Eine Tote, eine Entzückte und eine Besorgte
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als Oskar Gschwandtner mit den Hunden hinaus in den Nebel trat. Forsch liefen sie voran und wirbelten das feuchte Laub auf, das den von Eschen gesäumten Weg bedeckte. Plötzlich scherten sie aus, liefen nach links zu der Baumgruppe, die den Weiher von der schmalen Zufahrtsstraße zum Schloss trennte. Das ältere Tier verharrte abrupt, ohne Laut zu geben. Dann hob es den rechten Vorderlauf in abgewinkelter Pose an und starrte auf etwas, das vor ihm im Schnee lag. Der zweite und jüngere der beiden Magyar Vizsla schnupperte zunächst aufgeregt am Boden herum, scharrte dann kurz mit den Vorderläufen – und tat es schließlich seiner Mutter, der erfahrenen Jagdhündin, nach.
Gschwandtner blieb stehen, unschlüssig, ob er die zehn, fünfzehn Meter durchs hohe Gras waten und nachschauen sollte, was die Hunde seiner Dienstgeberin entdeckt hatten. Große Lust dazu hatte er keine. Ein aufgestöberter Hase, der angesichts der beiden Köter schockstarr am Boden hockte, war es nicht wert, mit nassen Hosenbeinen den Rückweg anzutreten.
Dann aber sah er ein grünes Stück Stoff zwischen den bräunlichen Grashalmen hervorblitzen, just an der Stelle, an der der Rüde gescharrt hatte. Mürrisch setzte Gschwandtner sich in Bewegung – und trat prompt auf einen harten Gegenstand. Mit spitzen Fingern angelte er eine leere Flasche aus der verwilderten Wiese. Das Etikett war feucht, aber intakt.
Wodka, eine Billigmarke. Ärger kam in ihm auf.
Diese verdammten Jugendlichen! Bereits im Sommer hatte er sie dabei erwischt, wie sie im vermeintlichen Schutz der Dunkelheit über den Zaun geklettert waren und am Teich Unfug getrieben hatten. Ihre Handys, die sie vor sich hielten wie Taschenlampen, und die glühenden Zigarettenspitzen hatten sie letztendlich verraten. Als er schließlich am Weiher angekommen war, vorsorglich das Jagdgewehr auf der Schulter, waren sie gerade dabei gewesen, trockene Äste für ein Lagerfeuer aufzuschichten.
Gebrüllt hatte er, einen Schrei getan, drohend wie Donnergrollen, und sie ergriffen die Flucht. Fünf Burschen waren es gewesen, kaum älter als sechzehn, wie er trotz Dunkelheit und Entfernung anhand ihrer Staturen zu erkennen glaubte.
Und nun waren sie anscheinend wiedergekommen, ausgestattet mit Hochprozentigem, um die Party fortzusetzen. Ihren Müll und anscheinend auch Kleidung hatten sie zurückgelassen. Dieses elende Pack!
Gschwandtner war bei den Hunden angelangt, erwartungsgemäß klebten ihm die Hosenbeine an den Waden. Sein anfänglicher Ärger schlug in Wut um. Energisch griff er nach dem Stoff und wollte ihn schwungvoll in die Höhe reißen. Stattdessen taumelte er, verlor das Gleichgewicht, fiel rücklings auf sein Gesäß und mitten in die nasse Wiese. Irritiert rappelte er sich auf und zog erneut an dem Fetzen – diesmal langsamer, vorsichtiger. Da spürte er etwas, was ihm sprichwörtlich das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war nicht nur irgendein Fetzen. Es war ein Fetzen mit einem Arm.
Oskar Gschwandtner, knapp sechzig Jahre alt und seit Jahrzehnten im Dienst seiner Herrschaft, zögerte keinen Augenblick. Er ging in die Hocke und teilte mit beiden Armen die Grashalme. Was er freilegte, bescherte ihm Schweißausbrüche und eine Gänsehaut zugleich.
Mit zittrigen Händen fischte er sein Handy aus der Tasche seines Parkas und tippte die Nummer der Polizei.
Tatsächlich hatte Kriminaloberkommissar Jörg Berger an diesem Samstag ein Schloss besichtigen wollen. Neuschwanstein nämlich. Sascha, sein um fünf Jahre jüngerer Lebensgefährte, hatte sich dies schon lange gewünscht.
