Basilikum, Tropfen und Drogen
Ich starrte abwechselnd von dem Befund, den mir das Allergiezentrum in Straubing digital übermittelt hatte, zu meinem Patienten. Anton Pangerl saß auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch und fühlte sich sichtlich elend. Während sich bei seinem Besuch am vergangenen Dienstag ein paar Pickel auf den Unterarmen, am Rücken und an den Wangen gezeigt hatten, war sein Körper nun mit rötlichen Quaddeln nahezu flächendeckend überzogen. Da der Ausschlag juckte, trug Pangerl auch noch Kratzspuren auf der Haut. Ich sah ihm deutlich an, welche Disziplin es ihn kostete, nicht vor meinen Augen weiterzukratzen.
Was mich an dem Befund meiner Kollegen vom Allergiezentrum so dermaßen verblüffte, war die von ihnen analysierte Ursache. Anton Pangerl, Landwirt auf einem Einödhof in der Nähe von Unterkleinzell, für den eine Fahrt nach München schon ein Erlebnis bedeutete, war allergisch auf Tulsi – indisches Basilikum. Hätte letzteres nicht freundlicherweise in Klammern dabei gestanden, wäre mir eine Google-Suche nicht erspart geblieben. Dass solch fremdländisches Kraut neuerdings von Anton Pangerl verspeist wurde, warf mich fast aus der Bahn. Als ich vor sechs Monaten Diabetes Typ II bei ihm diagnostiziert und ihn mir im Zuge dessen wegen seiner Ernährungsgewohnheiten zur Brust genommen hatte,
war ich noch mit allen Vorschlägen, die von typisch heimischer Kost abwichen, auf Widerstand gestoßen.
Wos da Bauer ned kennt, frisst er ned. Und jetzt Tulsi. Mit dem bemerkenswerten Zusatz im Befund, der Patient müsse es wohl in hoher Konzentration zu sich nehmen.
»Tulsi«, sagte ich, als ich meine Sprache wiedergefunden hatte. »Sagt Ihnen das etwas?«
»Nein. Was ist das?«
Pangerl runzelte die Stirn. Ich hatte nichts anderes erwartet.
»Indisches Basilikum. Haben Sie in letzter Zeit viel Basilikum gegessen?«
»Nein, ich habe nicht anders gegessen als sonst!«
»Haben Sie vielleicht ein Pesto gegessen?«
»Pesto?« Einen Moment lang schien Pangerl zu überlegen, was sich dahinter verbarg. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, nix. Die Maria kocht so was Neumodisches nicht.«
Ich starrte weiterhin auf die Buchstaben auf meinem Monitor und zerbrach mir den Kopf über eine mögliche Ursache.
»Vielleicht eine neue Creme?«
Seine Augen wurden groß. »So was benutze ich doch nicht!«
»Rasierwasser?«
»Nur am Sonntag. Und da nehme ich seit Jahren dasselbe. Die Pickel kommen aber jeden Tag.«
»Was heißt: kommen jeden Tag?« Ich wurde hellhörig. Freilich konnte ein Nesselausschlag nach vierundzwanzig Stunden abklingen, doch dafür musste die auslösende Ursache gefunden und beseitigt worden sein. Ansonsten gingen die von einer Entzündung begleiteten Schwellungen zwar zurück, kamen aber an anderer Stelle wieder – so, wie offensichtlich bei Pangerl.
»Ja, die kommen in der Früh, wenn wir mit dem Stall fertig sind … zu Mittag juckt’s mich dann am meisten; das ist kaum auszuhalten. Aber zum Glück wird’s gegen Abend wieder besser. Es ginge auch gar nicht, dass das in der Nacht so jucken tät – da würd ich kein Auge zubringen. Und wie soll ich denn in der Früh meine Arbeit machen, wenn ich nachts wach liege?«
An meiner rechten Bildschirmecke erschien ein Pop-up, das mich
daran erinnerte, dass ich zu Mittag eine Verabredung hatte. Ohnehin konnte ich mir nicht alle Zeit der Welt für einen einzelnen Patienten nehmen – die Honorarsätze der Kassenärztlichen Vereinigung ließen das genauso wenig zu wie mein gut gefülltes Wartezimmer.
