ihrer eigenen Geschichte schon fast für privilegiert. Letztendlich war ihr ja nie etwas Schreckliches widerfahren. Die Probleme, mit denen sie sich herumschlug, entsprangen durchweg ihr selbst. In den Einzelsitzungen, in denen sie regelmäßig über ihr bisheriges Leben berichten musste, hatte die Meisterin ihr das klar vor Augen gestellt.
Während sie sich mit Kernseife und Naturschwamm abschrubbte, bemüht, nicht mit den Zähnen zu klappern, sagte sie sich, dass es ihr im Gegensatz zu früher doch wirklich gut ging. Das Dasein, das sie hier führte, bot einen geregelten Tagesablauf und Beschäftigung. Beim Studium war sie schon an der Zusammenstellung eines sinnvollen Stundenplans gescheitert; hier umfing sie alles klar und strukturiert.
Das begann schon bei der Aufteilung der Räume. Im Parterre lagen der große Saal, in dem sie einerseits meditierten, andererseits die Mahlzeiten einnahmen, die Küche und das Büro der Meisterin. Iris und die fünf anderen, die noch in der Grundausbildung waren, teilten sich den Schlafsaal im ersten Stock. Im zweiten wohnten die Erleuchteten: vier Frauen, die bereits die höchste Stufe und damit die Macht erlangt hatten, »die Geschicke der Organisation zu steuern«, wie es die Meisterin erklärt hatte. Was das genau bedeutete, hatte Iris noch nicht durchschaut. Sie kannte die Erleuchteten bisher nur als spirituelle Lehrerinnen.
Die Spiritualität, die hier vermittelt wurde und sie nahezu bei jedem Atemzug umfloss, tat ihr jedenfalls gut. Erstmals fühlte sie sich von ihrem Umfeld akzeptiert. In der Welt der Unwissenden
– so wurde das Leben fernab des entlegenen Hofes genannt – hatte sie sich den ganzen Tag den Kopf darüber zerbrochen, was andere wohl über sie dachten, was sie über sie reden mochten, ob sie sie sympathisch fanden oder nicht. Hinter jedem ausbleibenden Gruß und bei jedem verzogenen Mundwinkel vermutete sie einen Affront. Im Laufe der Jahre war sie mehr und mehr überzeugt davon, dass fast jeder negativ über sie dachte. Ihre Beziehungen zu Männern waren daran stets gescheitert. Selbst platonischen Freundschaften hatte sie aus Angst vor Ablehnung irgendwann keine Chance mehr gegeben.
Hier am Hof von Lumenaria
dagegen lebte sie in einer anderen, besseren Welt. Das leichte Lispeln, über das sich die Kommilitonen bei Referaten oft lustig gemacht hatten, ihre unreine Haut, ihre Schüchternheit spielten hier keine Rolle. Niemand hackte auf ihren Fehlern herum. Die Frauen, mit denen sie den Schlafsaal teilte, waren vollauf mit sich befasst.
Ihr selbst ging es nicht anders. Meistens war sie zu müde, um sich noch mit den anderen beschäftigen zu können. Der frühe Tagesbeginn, die viele Arbeit und die Lehrinhalte, in die sie sich vertiefen musste, erschöpften sie. Wenn gegen 22.30 Uhr nach der Großen Versammlung
die Nachtruhe eingeläutet wurde, fielen ihr die Augen zu, kaum dass sie sich auf der Matratze ausgestreckt hatte. Trotzdem war sie vor dem Gong wach. Seit sie vor vier Monaten in den Schlafsaal eingezogen war, schlief sie nicht mehr als fünf, fünfeinhalb Stunden. Zu wenig, um sich zu erholen. Aber es war, als stünde ihr Körper unter Strom.