Stattdessen stand er nun vor einem ganz anderen – einem, das mit dem märchenhaften Prunkbau des Bayernkönigs Ludwig II. nicht viel gemeinsam hatte. Schloss Dipolding an der Landkreisgrenze von Straubing-Bogen zu Regensburg präsentierte sich als relativ schlichter, fast schon baufällig wirkender Klotz, dessen graubraunes, von der Witterung sichtlich in Mitleidenschaft gezogenes Mauerwerk gellend nach Renovierung schrie. Das dreistöckige Hauptgebäude wurde von zwei heruntergekommenen Nebengebäuden gesäumt. Lediglich das Pförtnerhaus, das er bei der Einfahrt in den großen, von einer Ziegelmauer umgebenen Park passiert hatte, wirkte gepflegt.
»Im Moment lässt sich noch wenig sagen – außer natürlich, dass sie tot ist.« Sonja Ritter, die Gerichtsmedizinerin, kam auf ihn zu. Sie zog ihre Latexhandschuhe aus. Einer davon fiel zu Boden und wurde prompt von einer heftigen Böe erfasst, die durch den Park peitschte, Laub aufwirbelte und die alten Eschen bedrohlich ächzen und schwanken ließ. Als sie den Handschuh aus dem Gestrüpp geangelt hatte, fuhr sie fort: »Nach einer ersten vorsichtigen Schätzung würde ich sagen, der Tod ist zwischen ein und zwei Uhr früh eingetreten. Außerdem riecht sie nach Alkohol – was ja im Einklang steht mit der Wodkaflasche, die die Spusi im Gras gefunden hat.«
»Der Hausmeister hat die Flasche gefunden.« Jörg sah gedankenverloren zu dem älteren Mann mit schütterem Haar hinüber, der von seinem Kollegen Frank Furtner gerade verhört wurde. Ein Wochenende opfern zu müssen, weil im Landkreis ein Mord geschah, war ärgerlich genug. Aber zumindest hatte ihm der Dienstplan einen Mann an die Seite gestellt, der ganz nach seinem Geschmack war. Kommissar Furtner war blond, motiviert, intelligent und hatte gute Umgangsformen. All das konnte Jörg von Georg Obermeier, mit dem er gewöhnlich zusammenarbeitete, nicht behaupten. Zum Glück hatte man den wegen eines Rückenleidens für mehrere Wochen auf Kur geschickt.
»Die Flasche, das Mädchen … Gibt es Hinweise auf ein Sexualverbrechen?«
»Nein, bisher keine, aber das muss untersucht werden.«
»Ihr Unterleib ist unbekleidet.«
»Ja, aber es scheint, als habe sie sich selbst ausgezogen.«
Sonja Ritter betrachtete gedankenverloren die in die üblichen weißen Schutzanzüge gehüllten Mitarbeiter der Spurensicherung, die das Gelände durchkämmten.
»Die Bluse ist nass, nicht nur feucht. Das heißt, sie ist vermutlich ins Wasser gefallen. Der Weiher hat um die fünf Grad, und gestern Nacht lagen die Tiefstwerte nur knapp über dem Gefrierpunkt, außerdem wehte auch da schon ein kräftiger Wind. Ich gehe davon aus, dass sie die nassen Klamotten einfach ausgezogen hat. Die Kollegen werden sie sicher bald finden.«
»Ausgezogen? Bei ein, zwei Grad?«
»Schon mal in triefender Kleidung bei ein, zwei Grad Lufttemperatur herumgesprungen?«
»Ähm … nein.«
»Eben. Ich schon, weil ich als Jugendliche mal im Eis eingebrochen bin.«
Jörgs Augen wurden groß. Sie winkte gleichgültig ab.
»Wie du siehst, habe ich das überlebt. – Aber ich kann dir versichern: Das Einzige, was du in dem Moment willst, ist, diese nassen, schweren, kalten Sachen loszuwerden.«
»Nur die Bluse, die hat sie nicht ausgezogen.«
»Vielleicht nicht mehr ausziehen können …«
»Weil sie währenddessen gestorben ist?«
Die Gerichtsmedizinerin hob die Schultern.