»Notieren Sie bitte eine Woche lang alles, was Sie zu sich nehmen – und auch, womit Sie sonst Hautkontakt haben. Einstweilen schreibe ich Ihnen etwas auf, was den Juckreiz mildert und die Entzündung beruhigt.«
Pangerl wirkte wenig überzeugt. Die Vorstellung, in den nächsten Tagen über sein Leben akribisch Buch führen zu müssen, behagte ihm ganz und gar nicht.
»Erst der Diabetes und jetzt das«, seufzte er, während er sich schwerfällig erhob. »Da bin ich zweiundsechzig, und schon geht’s bergab …«
Zum Glück war auch der neue Blutbefund vom Labor schon übermittelt worden.
»Aber Herr Pangerl, jetzt sagen Sie doch sowas nicht! Das mit Ihrem Ausschlag kriegen wir genauso in den Griff wie Ihren Diabetes! Ihr HbA1C-Wert ist auf sieben Komma null gesunken – und das ganz ohne ein zusätzliches Medikament zu Ihrer bisherigen Therapie! Der Wert ist noch nicht ganz perfekt, aber damit können wir leben. Etwas weniger naschen, mehr Salat, weniger Knödel – und ein Spaziergang pro Tag, dann ist das Ergebnis optimal.«
Tatsächlich hellten sich die Gesichtszüge des Landwirts auf.
»Na, dann helfen ja die Tropfen doch«, stellte er fest und war schon fast bei der Tür. Bei mir schrillten alle Alarmglocken.
»Welche Tropfen?« Ich hatte ihn auf Standardtherapie eingestellt: Metformin, ein orales Antidiabetikum, zweimal täglich als Tablette einzunehmen.
»Na, die Tropfen, die mir die Maria in den Kaffee gibt! Die gegen den Diabetes.«
»Was sind das für Tropfen?«
Er hob die Schultern. »So Tropfen halt. Aus so am kleinen braunen Fläschchen, und seit ich die nehm’, geht es mit dem Diabetes besser.«
»Aber das Medikament, für das ich Ihnen regelmäßig ein Rezept
ausstelle, das nehmen Sie doch hoffentlich immer noch?«
Mir schwante Böses.
»Ja, das nehme ich immer am Abend. Weil … in der Früh hab ich ja jetzt die Tropfen. Und die schützen auch vor Magengeschwüren!«
Das wurde ja immer besser. »Sagt wer?«, hakte ich nach.
»Na, die Maria!«
Interessant. Maria Pangerl, Bäuerin in Kleinzellreuth und neuerdings Expertin für Gesundheitsfragen.
»Herr Pangerl. Tun Sie mir bitte den Gefallen, nehmen Sie künftig wieder Ihr Medikament zweimal täglich und lassen Sie die Tropfen weg! Möglicherweise wird Ihre Allergie nämlich genau davon verursacht.«
»Also, ganz sicher nicht!« Der Landwirt wirkte nun regelrecht entrüstet. »Die Maria nimmt die Tropfen ja auch, und die hat eine Haut wie ein Pfirsich!«
»Jeder Körper reagiert anders«, erklärte ich geduldig. »Und sagen Sie Ihrer Frau, dass sie mich baldmöglichst anrufen soll.«
»Warum? – Die Maria wird das nicht gut finden, dass …«
Ich ließ ihn nicht ausreden.
»Sie soll mich einfach anrufen. Ich möchte wissen, woher sie diese Tropfen hat.«
»Prego
.« Luigi, der eigentlich Iraner war und einen für Europäer schier unaussprechlichen Namen trug, reichte mir und Jörg die Speisekarte. Da Luigi
war die einzige Pizzeria am Ort und gleichzeitig auch das einzige Lokal, dessen Angebot sich von der niederbayerischen Traditionsküche abhob. »Da bere?