Das Wasser wurde abgedreht. Kathleen, die Norddeutsche, die die erst vor einem Monat zu ihnen gestoßen war, stieß einen leisen Fluch aus. Ihr halblanges, blondes Haar war noch mit Seifenschaum bedeckt. Iris wusste, was ihr nun blühte: Sie würde den ganzen Tag mit der Seife im Haar herumlaufen müssen. Der eingetrocknete Schaum juckte entsetzlich. Nachts brannte die Kopfhaut, dass man den nächsten Morgen, an dem die Duschen wieder aktiviert würden, kaum erwarten konnte.
Zwei-, dreimal war es ihr auch passiert. Inzwischen wusste sie, wie lange das Wasser floss. Dass Kathleen es immer noch nicht im Gespür hatte, war für Iris nicht nachvollziehbar, wie so vieles andere an dem Neuzugang nicht.
Angeblich hatte Kathleen Biologie studiert – aber hier konnte sie sich nicht einmal die Zusammensetzung eines einfachen Kräutertees auswendig merken. Außerdem fragte die Dreißigjährige ständig, neugierig wie ein Kind. Oft waren es sehr persönliche Fragen. Wie hast du vorher gelebt, was hast du gemacht, glaubst du an Gott, hattest du schon früher Kontakt zu übersinnlichen Kräften … Iris hasste es, so ausgefragt zu werden, und antwortete nur ausweichend. Allerdings hatte sie es Kathleens Hartnäckigkeit zur verdanken, dass sie inzwischen doch so einiges über ihre eher wortkargen Mitbewohnerinnen wusste. Außer über Kathleen. Die Vielfragerin hielt sich, was ihr eigenes früheres Leben anging, erstaunlich bedeckt und verriet nur, dass sie vor ein paar Jahren wegen eines Freundes aus Norddeutschland nach München gekommen war.
Das steife Handtuch kratzte auf der Haut, als Iris ihren Körper
damit trocken rieb. Sie konnte fühlen, wie das Blut ihr heiß in die Adern schoss. Kurz musste sie sich an der felsigen Mauer abstützen. Neuerdings machte ihr der Kreislauf zu schaffen. Als sich das Schwindelgefühl gelegt hatte, schlüpfte sie in Hemd und Hose und warf den olivgrünen Umhang über, der zur Einheitskleidung der Frauen gehörte. Eilig band sie ihr noch feuchtes Haar nach hinten, legte das Kopftuch an und folgte den anderen in den Frühstückssaal.
Diesmal gab es Kohlsuppe – einen Schöpflöffel für jede. Dass Kathleen so auffällig das Gesicht verzog, ärgerte Iris. Wieso war sie hier, wenn sie allein schon die auf ihre Aura abgestimmte Ernährung ablehnte? Die Meisterin hatte ihnen doch genau erklärt, wie wichtig es war, ein ganzheitliches System zu befolgen, um die Energien in die richtigen Bahnen zu lenken.
Die Suppe schmeckte leicht versalzen, wie die meisten Speisen, die ihnen gereicht wurden. Doch Fylla, die hagere ältere Frau, die die Küche leitete, wirkte eher verhärmt als verliebt. Schweigend hantierte sie an den Töpfen. Möglich, dass die Frau ein Schweigegelübde abgelegt hatte.
Iris hatte die Schüssel kaum geleert, als erneut ein Gong ertönte. Es ging an die Arbeit.
Jeden Vorabend bekamen sie ihre Aufgaben zugewiesen. Iris würde gemeinsam mit Kathleen unter Fyllas Aufsicht Birnen einkochen. Insgeheim war sie froh, dass sie nach der gestrigen kräftezehrenden Pflückerei mit Irma und Doro in der warmen Küche arbeiten durfte. Zugegeben hätte sie dies jedoch nie – aus Angst, sich den Unmut der Meisterin zuzuziehen. Wenn sie sich jetzt nicht bewährte, würde sie vielleicht nie auserwählt
werden.