»Da müsste ich jetzt wirklich spekulieren. Kann sein … Grundsätzlich ist die junge Frau in keinem guten Zustand, aber das hast du ja selbst gesehen. Sie ist stark untergewichtig, wirkt blutarm … kurzum, weder kräftig noch gesund.«
»Ich frage mich, wie sie hierhergekommen ist.« Jörg dachte an seine eigene Anfahrt in diese dünnbesiedelte Ecke des Landkreises, die ihn auf nahezu unbefahrenen Sträßchen durch Wälder und Ackerland geführt hatte. »Schloss Dipolding liegt immerhin vier Kilometer vom nächsten Dorf entfernt.«
»Vier Kilometer kann man durchaus zu Fuß gehen.«
»Mitten in der Nacht, in – wie du sagtest – nicht sehr gutem gesundheitlichen Zustand?«
»Tja, sieht so aus, als hättet ihr noch eine Menge zu tun.« Sonja Ritter bedachte ihn mit einem mitleidigen Lächeln. »Mein Job hier vor Ort ist soweit erledigt. Du kannst das Opfer also für den Abtransport in die Rechtsmedizin freigeben.«
»Wann kriege ich die Detailergebnisse?«
»So bald wie möglich.«
Er sah ihr nach, wie sie zum Auto ging und übers Schlossgelände in Richtung Ausgang fuhr, in Gedanken bei dem neuen Fall. Als Erstes würde er mit den Bewohnern des Dorfes sprechen, das denselben Namen trug wie das Schloss – was sein Navigationsgerät erst einmal an seine Grenzen gebracht hatte. Dass das Mädchen nicht hier im Hause gewohnt hatte, war ihm bereits vom Hausmeister berichtet worden. Andererseits handelte es sich bei der Toten nicht um eine Dörflerin. Allein die Kleidung gab ihm Rätsel auf: Grüner Umhang, braune Hose, plumper Schuh. Fast wie vom Mittelaltermarkt. Auf der Straße wäre die Frau damit aufgefallen.
Einen Moment lang erschien das aufgebrachte Gesicht von Chiara Chiavelli vor Jörgs innerem Auge. Sie war außer sich gewesen, dass er unter den gegebenen Umständen nichts für sie tun konnte. Nun, vielleicht hatten sich die Umstände gerade geändert. Allerdings wäre das für die Italienerin alles andere alles erfreulich. Er gesellte sich zu seinem Kollegen, der gerade im Begriff war, die Handynummer des Hausmeisters zu notieren. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei uns. Umgekehrt werden wir es natürlich genauso halten.«
Die zwei Hunde lagen noch immer zu Füßen des Mannes. Zwei edle Tiere, ging es Jörg durch den Kopf, während er dem schmäleren kurz über den Kopf strich. Das Fell fühlte sich unter seiner Hand an wie Seide. Was ihn aber eigentlich beeindruckte, war weniger der gepflegte Zustand der Tiere als die Tatsache, dass sie keinen Mucks von sich gaben. Er wollte gerade eine anerkennende Bemerkung dazu äußern, als er einen dunkelblauen Skoda erblickte, der auf der kleinen Kiesstraße die Baumallee entlang in Richtung Schloss fuhr.
»Sie erwarten Besuch?«
Der Hausmeister kam nicht dazu, etwas zu erwidern. Der Wagen war jetzt nah genug, dass Jörg erkennen konnte, wer hinter dem Steuer saß. Die Fahrerin mit dem blonden Pferdeschwanz und der schwarzen Hornbrille war ihm gut bekannt.
Als sie auf seiner Höhe war, ließ sie das Autofenster herunter. »So eine Überraschung«, sagte Gesine Hofmann, sichtlich erfreut über das unerwartete Zusammentreffen.
»Das könnte ich auch sagen.« Jörg wies mit dem Kinn in Richtung des Sarges, der gerade zum Wagen getragen wurde. »Allerdings kommst du zu spät. Das Mädchen ist schon tot.«
Gesine hob die Augenbrauen.
»Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was los ist. Ich bin wegen der Hausherrin hier … Hirscheck-Lahn. Der Name kam von der Notrufzentrale. Ich habe dieses Wochenende Dienst. – Du, ich muss jetzt!« Sie wies auf das Schloss. »Wir telefonieren!«
Jörg ließ sie weiterfahren und gesellte sich wieder zu dem Hausmeister und Frank Furtner.