«
»Ein alkoholfreies Bier«, bestellte Jörg.
»Auch ein Bier, aber mit Alkohol«, sagte ich.
Luigi notierte beides und widmete sich den Handwerkern am Nebentisch, die abgesehen von uns und zwei älteren Damen die einzigen Gäste waren. Mittags machte er kein gutes Geschäft. Die Leute aßen entweder zu Hause oder stillten ihren Pausenhunger mit
Wurstsemmeln vom Supermarkt. Erst am Abend füllte sich das Lokal.
»Na, du gibst es dir ja heute richtig«, witzelte Jörg. »Du hast wohl nichts mehr vor?«
»Nein. Ich habe meinen freien Nachmittag und werde allenfalls ein bisschen Büroarbeit erledigen, Rechnungen, Ablage.«
»Also, ich könnte mir an freien Nachmittagen echt was Besseres vorstellen«, kam es von meinem Freund, der sich genauso wenig in die Speisekarte vertiefte wie ich selbst – wir kannten sie fast auswendig. »Diese Sachen kannst du doch mal abends oder nebenbei machen …«
»Abends bin ich immer total erledigt. Außerdem wüsste ich wirklich nicht, was ich am Mittwoch sonst tun sollte.«
Als hätte er nur auf ein Stichwort gewartet, klappte Jörg die Speisekarte zu. »Allmählich mache ich mir Sorgen um dich, Gesine. Fällt dir eigentlich nicht selbst auf, dass du dich immer mehr vergräbst? Du gammelst nur noch zu Hause herum, bist selbst am Telefon einsilbig – geschweige denn, dass du dich zu irgendetwas mitreißen lässt!«
Na toll. Hatte er sich also nur mit mir verabredet, um den besorgten Kumpel herauszukehren? Ich setzte gerade zu einer wenig freundlichen Antwort an, als Luigi mit den Getränken kam.
Ich orderte Pizza Diavolo. Jörg fiel nichts Besseres ein, als den Sepia zu bestellen.
»Bist du angepisst, weil ich mir Sorgen um dich mache, oder hat es möglicherweise mit meiner Bestellung zu tun?«, erkundigte er sich prompt, als Luigi wieder verschwunden war.
»Beides«, gab ich unumwunden zu und hob meinen Krug. »Prost. Mir geht’s soweit gut. Ich bin einfach nur überarbeitet.« Das Bier hatte eine leicht malzige Note, war angenehm kühl und verfehlte allein durch seine Existenz vor meiner Nase nicht seine Wirkung. Bereits beim ersten Schluck schaffte ich es, das Bild von Katharina und mir bei Da Luigi
zu verdrängen.
»Ich finde ja nur, wir könnten wieder mehr gemeinsam unternehmen.« Jörg hatte anscheinend nicht vor, lockerzulassen. »Das haben wir doch früher auch. Unsere Grillabende waren
legendär, und wir sind schon lange nicht mehr zu viert in Straubing … « Er brach von selbst ab, als ihm aufging, wie daneben seine unbedacht geäußerten Worte waren. Ja, es waren wunderbare Zeiten gewesen: Wir hatten uns regelmäßig für Kinobesuche verabredet, neue Restaurants in der Kreisstadt ausprobiert, gemeinsam ein Weinseminar besucht. Zu viert: Jörg, sein Partner Sascha, ich – und Holly. Zwei Pärchen.
»Wir können solche Sachen doch auch zu dritt machen«, versuchte er nun die Situation zu retten. »Sascha und ich haben kein Problem, wenn du ab und zu mitkommst.«
Schon wie er das sagte, klang für mich nach fünftem Rad am Wagen. Vielleicht mochten die beiden Männer wirklich kein Problem damit haben, aber ich hatte es definitiv! Sascha, der Physiotherapeut war, und meine an Multiple Sklerose erkrankte Exfreundin Holly hatten sich bei einem ihrer Reha-Aufenthalte kennengelernt und standen seither in engem Kontakt. Da der gute Sascha leider sehr geschwätzig war, würde auch die dringendste Bitte ihn nicht davon abhalten, alle Informationen über meinen derzeitigen Zustand – »hat mindestens fünf Kilo mehr auf den Rippen«, »sieht voll schlecht aus«, »trauert dir wohl immer noch hinterher« – brühwarm an sie weiterzureichen.