Stunden später, als sie neben Kathleen auf einem Hocker saß und eine Birne nach der anderen schälte, beneidete sie all jene, die etwas anderes tun durften, beispielsweise Doro, die beim Zusammenstellen der Kräutermischungen half, und selbst Ruth, die ehemalige Vorstandssekretärin mit dem stumpfen Blick, die Böden schrubbte, abstaubte und die Betten im Schlafsaal frisch bezog. Iris’ Hände waren inzwischen rau, fleckig und mit kleinen Schnitten übersät. Zudem schienen die Birnen nicht weniger zu werden. Kaum hatten sie einen Korb geleert, schleppte Fylla bereits den nächsten an.
Anfangs hatte sie immer wieder ein Schnitzchen genascht, sobald Fylla mit einer Wanne geschälter Früchte nach nebenan in die Küche verschwand. Vermutlich wurde die Nascherei von den Erleuchteten nicht gern gesehen, weil es ihre Energien stören konnte. Allerdings waren die Mahlzeiten sehr knapp bemessen. Und sosehr sie sich auch Mühe gab, dem vorgesetzten Ernährungsplan zu folgen, so vehement knurrte ihr Magen.
Jetzt drückten die Birnen, ihr Magen gurgelte beunruhigend. Von der vielen Fruchtsäure war ihr ganz flau. Sie fragte sich, ob es Kathleen wohl ähnlich ging wie ihr, mied aber deren Blick. Anfangs hatte sie noch gelegentlich zu ihr hinübergeschaut, doch Kathleen hatte immer wieder provokativ die Augen verdreht und Gesichter in Fyllas Richtung geschnitten. Iris fürchtete, dass der Küchenfrau dies nicht auf Dauer verborgen bliebe, und wollte sich nicht deren Ärger zuziehen.
»Na, noch immer nicht fertig?«
Bryndis, die Meisterin, stand vor ihnen und bedachte sie mit einem stechenden Blick, nachdem sie mit Stirnrunzeln die vier prallvollen Körbe wahrgenommen hatte, die noch zum Schälen bereitstanden. Die kleine, drahtige Frau mit dem bis zu den Schultern reichenden Haar besaß keine besonders freundliche Ausstrahlung. Im April, als Iris sie kennengelernt hatte, war ihr Urteil noch anders ausgefallen. Damals war sie von der aufmerksamen Art und Weise, mit der die ältere Frau auf sie einging und ihr zuhörte, sogar recht angetan gewesen. Der Schritt, sich für immer Lumenaria
anzuschließen, war auch deshalb nur ein winziger gewesen. Ohne Job, ohne Wohnung und mit dem irgendwie versandeten Studium hatte sie sowieso nichts zu verlieren.
Mittlerweile wusste sie, wie hart und unerbittlich die Meisterin auf Verfehlungen reagieren konnte – beispielsweise, wenn jemand die Zehn Gesetze zur Erleuchtung
nicht flüssig aufsagen konnte oder gegen die Hausordnung verstieß. Iris war dennoch bereit, alles zu ertragen, denn jeder Tag brachte sie ihrem Ziel näher: Als Erleuchtete
würde sie endlich über den Dingen stehen, mit sich im Einklang sein. Nie mehr einen Gedanken darüber verlieren, ob andere sie mochten oder akzeptierten.
»Beeilt euch«, fuhr die Meisterin sie jetzt in ihrer unerbittlichen Art an, die sie an den Tag legte, seit Iris ihre Unterschrift unter den Vertrag gesetzt hatte – jenen Vertrag, mit dem sie bestätigte, sich an die Anweisungen und Regeln der Organisation zu halten. »In einer Stunde beginnt die Meditation. Ich wünsche nicht, dass ihr zu spät kommt.«
Die Meisterin ging in die Küche. Iris hörte sie etwas zu Fylla sagen. Dann schloss sich die Tür, die von der Küche aus auf den Gang führte. Weder das Klappern von Töpfen noch das leise Quietschen des Wasserhahns am Spülbecken drang noch zu ihnen. Offenbar waren Fylla und Bryndis gegangen.
Obwohl ihr Magen noch immer rebellierte, schob Iris sich ein weiteres Stück Birne in den Mund. Die Kohlsuppe am frühen Morgen hatte nicht lange vorgehalten, aber nie würde sie sich das anmerken lassen. Es stand zu viel auf dem Spiel.