»Herr Gschwandtner, sagten Sie nicht, von der Herrschaft wäre niemand da? – Gerade höre ich, dass Frau Hirscheck-Lahn offensichtlich den Notarzt gerufen hat.«
»Hmm, ja.« Der Mann strich sich verlegen durch sein schütteres Haar. »Das ist nicht einfach zu erklären.«
»Man wächst bekanntlich an seinen Herausforderungen, Herr Gschwandtner. Fangen Sie doch einfach mal an, wir sind ganz Ohr!« Er bedachte den kleinen, drahtigen Mann mit einem unwirschen Blick. Als nichts kam, verstärkte er den Druck: »Dass die Hausherrin nicht längst hier bei uns im Park steht, wirft doch Fragen auf. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr dieses Polizeiaufgebot entgangen ist.«
»Sie verstehen das nicht!« Der Hausmeister wirkte nun fast ein wenig verzweifelt. »Frau Hirscheck-Lahn ist die ganze Zeit da … körperlich anwesend. Aber sie hält um diese Zeit ihre Séancen ab. Da darf man sie nicht stören. Und da bekommt sie auch gar nichts mit.«
»Ihre … was, bitte? Séancen?« Legte die Frau Karten?
»Das sind spiritistische Sitzungen«, ließ ihn Gschwandtner nicht lange im Unklaren. »Frau Hirscheck-Lahn ist ein Medium. Sie kommuniziert mit Geistern im Jenseits.«
Jörg war im ersten Augenblick zu perplex, um etwas zu erwidern. Furtner gab ein amüsiertes Glucksen von sich.
»Hören Sie … ich kann ja verstehen, wenn Sie das komisch finden.« Der Hausmeister trat verlegen von einem Bein auf das andere. »Aber die Frau Hirscheck-Lahn hat wirklich besondere Fähigkeiten. Es ist nicht immer alles wissenschaftlich erklärbar, was zwischen Himmel und Erde passiert.«
»Glauben Sie das wirklich?«
Jörg wurde von Neugierde ergriffen. Keine Frage: Die Frau, die mit Geistern sprach, musste er unbedingt kennenlernen. Während seiner Laufbahn im Polizeidienst waren ihm schon einige Spinner untergekommen. Ein selbsternanntes Medium würde sein persönliches Kuriositätenkabinett noch ergänzen.
»Die Dame des Hauses ist derzeit nicht vernehmungsfähig.«
Gesine kam die ausladende Treppe hinunter, kaum dass Jörg und sein Kollege gemeinsam mit Gschwandtner das Schloss betreten hatten. Das Gebäude wirkte von innen genauso marode wie von außen: Feine Rissen durchzogen das Mauerwerk, der gelbliche Anstrich weckte unangenehme Assoziationen, die Dielen knarrten bei jedem Schritt. Trotzdem, das über zwei Stockwerke reichende Foyer, an dessen Spitze eine relativ modern wirkende Kuppe aus Milchglas Licht ins Innere ließ, wirkte beeindruckend.
»Ist das deine ärztliche Expertise nach knappen zehn Minuten Untersuchung?«
»Das ist schlichtweg das Resultat des Beruhigungsmittels, das ich ihr verabreicht habe. Sie ist jetzt eingeschlafen. – Aber Martina Peschner, die Haushälterin, ist umso wacher. Ihr findet sie im ersten Stock.«
»Was fehlt ihr denn eigentlich?«
Gesine verdrehte die Augen und rückte sich den Pferdeschwanz zurecht. »Netter Versuch. Schon mal von Arztgeheimnis gehört? – Ich muss jetzt weiter, die Leitstelle hat mir einen Gichtkranken in Meierhofen aufs Auge gedrückt.«
Er sah ihr kurz nach, wie sie durch die breite Eingangstüre verschwand, dann wandte er sich an Gschwandtner.
»Die Existenz einer Frau Peschner haben Sie mir auch verschwiegen.«
»Sie haben bisher nicht nach einer Haushälterin gefragt.«
Der Punkt ging an Gschwandtner, auch wenn Jörg den Eindruck nicht loswurde, dass dessen Kooperationsbereitschaft noch optimierbar war.
Einige Minuten später saß er in einem salonähnlichen Zimmer, das ihn mit dem altertümlichen Mobiliar, kunstvoll gemusterten Tapeten und großen, von opulenten Goldrahmen gesäumten Wandgemälden unwillkürlich an die obligatorischen Schlossbesichtigungen seiner Schulzeit erinnerte. Ihm gegenüber saß eine sichtlich mitgenommene Frau Peschner. Die mollige, leicht untersetzt wirkende Haushälterin mochte fünfunddreißig, allenfalls vierzig Jahre alt sein. Ihr volles, dunkles Haar trug sie in einem Knoten; knapp hinter dem Stirnansatz saß eine weiße, offene Spitzenhaube. Im dunklen Kleid mit weißer Schürze, erfüllte sie jedes Klischee, das man mit einer professionellen Haushaltskraft verbinden konnte.
Jörg sah auf seine Armbanduhr.