»Mir ist nicht danach«, erklärte ich wahrheitsgemäß. »Es kommen sicher wieder andere Zeiten, aber momentan …«
Ich brach ab, als ich eine zierliche Frau mit brünettem Kurzhaarschnitt entdeckte, die in Begleitung eines hochgewachsenen Mannes mit schlohweißem Haar das Lokal betrat.
Ich sah zu, wie er Katharina aus ihrem dünnen Mantel half und anschließend auch den seinen ablegte. Sie trug einen bis zu den Knien reichenden dunklen Rock und ein flaschengrünes Jackett. Wie immer sah sie sehr elegant und professionell aus. Der Herr, dessen Alter sich schwer schätzen ließ, war mit einem klassischen dunklen Anzug bekleidet.
Katharina steuerte sofort auf den Raucherbereich zu. Als sie an mir vorbeiging, bedachte sie mich mit einem knappen Lächeln und berührte wie zufällig meine Schulter.
Jörg hob fragend die Augenbrauen. »Irgendwie scheint sie an dir
zu hängen.«
»Ja. So wie an jeder Person, mit der sie ins Bett will«, bemerkte ich trocken. Etwas bissig fügte ich hinzu: »Vermutlich ist der Typ, den sie da im Schlepptau hat, ihr nächstes Opfer.«
Jörg reckte den Kopf. »Hm, eher unwahrscheinlich. Er breitet gerade irgendwelche Unterlagen vor ihr aus. Sieht für mich nach Business Meeting aus.«
Wenn schon. Was ging es mich letztendlich an?
»Was macht eigentlich eure Leiche? Habt ihr schon einen Namen? Oder gar den Mörder?«
»Noch nicht, aber sicherlich bald. Am Montagabend wurde das Bild der Frau an die Medien gegeben. Ich bin ziemlich sicher, dass sich einer melden wird – vielleicht ja jemand aus einer Betreuungseinrichtung.«
»Aus einer Betreuungseinrichtung? Wie kommst du denn darauf?«
»Reine Vermutung.« Jörg nahm einen großen Schluck Bier. »Bei der Obduktion wurde ein Tattoo auf der Schulter entdeckt, außerdem sehen ihre Ohrläppchen so löchrig aus wie ein Stück Edamer, und sie hatte irgendwann mal ein Nasen- und Zungenpiercing.«
Ich ließ seine Aussage wirken. Jörgs Welt war wohl etwas simpler strukturiert als die meine.
»Wenn du wüsstest, wie viele meiner jüngeren Patienten irgendwo irgendwelche Piercings oder Tattoos haben … und das sind ganz normale, mental gesunde Menschen!«
»Mag sein, aber sie hat sich in der Vergangenheit geritzt und war dazu magersüchtig. Kurz vor ihrem Tod hatte sie offenbar noch Sex.«
»Also ein Sexualverbrechen?«
Jörg schüttelte erst den Kopf, hob aber dann etwas ratlos die Achseln. »Für eine Vergewaltigung gibt es zu wenig Hinweise.« Meine Verwirrung bemerkend, fügte er hinzu: »Wenn es eine war, hat sie sich jedenfalls nicht gewehrt.«
»Weil sie unter Drogeneinfluss stand«, riet ich. »Oder alkoholisiert war.«
»Man könnte meinen, du hast den Obduktionsbericht gelesen.« Jörg grinste vage. »Beides war im Spiel. – Vielleicht kannst du als
Ärztin mir die Frage beantworten, warum jemand Ephedrin zu sich nehmen sollte.«
Ich musste kurz überlegen, ehe ich die Substanz zuordnen konnte. »Ephedrin wurde früher bei Asthma und zum Abschwellen der Nasenschleimhäute bei Schnupfen eingesetzt«, fiel mir ein. »Auch in der Augenheilkunde als Ersatz für Atropin. Allerdings gab es ziemlich viele Nebenwirkungen, weshalb man diese Krankheiten jetzt anders behandelt. Für ein paar wenige Indikationen ist es aber immer noch zugelassen – also natürlich nicht pur, nur in Kombination mit anderen Inhaltsstoffen.«
»Wofür beispielsweise?«
Ich fühlte mich wie bei der Pharmakologie-Prüfung. Zum Glück war ich in diesem Fach immer recht gut gewesen.