»Mach du alleine weiter.« Kathleen legte das Messer zur Seite. »Ich muss diesen Seifenschaum loswerden. Das fängt allmählich an zu jucken.«
Iris warf ihr einen ängstlichen Blick zu. Nicht nur, dass Kathleen gegen die Regeln verstieß – wie sollte sie alleine bis in einer Stunde die restlichen Birnen bewältigen?
»Ich glaube nicht, dass das im Sinne der Meisterin ist«, wandte sie vorsichtig ein. »Das Wasser beim Duschen ist begrenzt, weil wir was lernen sollen. Du hintergehst die Lehre, wenn du eigenmächtig handelst.«
Dass Kathleen sie quasi zwang, das aufgetragene Schweigen zu durchbrechen, war ein weiterer Punkt, der ihr missfiel. Wenn die Meisterin davon erfuhr, würde sie womöglich denken, dass sie auf Kathleens Seite stand und ebenfalls bereit war, gegen die Regeln zu verstoßen. Das durfte nicht sein.
»Die gute Bryndis dreht das Wasser ab, weil sie eine Sadistin ist, nicht, weil wir dadurch etwas lernen sollen. Ich wüsste zudem nicht, was.« Kathleen schnaubte. »Und überhaupt – wenn du die Klappe hältst, wird niemand mitkriegen, dass ich kurz mein Haar nebenan im Spülbecken auswasche. Zum ersten Mal macht dieses entsetzliche Kopftuch für mich Sinn.«
»Aber Kathleen! Die Meisterin weiß doch sowieso alles.« Iris konnte nur den Kopf schütteln über die Neue. Unglaublich, wie naiv diese Frau nach vier Wochen noch war! Sie wirkte rebellisch und brauchte ewig, um sich in die Gemeinschaft einzufinden. »Auch, was wir tun, wenn sie nicht anwesend ist.«
Kathleen stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. »In deinen Gedanken vielleicht. – Himmel, Iris, wir beide sitzen hier mutterseelenallein im Zimmer. Woher bitte soll Bryndis wissen, was wir tun? Du hast selbst gesehen, dass sie gerade gegangen ist!«
»Sie muss nicht räumlich anwesend sein, um zu sehen, wenn wir gegen Regeln verstoßen.« Iris wusste nicht, was sie mehr störte: dass Kathleen die Meisterin beim Vornamen nannte, was nur den Erleuchteten erlaubt war, oder ihre frevelhaften Worte. »Sie weiß auch so, was in uns vorgeht!«
»Klar, Bryndis ist omnipräsent«, unüberhörbarer Sarkasmus schwang in Kathleens Stimme. Mit ungläubigem Gesichtsausdruck fügte sie hinzu: »Sag mal – du glaubst doch den Unsinn, der uns hier erzählt wird, nicht wirklich?«
»Als Meisterin empfängt sie ihr Wissen vom Lichtwesen
«, erläuterte Iris. »Und das Lichtwesen sieht zu jeder Minute, was wir tun.« Sie zog es vor, nicht auf Kathleens Lästerei einzugehen. Das Lichtwesen sollte keinen Grund haben, Schlechtes von ihr zu berichten.