»Frau Peschner, wir sind jetzt seit zweieinhalb Stunden hier auf dem Gelände. Hat Sie denn gar nicht interessiert, was draußen im Park vor sich geht?«
»Da hätte ich doch nur gestört, oder? Die Polizei soll man nicht stören, oder?« Ihre hohe Stimme hatte einen unangenehm schrillen Unterton. »Außerdem, ich konnte Madame doch nicht alleinlassen während der Séance! Und der Oskar hatte mich sowieso darüber informiert, dass da eine Tote liegt. Ich hätte da nichts Wertvolles beisteuern können, oder?«
»Sie … sind dabei, wenn Frau Hirscheck-Lahn ihre … äh … Sitzungen abhält?«
Frank Furtners Stimme war anzumerken, dass der Kollege Mühe hatte, ernst zu bleiben.
»Ja. Meistens.« Martina Peschner verzog keine Miene.
»Wie läuft denn so eine Séance ab?«, erkundigte Furtner sich interessiert.
Die Haushälterin sah zu Jörg herüber.
»Was hat denn das mit der Toten im Park zu tun?«
»Das wollen wir eben herausfinden. – Beantworten Sie doch bitte einfach die Frage meines Kollegen.«
»Ich denke nicht, dass ich befugt bin, über die Séancen zu sprechen!« Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sagt wer?«, hakte Furtner nach.
Als die Antwort ausblieb, fügte Jörg mit ruhiger Stimme hinzu: »Ich denke schon, dass Sie das sind. Aber wir können Sie natürlich gerne auch nach Straubing aufs Polizeipräsidium bitten und die Unterhaltung dort fortsetzen.«
Seine Andeutung verfehlte nicht ihr Ziel. Die Frau mit der Spitzenhaube straffte die Schultern. »Madame und ich sitzen hier.« Sie deutete auf einen kleinen Tisch mit Marmorplatte, der zwischen Sekretär und Vitrine stand. »Der Raum ist komplett dunkel. Nur ein paar Kerzen brennen.«
Erst jetzt fielen Jörg die schweren Vorhänge und die vielen Kerzenständer auf.
»Wenn Madame die Schwingungen empfangen hat, beginnen die Geister der Verstorbenen zu sprechen.«
»Und was sprechen die Geister denn so?« Jörg musste an sich halten. Furtner neben ihm hüstelte dezent in ein Taschentuch.
Die Haushälterin verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen. »Das geht jetzt wirklich zu weit! Das sind Vertraulichkeiten, die nicht für Dritte gedacht sind!«
Jörg sah ein, dass er hier nicht weiterkam. Letztendlich waren ihm die Geisterstimmen auch egal. Er hatte sich sein Urteil inzwischen gebildet. Es war besser, sich auf die Fakten zu konzentrieren, als sich in Wahnvorstellungen zu vertiefen.
»Wohnen Sie hier im Schloss?«
»Nur zeitweise.«
»Das heißt was genau?«
»Ich habe eine kleine Wohnung in Neutraubling, da bin ich gemeldet. Aber wenn Madame es wünscht, bleibe ich hier. Für eine Nacht, manchmal auch für mehrere Nächte.«
»Und wann wünscht … Madame … Ihre Anwesenheit?«
»Meistens, wenn der Herr nicht im Hause ist. Es ist einsam in so einem alten Gemäuer.«
Besonders, wenn man tagsüber mit Geistern spricht, lag es Jörg auf der Zunge. »Und der Herr des Hauses ist gestern nicht anwesend gewesen?«
»Nein, Herr Professor Hirscheck befindet sich derzeit im Ausland.«
»Das heißt, Sie haben die Nacht hier verbracht?«
»Ja. Aber ich habe nichts gesehen und nichts gehört! – Nichts Ungewöhnliches, meine ich. Alles wie immer.«
»Erzählen Sie es mir trotzdem.«
»Warum ist das denn wichtig?« Martina Peschner war nun sichtlich ungehalten. »Was hat diese tote Mädchen mit meinem Tagesablauf zu tun? Nichts, oder? Ich kann doch nicht wissen, wie und warum sie hierhergekommen ist, ich kenne sie nicht!«
»Was macht Sie da so sicher? – Sie haben die Leiche doch nicht gesehen, oder doch?«
Wieder verschränkte die Haushälterin die Arme vor der Brust. »Hier gehen keine jungen Mädchen ein und aus«, stellte sie klar. »Sie kann also nichts mit uns zu tun haben, oder? – Fragen Sie doch im Dorf. Sicher ist sie von dort. Das Anwesen übt seit jeher eine Anziehungskraft auf die Dipoldinger aus, besonders auf die Jugend. Die klettern immer wieder über den Zaun und streunen auf dem Gelände herum. Was weiß ich, warum. Es gibt hier doch nichts außer einem alten Haus und einem verwilderten Park, oder?«
Und eine verrückte Hausherrin, die mit Geistern spricht, ergänzte Jörg in Gedanken. Laut sagte er: »Erzählen Sie uns jetzt einfach von gestern Abend und der Nacht.«
Wenig später stand Jörg im Labor, wo die Spurensicherung die aufgefundene Kleidung ausgebreitet hatte. Eine mit Schmutz besudelte braune Leinenhose, ein mit Schaffell gefütterter, fleckiger olivgrüner Filzumhang und lehmstarre Lederschuhe, Größe 38.