»Bei Narkolepsie – der Schlafkrankheit«, erklärte ich prompt. »Allerdings bin ich unsicher, ob es nicht auch da schon modernere Medikamente gibt. Narkolepsie-Betroffene gehören ehrlich gesagt nicht zu meinem Patientenstamm. Dafür kommt die Erkrankung zu selten vor.«
»Und wie komme ich als Otto Normalverbraucher an das Zeug?«
»Nicht so einfach. Reines Ephedrin fällt unter das sogenannte Grundstoffüberwachungsgesetz – das heißt, die Gabe wird streng überwacht und dokumentiert, weil es zum Beispiel als Grundlage für ein Betäubungsmittel verwendet werden kann. Medikamente, die Ephedrin enthalten, sind darum heute nur noch auf Rezept erhältlich. Diese Medikamente wurden als Appetitzügler, Doping- und Rauschmittel missbraucht. Also schwer dranzukommen.«
»Außer man ist Apotheker«, schlussfolgerte Jörg.
»Selbst der wird vom Grundstoffüberwachungsgesetz erfasst«, erinnerte ich ihn. »Und das heißt, der Name desjenigen, der den Stoff eingeführt hat, mit ihm handelt und vor allem der Name des Endverbrauchers sind beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hinterlegt.«
Jörg holte sein Smartphone aus der Tasche und tippte auf der kleinen Tastatur in qualvoller Langsamkeit die Bezeichnung der Stelle ein, bei der er sich erkundigen würde. Seine Abkehr vom klassischen Notizblock würde ich wohl nie verstehen.
»Danke, Gesine.« Er ließ das Handy wieder verschwinden. »Manchmal frage ich mich wirklich, warum du hier in Aichendorf herumdümpelst, anstatt als Gerichtsmedizinerin zu glänzen.«
Ich verzog amüsiert mein Gesicht.
Ein Kompliment aus seinem Munde war ungewohnt genug. Dass er sich mich gar als Teil eines straff hierarchisch organisierten Polizeiapparats vorstellen konnte, erheiterte mich.
»Ich sehe meine Patienten lieber lebendig als tot auf dem Seziertisch. – Erzähl mir lieber mehr von eurem Opfer. Du hast davon gesprochen, dass sie vorher Sex hatte. Mit den Spermaspuren könnt ihr doch sicher was anfangen, oder?«
»Der Typ hat ein Kondom benutzt. Spuren von Ejakulat fanden sich lediglich an dem Baumwollslip, den wir in der Nähe der Leiche fanden, aber das ist nicht unbedingt zielführend …«
Ich runzelte die Stirn. »Heißt was?«
»Der Slip lag in der Wiese, es hat geregnet. Vorher war die Frau im Wasser gewesen. Ob sich da noch Spermien identifizieren lassen, mit denen sich eine vollständige DNA-Analyse machen lässt, ist laut Labormedizin vorerst fraglich. Und wie gesagt: Generell gibt es keinen stichhaltigen Hinweis auf Vergewaltigung – keine Hämatome an den Oberschenkeln, keine Druckstellen im vaginalen Bereich.«
»Und trotzdem hast du das Thema ins Spiel gebracht …«
Jörg beugte sich zu mir über den Tisch und warf einen vorsichtigen Blick auf die Handwerker-Gruppe am Nebentisch. Seine Sorge erwies sich als völlig unbegründet: Die Männer stopften sich bereits mit Pizza voll. Wenn sie redeten, dann tauschten sie flache Witze aus.