»Wie auch immer.« Kathleen erhob sich. »Glaub, was du willst. Ich bin dann mal weg.«
»Aber das Lichtwesen wird es der Meisterin erzählen und dich … uns beide … bestrafen«, warf Iris ein in der Hoffnung, die Gefährtin doch noch umstimmen zu können. Ein Blick in Kathleens amüsiertes Gesicht verriet ihr, wie wenig ernst die hochgewachsene Blondine sie nahm. »Erinnere dich, als jemand neulich in der Nacht Irmas Umhang zerschnitten hat«, mühte sie sich weiter. »Die Meisterin wusste sofort, dass Gitti dahinter steckt! Und warum? Weil das Lichtwesen es ihr berichtet hat!«
Kathleen schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Wenn das Lichtwesen und Bryndis nichts anderes zu bereden haben als das, was wir den lieben langen Tag tun, bezweifle ich stark, dass die
beiden selbst an das glauben, was sie hier verzapfen. Man sollte ja meinen, sie hätten hoch Spirituelles zu bereden, nicht all diesen irdischen Kram«, bemerkte sie bissig. »Außerdem: Wie blöd bist du eigentlich? – Dass Gitti dahinter steckte, war uns doch allen klar! Erstens konnte sie Irma nicht ausstehen, zweitens war die doch irgendwie … gaga, im pathologischen Sinn! – Warum, meinst du, wurde sie danach wohl weggeschickt? Weil die Frauen vom Inneren Kreis
erkannt haben, dass sie mit ihrer psychischen Erkrankung überfordert sind! Weil sie gemerkt haben, dass Gitti nur Ärger macht!«
Iris schwieg betroffen. »Sie wurde weggeschickt, weil sie nicht das Zeug dazu hatte, eine Erleuchtete zu werden«, brachte sie gepresst hervor. Genau das war es schließlich, was sie und alle anderen im Schlafsaal anstrebten: eine Bewusstseinsebene zu erreichen, in der Äußerlichkeiten, Konsum und materielle Güter belanglos waren und in der es einzig und allein um mentale Kraft und Stärke ging. Als Erleuchtete würde sie auch andere Menschen auf den richtigen Weg führen können – so, wie die Meisterin es derzeit mit ihnen tat. Sie würde endgültig über den Unwissenden
stehen. »Gitti hätte niemals die Prüfungen bewältigt, und das hat die Meisterin erkannt. Sie war nicht fähig, zu lernen. Sie hat sich nicht genug angestrengt, die nächste Stufe zu erreichen. – Außerdem musste sie für die Sache mit dem Umhang bestraft werden.«
Kathleen ging jetzt direkt neben ihr in die Hocke und senkte die Stimme. »Ehrlich gesagt habe ich meine Zweifel daran, wie viele von uns die nächste Stufe erreichen werden. Ich glaube auch nicht, dass das der Zweck unserer Anwesenheit hier ist.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Iris empört, obwohl sie es eigentlich gar nicht wissen wollte. Dass Kathleen auch nicht die körperliche Distanz wahrte, die sie zueinander halten sollten, gefiel Iris genauso wenig wie ihre negativen Reden.
»Ob du es hören willst oder nicht: Wir sind hier nur die Arbeitsbienen, die das System am Laufen halten. Wir sind die, die Brennholz und Kräuter sammeln, die die Toiletten und Gemeinschaftsräume putzen, die in der Küche rackern und auch sonst alles erledigen, was den Erleuchteten keinen Spaß macht. Wir
übernachten im Schlafsaal, duschen kalt, essen Gemüse und wenn’s hochkommt, Kartoffeln … während Bryndis und ihre Vertrauten ganz sicher in komfortablen Einzelzimmern residieren, Fleisch und Kuchen spachteln und nichts anderes tun, als uns ein Riesenspektakel vorzuspielen!«
»Das ist nicht wahr!« Iris sprang auf. Was sie da alles an Lügen und Verleumdungen zu hören bekam, war nicht länger zu ertragen. »Wie kannst du so etwas behaupten? – Die Erleuchteten leben genauso wie wir! Das ist Teil der Lehre!«
»Du bist wirklich naiv!« Kathleen erhob sich ebenfalls und trat einen Schritt zurück. »Ich habe selbst gesehen, wie nachts ein VW-Bus in den Hof gefahren ist, aus dem ein Mann Fleisch ausgeladen hat! Fleisch! – Und Zucker. Beides ist nach den Ernährungslehren verboten, dennoch wurde es hier abgeladen und von Fylla und einigen anderen ins Haus getragen. Und jetzt weißt du auch, warum nur Fylla den Schlüssel zum Kühlhaus hat.«
»Weil sie die Köchin ist! Deshalb!«
Iris schrie fast, so sehr brachten Kathleens Worte sie auf.