»Kann man schon irgendetwas über die Herkunft dieser Sachen sagen? Stoffqualität, Fertigungsort, Preisniveau?«
Furtner, der sich schon etwas länger mit den Funden befasst hatte, schüttelte den Kopf. »Nichts, was uns weiterhilft. Ein Schuh steckte voll im Dreck, den hatte sie wohl verloren. Die Kleidungsstücke haben keine Etiketten. Beim LKA in München gibt es allerdings einen Textilexperten. Ich habe ihm angekündigt, dass wir ihm das Zeug zur Analyse schicken.«
»Na, toll.« Jörg seufzte resigniert. »Bin gespannt, wie lange das dann dauert. – Kann man zumindest über die Schuhe was sagen? Die sehen aus wie altmodische Wanderstiefel! Ich glaube, meine Oma hatte ähnliche im Keller …«
»Da bist du schon ziemlich dicht dran.« Furtner grinste. »Bei den Schuhen handelt es sich tatsächlich um Wanderschuhe, hergestellt zwischen 1965 und 1975. Die Schuhfabrik hat meiner Recherche zufolge 1982 geschlossen. Die Restposten wurden über sechs, sieben Wochen zu Schleuderpreisen abgestoßen. Laut dem damaligen Fabrikbesitzer gab es niemanden, der dieses Modell in Massen abgenommen hätte.«
»Daran kann der Mann sich erinnern? – Alle Achtung!« Jörg hob die Augenbrauen in gespielter Hochachtung.
»Nein, natürlich nicht, aber er hat damals die Daten von allen, die mehr als zehn Paare auf einmal abkauften, akribisch notiert und wollte diesen Händlern einen Nachkauf zu noch günstigeren Konditionen bieten, um das Lager leer zu kriegen.«
»In anderen Worten: Die Schuhe bringen uns auch nicht weiter.«
Jörg ging zurück an seinen Schreibtisch und betrachtete das Foto der jungen Frau, das ihm die Gerichtsmedizin mit einem ersten Bericht per Mail zugestellt hatte. Am Vortag, als sie halbnackt auf der Wiese gelegen hatte, war sie ihm jünger und gleichzeitig abgekämpfter vorgekommen als auf dem Bild. Irgendjemand aus dem Team der zuständigen Rechtsmediziner hatte sich die Mühe gemacht, die Tote fototauglich herzurichten. Jörg wusste das durchaus zu schätzen. Seine Suche in der Vermisstendatei war ergebnislos verlaufen. Möglicherweise würde er einen Aufruf über die Medien starten müssen, um sie zu identifizieren. Ein vorzeigbares Foto war hierfür essenziell.
Am Vortag hatte er die Tote auf maximal zwanzig geschätzt. Jetzt revidierte er sein Urteil. Allem Anschein nach war sie etliche Jahre älter. Während er zuerst nur das blanke Entsetzen in ihrem Gesicht wahrgenommen hatte, fiel ihm jetzt auf, wie ernst sie wirkte. Vermutlich hatte sie selten gelacht … vielleicht auch nichts zu lachen gehabt. Die verräterischen Narben an ihren Armen waren eindeutig: Die Unbekannte musste sich über Jahre regelmäßig geritzt haben. Selbstverletzendes Verhalten als Mittel, inneren Druck zu mindern – bei diversen psychologischen Kursen war das im Laufe seiner Ausbildung Thema gewesen.
Ein Rätsel gab hingegen die Zahl auf, die auf die Schulter der Frau tätowiert war. Eine arabische Eins, vier Zentimeter groß. Was mochte wohl dahinterstecken?