»Na ja. Es gab ausgeprägte Mikroverletzungen in der Scheide. Die Gerichtsmedizinerin meint, sie deuten darauf hin, dass der Geschlechtsverkehr sehr heftig verlief. Oder eben unfreiwillig.«
»Oder dass sie einfach nicht wirklich erregt war«, ergänzte ich. »Vielleicht war ihr gar nicht nach Sex zumute.«
»Womit wir wieder beim Thema Vergewaltigung wären.«
Nicht unbedingt, lag mir auf der Zunge, doch in diesem Moment kam Luigi mit unserem Essen. Ich stürzte mich mit einem Heißhunger auf die Pizza Diavolo, der dem der Bauarbeiter vom
Nebentisch um nichts nachstand, und wunderte mich über mich selbst. Gegessen hatte ich schon immer gern, aber in letzter Zeit war mein Appetit kaum zu zügeln. Als ich meinen Teller geleert hatte, musste ich mich selbst disziplinieren, um nicht noch ein Tiramisu zu bestellen. Die Leute, die wegen gebrochenen Herzens zwei bis drei Kleidergrößen schrumpften, weil sie keinen Bissen mehr herunterbrachten, waren echt zu beneiden! Ich gehörte eindeutig zu der anderen Sorte.
Wir waren gerade dabei zu zahlen, als mein Handy klingelte. Zu meiner Überraschung war es Maria Pangerl, die anrief.
»Jetzt verbieten Sie meinem Mann diese wunderbaren Tropfen, Frau Doktor, und dann wird sein Zucker wieder schlimm!« Sie klang nicht aufgebracht, nicht vorwurfsvoll, sondern einfach nur enttäuscht. Offenbar hatte ich ihr in ihrer selbsternannten Funktion als Heilerin einen schweren Schlag versetzt.
»Ihr Mann kriegt von diesen Tropfen einen juckenden Ausschlag, liebe Frau Pangerl«, rief ich ihr in Erinnerung. »So wunderbar können die Tropfen also nicht sein!«
»Der Ausschlag vergeht ja wieder«, bekam ich zur Antwort. »Das ist bloß das Zeichen einer inneren Reinigung. Wenn dann die Energien wieder fließen, verschwinden auch die Pickel.«
»Sagt wer?«, fragte ich nach, bemüht, meinen Argwohn zu verstecken. Maria Pangerl war eine gestandene, solide Frau Mitte fünfzig, die drei Kinder großgezogen hatte, sich um zweiundzwanzig Milchkühle und mindestens genauso viele Hühner kümmerte und bei sengender Hitze auf einem Heuwagen stand. Dass ein gereinigter Körper
und irgendwelche Energien
neuerdings zu ihrem Vokabular gehörten, ließ mich stutzen.
»Na, die Frau, die mir die Tropfen gegeben hat!«
Diesmal schwang in ihrem Tonfall Entrüstung mit – fast so, als wäre allein schon meine Frage eine Zumutung.
»Und wer ist diese Frau?«, bohrte ich trotzdem weiter.
Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Fast dachte ich, sie hätte das Telefon einfach zur Seite gelegt, doch dann hörte ich ihren Atem.
»Frau Pangerl?«
»Das ist geheim!«, platzte es nun aus ihr heraus. Fast entschuldigend fügte sie nach einer Weile hinzu: »Es tut mir leid. Nichts gegen Sie, Frau Doktor. Aber ich hab mich verpflichtet, nicht drüber zu reden.«
Das wurde ja immer mysteriöser. Sicher steckte da irgendeine selbsternannte Heilpraktikerin ohne Zulassung dahinter, die hier nach Lust und Laune Kräuterextrakte pantschte und sich damit ihr Haushaltsgeld oder ihre Hartz-IV-Bezüge aufbesserte.