»Glaub, was du willst. Aber wunder dich nicht, wenn du niemals die nächste Stufe erklimmst. Niemand tut das. Irma ist schon zweieinhalb Jahre hier, und wenn jemand die Worte der Meisterin inhaliert, dann wohl sie. Die macht alles, was Bryndis sagt. Trotzdem rückt sie keinen Zentimeter vor im System. Genauso wenig wie Ruth, Doro, du und ich.«
»Hör auf!« Iris warf das Messer auf den Boden und hielt sich die Ohren zu. Da Kathleen tatsächlich zu sprechen aufhörte, ließ sie die Hände nach kurzer Zeit wieder sinken.
»Marion!«, warf sie ihr trotzig entgegen. »Was ist mit Marion? – Sie hat die nächste Stufe erklommen, sie wurde auserwählt!«
Kurz bevor Kathleen zu ihnen gestoßen war, hatte die ernste Achtundzwanzigjährige mit dem mausbraunen Haar aus dem Schlafsaal ausziehen dürfen. Marion verweile nun an einem Ort des Wissens, hatten die Erleuchteten verkündet, und studiere die geheimen Schriften von Lumenaria
. Wenn sie in einigen Monaten wieder zurückkehrte, würde sie zu jenen zählen, die unter dem besonderen Schutz des Lichtwesens standen – eine Vorstellung, die
Iris dazu gebracht hatte, weiterhin brav Kohlsuppe zu löffeln. Dass eine von ihnen auserwählt worden war, bestätigte sie darin, sich in jeder Hinsicht noch mehr zu bemühen und die Regeln strikt zu befolgen, um bald denselben Weg beschreiten zu dürfen. Wer nach Jahren noch immer darauf warten musste, hatte sich gewiss irgendwann etwas zu Schulden kommen lassen oder war komplett talentlos.
Marion mit dem verschlossenen Gesicht war ihr nie wirklich sympathisch gewesen, doch hatte sie sich in der ersten Zeit als wertvolle Stütze erwiesen. Als Iris dazukam, war Marion schon zwei Jahre bei Lumenaria
. Sie kannte alle Regeln auswendig und ließ die anderen Frauen nie im Unklaren, was im Einklang mit den Lehren stand und was nicht.
Nach dem letzten Lumen
-Fest, das im Juli gefeiert worden war, sollte Marions Ausbildung zur Erleuchteten beginnen. Das ganze Festgeschehen – die Gesänge, die Tänze, die Zaubersprüche – hatte Iris enorm beeindruckt. Nahezu geblendet war sie gewesen, als für wenige Augenblicke sogar das Lichtwesen erschien – ein heller Lichtkegel am Ende des Raumes. Gesprochen hatte es an diesem Tag nicht zu ihnen. Ihre Seelen seien dafür noch nicht rein genug, beschied ihnen die Meisterin. Keine hatte jedoch daran gezweifelt, das das Lichtwesen über geheime Kräfte verfügte, sich ungehindert zwischen dem Diesseits und dem Jenseits bewegen konnte und alles über sie wusste. Noch in derselben Nacht war Marion dann in Klausur geschickt worden. Seither hatten sie die junge Frau nicht mehr gesehen.
Immerhin schien der Verweis auf Marion Kathleen zum Schweigen gebracht zu haben. Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Ich gehe jetzt nach nebenan und wasche meine Haare«, erklärte sie dann unvermittelt. »Sollten Bryndis, Fylla oder wer auch immer bei dir auftauchen, dann krieg wenigstens einen lauten Hustenanfall, um mich zu warnen!«
Augenblicke später vernahm Iris das Quietschen des Hahns und hörte Wasser rauschen. Sie griff nach der nächsten Birne und bemühte sich, die Geschwindigkeit zu steigern. Auf keinen Fall wollte sie riskieren, zu spät zur Meditation zu kommen!