»Haben wir nun eigentlich einen echten Fall, oder ist die Tote einfach nur irgendeine betrunkene Herumtreiberin, die sich auf das Grundstück der Hirschecks verirrt hat?«
Frank Furtner war ihm ins Büro gefolgt und ließ sich auf dem Stuhl nieder, den Jörg für Besucher neben seinem Schreibtisch stehen hatte.
»Dem bisherigen Bericht der Gerichtsmedizin nach vermutlich Ersteres. – Unsere Unbekannte hatte null Komma acht Promille und eine ziemlich hohe Konzentration von Ephedrin im Blut.«
»Ephedrin? Das sagt mir gar nichts.«
»Keine Sorge, ich musste mich auch erst schlaumachen. – Ephedrin ist eine Droge, die ähnlich wie Amphetamin wirkt – also prinzipiell aufputschend. Bei Überdosierung und in Verbindung mit Alkohol kommt es aber auch zu Halluzinationen, Schwindelgefühl und Verwirrtheit.«
»Also war sie auf Drogen.« Furtner nippte nachdenklich an seinem Kaffee. »Was den Alkohol anbelangt: Mit knapp unter null Komma acht Promille ist man früher noch ganz legal Auto gefahren. So, wie die Frau gerochen hat, hätte ich mehr erwartet. Und die leere Wodka-Flasche spricht eigentlich eine klare Sprache.«
»Vielleicht eine zu klare Sprache. Laut Untersuchungsbericht ist ihr ein Teil des Wodkas post mortem eingeflößt worden.«
»Na, jetzt wird es aber interessant!« Furtner stellte den Kaffee so ruckartig auf Jörgs Schreibtisch ab, dass er beinahe über den Becherrand schwappte. »Wurde da ein Mord vertuscht?«
»Wobei sie laut Gerichtsmedizin an Herzstillstand gestorben ist«, stellte Jörg klar. »Und der könnte eine Folge der Kombi von Alkohol und Ephedrin sein.«
»Aber warum der Wodka …«
»… eine überflüssige Aktion, die nicht gerade für die Intelligenz des Mörders oder seiner Komplizen spricht.«
»Auf Schloss Dipolding hielten sich laut Aussage der Haushälterin nur die zwei Frauen und der Hausmeister auf.«
»Der Hausmeister fällt schon mal weg, denn der verbrachte die Nacht bei seiner Freundin in Regensburg und ist erst gegen sieben Uhr in der Früh wieder auf dem Anwesen eingetrudelt.«
»Und wir wissen noch nicht, wer die Tote ist?«
Ehe Jörg antworten konnte, klingelte sein Telefon. Der Pförtner kündigte eine Besucherin an.
»Nein. Nein, das ist sie nicht.«
Chiara Chiavelli gab Jörg das Foto zurück, nachdem sie es eingehend betrachtet hatte. »Die hat nichts mit Yvonne gemeinsam, nicht einmal die Haarfarbe!«
»Mit Verlaub – aber die Frau auf unserem Foto ist kahlköpfig«, wandte Jörg ein.
»Yvonne hat helle Augenbrauen. Sie ist blond, können Sie sich denn nicht erinnern? – Ich habe Ihnen bei unserem ersten Gespräch ein Foto von ihr gezeigt!«
Dunkel konnte er sich daran erinnern, dass er dem Abbild der angeblich Vermissten aufgrund der Rahmenumstände wenig Beachtung geschenkt hatte.
Als könnte Chiara seine Gedanken erraten, zückte sie ihr Smartphone und hielt es ihm unter die Nase. Auf dem Display stand die schwarzlockige Chiara mit den lebhaften braunen Augen neben einer Blondine, die wohl ein paar Jahre älter war als sie selbst. Das lange Haar fiel der jungen Frau lose über die Schultern. Sie sah unternehmungslustig und aufgeweckt aus, entsprach mit ihrem etwas zu spitzen Kinn und der Stupsnase aber nicht unbedingt dem gängigen Schönheitsideal.
»Woher kennen Sie sich eigentlich? – Ich meine: Sie haben bisher in Italien gelebt, Ihre Freundin Yvonne in Hamburg …«
»Über ein internationales Programm für journalistischen Nachwuchs«, lautete die prompte Antwort. »Yvonne hat ein Volontariat bei einem Boulevardblatt in Hamburg gemacht, ich bei einer Tageszeitung in Rom. Wir wurden … wie sagt man … getauscht? – Aber acht Wochen haben wir gemeinsam in einem Büro gesessen. So wurden wir Freundinnen.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Jahren. Aber wir haben uns immer wieder getroffen – mal in Italien, mal in Deutschland.«
»Ich dachte, Sie studieren Sozialpädagogik? Was ist mit Ihrer Journalistenkarriere?«
Chiara hob die Schultern.