»Tun Sie mir bitte nur einen Gefallen, Frau Pangerl: Vertrauen Sie auf das, was ich Ihnen aufschreibe. Man weiß nie, was in solchen Tropfen ist, die man irgendwo kauft. Und Sie sehen ja, dass Ihr Mann einen üblen Ausschlag davon bekommt.«
»Wenn Sie meinen.« Trotzdem klang ihre Stimme unschlüssig. »Ich werd’s aber weiternehmen«, fügte sie dann entschlossen hinzu. »Ich kriege keinen Ausschlag!«
»Sie haben doch gar keinen Diabetes!«
»Es hilft auch als Vorbeugung gegen Magengeschwüre!«
Stimmt, das hatte mir ihr Anton ja schon versichert. Ein echtes Wunderzeug! Ich gab mich geschlagen und hoffte, dass die Tropfen nicht auch bei ihr Schaden anrichteten. Kopfschüttelnd steckte ich mein Handy wieder ein. Jörg hatte inzwischen nicht nur sein eigenes Essen bezahlt, sondern auch meines.
»Zur Feier des Tages«, schmunzelte er. »Weil es mir seit gefühlten Ewigkeiten gelungen ist, dich aus deinen vier Wänden zu locken. – Aber sag, was war das denn für ein Telefonat?«
»Ach, täten meine Patienten doch einfach, was ich Ihnen sage!« Ich erzählte ihm kurz, dass seltsame Tropfen kursierten, die ein angebliches indisches Heilkraut enthielten.
»Klingt wie ein Hexengebräu aus einem Märchen«, lautete Jörgs Kommentar, während wir Luigi, der gerade die Handwerker abkassierte, zum Abschied zuwinkten. Draußen ließ ein kräftiger Wind die herabgefallenen Blätter aufstieben.
»Hör mir bloß auf!« Ich verdrehte die Augen. »Das ist mir im Moment etwas zu viel Esoterik-Trara: Beim Italiener-Fest hat sich die verrückte Veleda plötzlich als Wahrsagerin betätigt und glaubt auch noch an den Mist, den sie von sich gibt, meine Patienten
vergiften sich mit Tulsi, und dann haben wir ja noch deine Spinnerin mit den Séancen …«
»Meine?« Jörg, der schon den Autoschlüssel gezückt hatte, hielt in der Bewegung inne. »Ich könnte genauso gut sagen: deine. Wer hat die Dame denn mit einer ärztlichen Bestätigung vor der Erstvernehmung geschützt! Du oder ich?«
»Na, also bitte!« Das Bild der sehr schlanken, exaltierten Frau, die auf einem Diwan voller Kissen gelegen hatte, als ich als Notärztin ins Zimmer getreten war, stand mir wieder vor Augen. »Die Hirscheck-Lahn war doch völlig erledigt, die hätte euch sowieso nicht viel sagen können … Ich hatte jedenfalls nicht den Eindruck, dass sie sich in dieser
Welt befand. Die stand total neben sich.«
»Als wir mit ihr sprachen, gab sie sich ziemlich rational und klar.«
»Na, immerhin habt ihr sie inzwischen vernehmen können.« Meine Neugierde war erwacht. »Und? Kam was dabei raus?«
Jörg drohte mir scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Fragt mich das etwa dieselbe Person, die sich neulich auf die ärztliche Schweigepflicht berief?«
Aha, da lag der Hund begraben. »Vor deinen Kollegen auszupacken, war mir nun wirklich zu riskant«, erläuterte ich. »Im Übrigen gibt es da auch nicht viel zu sagen. Die Frau machte einen benommenen Eindruck, hatte gleichzeitig erhöhten Blutdruck und einen rasenden Puls. Ich habe ihr ein leichtes Schlafmittel mit beruhigender Wirkung gegeben. Das war’s.«
»Hat sie nichts … gesagt? Über die Tote, meine ich?«
»Nur, dass es furchtbar
sei, ganz furchtbar
.« Ich ahmte den Tonfall der Hirscheck-Lahn nach und brachte Jörg damit zum Schmunzeln. »Offenbar hatte ihr die Haushälterin erzählt, dass die Polizei da ist – und auch, weshalb. Ist sie denn nun verdächtig?«
Jörg hob die Schultern.