»Es gibt zu wenig Stellen, besonders in Italien. Und alles so schlecht bezahlt. Ich habe gehört, in Deutschland werden viele Erzieher gesucht, also habe ich mir überlegt …« Sie ließ den Satz unvollendet, presste die Lippen aufeinander. »Ich hatte Yvonne das auch vorgeschlagen, aber sie hat immer noch an eine Karriere im Journalismus geglaubt … glauben müssen.«
»Wie meinen Sie das?« Die unbekannte Yvonne hatte zwar nichts mit der Toten in Dipolding zu tun, weckte nun aber doch Jörgs Interesse.
»Yvonnes Vater war vor seiner Pensionierung Chefredakteur bei einem TV-Nachrichtenmagazin. Als ihr Vertrag nach dem Ende des Volontariats nicht in eine Festanstellung überging, hat er ihr Stress gemacht. Er war enttäuscht, hat ihr vorgeworfen, dass sie sich nicht genug anstrengt. Yvonne hat seither immer wieder versucht, bei Magazinen zu landen, aber außer zwei, drei Artikeln nicht viel untergebracht.«
»Wovon hat sie gelebt?«
Chiara zuckte mit den Schultern.
»Von ihrem Vater, glaube ich. Und zwischendurch hatte sie mal einen Freund, aber das ging auseinander. Deshalb habe ich ihr ja vorgeschlagen, dass wir das Studium an der Fachakademie angehen, aber sie wollte den Journalismus nicht lassen und hat sich deshalb an dieses Sektenthema gemacht und nun … «
»Und nun ist sie auf einem Kreuzfahrtschiff und animiert gelangweilte Pensionisten«, vollendete Jörg den Satz. Chiaras missbilligendes Schnauben ignorierend, fügte er hinzu: »Finden Sie sich damit ab: Ihre beste Freundin hat Sie belogen. Von der Existenz irgendeiner Sekte, die Ihren vagen Beschreibungen entspricht, weiß nicht mal der Sektenbeauftragte des Regierungsbezirks Niederbayern.«
Als er die Überraschung in ihren Augen bemerkte, erklärte er: »Auch wenn wir keine Vermisstensuche einleiten können, habe ich mich doch schlaugemacht. Es ist nicht so, als das ich Ihren Hinweis nicht ernst genommen hätte …«
»Wirklich getan haben Sie aber trotzdem nichts!«, pflaumte sie ihn dennoch an, ähnlich aufgebracht wie an dem Tag, als sie die Anzeige hatte aufgeben wollen und er mit ihr schon einmal über dasselbe Thema diskutieren musste.
»Frau Chiavelli«, wiederholte Jörg geduldig. »Alles, was Sie mir liefern, ist die Behauptung, dass sie am dreißigsten August einen Anruf von Yvonne erhalten haben, mit Straubinger Vorwahl, die Nummer können Sie mir aber nicht nennen, weil Ihr Festnetztelefon sie nicht speichert und Sie sich nur die ersten Ziffern gemerkt haben. Aber seltsamerweise haben die Eltern eine Postkarte aus Antigua, eindeutig in Yvonnes Handschrift und mit Poststempel dreißigster August!«
Chiara schüttelte den Kopf. »Sie nehmen mich nicht ernst!«
Jörg konnte die Sorge der jungen Frau ansatzweise nachvollziehen. Ganz schlüssig klang die Sache mit den Postkarten und dem angeblichen Telefonat wirklich nicht. Andererseits stieß ihn der Vorwurf nun doch vor den Kopf. Immerhin hatte er mit den Eltern telefoniert und wegen der Sekte nachgefragt. Auch dass sie jetzt überhaupt hier war, verdankte sie dem Umstand, dass ihn die gesamte Sache mit Skepsis erfüllte. Warum hätte er denn sonst in Betracht gezogen, dass es sich bei der Toten eventuell um Yvonne Kruse handeln könnte?
Aber das schien ihr nicht einmal bewusst zu sein.
»Wie auch immer.« Jörg erhob sich und gab damit zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. »Für die Polizei gibt es im Moment keinen Grund, sich hier weiter einzubringen. Wir haben einen Mord aufzuklären.«