»Im Moment tappen wir völlig im Dunkeln. Die Identität der Toten wäre sicher hilfreich. Frau Hirscheck-Lahn und die Haushälterin geben jedenfalls an, sie nicht zu kennen.«
»Und dieser Professor? – Um ehrlich zu sein, ich habe von den Leuten noch nie zuvor gehört. Und das ist in dieser dünn besiedelten Gegend schon ziemlich ungewöhnlich.«
»Also, mich wundert das nicht sonderlich. Sie sind erst vor fünf Jahren nach Dipolding gezogen, hat mir die Frau selbst erzählt. Früher wohnten sie irgendwo in Hessen.«
»In Hessen?« Ich war überrascht. »Aber sie sprach hiesigen Dialekt!«
»Sie stammt von hier. Ihrer Familie gehört das Schloss. Er ist der Spross eines Textilkonzerns, hat wohl ziemlich was geerbt.«
»Was man seiner Adresse nicht ansieht«, fiel ich ihm in Erinnerung an das marode Gebäude ins Wort.
»Ja, aber lass mich mal ausreden, dann klärt sich das vielleicht alles auf.« Jörg hatte sich gegen sein Auto gelehnt. »Er ist habilitierter Psychologe und hat über Jahre diverse Studien betrieben – im Bereich Verhaltenspsychologie. Vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren war er mal für einen Lehrstuhl im Gespräch, aber dazu kam es dann nicht. Irgendetwas bei den Studien lief schief, er wurde plötzlich von allen Seiten angegriffen. Seither hat er sich aus dem Unibetrieb zurückgezogen und tourt als freier Vortragender durchs In- und Ausland.«
»Und hält Vorträge über was?«
»Über Psychologie.«
Jörg merkte meiner Miene an, dass mich die Antwort nicht zufriedenstellte, und fügte hinzu: »Keine Ahnung. Ich habe mir die Infos ja auch nur aus dem Internet zusammengesucht. Mit ihm konnte ich noch nicht sprechen. Er soll im Hochland von Guatemala auf Forschungsreise sein. Telefonisch und per Mail ist er angeblich nicht erreichbar. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als zu warten, bis er zurückkommt.«
»Und wann wird das sein?«
Jörg zuckte mit den Schultern. »Das konnte oder wollte uns seine Frau nicht sagen. Sie sei nicht über die Reisepläne ihres Gatten informiert, sagte sie.«
»Klingt nach einer innigen Ehe«, erwiderte ich süffisant.
»Immerhin einer, die seit dreißig Jahren hält. – Wer von uns beiden kann schon behaupten, jemals eine so lange Beziehung geführt zu haben?«
Ich verzog das Gesicht. »So alt bin ich ja noch gar nicht. Daran
liegt’s.«
Jörg grinste schief.
»Wenigstens kannst du ihn als Mörder ausschließen«, schlussfolgerte ich. »Wenn er nicht da war, kann er sie ja auch nicht mit Ephedrin und Alkohol vollgepumpt haben.«
»Wer sagt, dass er nicht da war?« Jörg hob kurz die Brauen, lieferte dann die Antwort gleich selbst: »Zu seiner angeblichen Forschungsreise ist er am Freitagabend abgereist. Gegen halb zwölf nachts Uhr hat er den Flieger in München-Erding bestiegen – das wurde uns von Seiten des Flughafens schon bestätigt. Er hätte also durchaus Zeit gehabt, das Mädchen unter Drogen zu setzen.«
»Aber nicht, ihr post mortem
Wodka einzuflößen.«
Jörg fuhr sich durch sein Haar.
»Das nicht. – Vielleicht waren ja mehrere an ihrem Ableben beteiligt, wer weiß?«
Es begann zu nieseln. Wir verabschiedeten uns. Ich wartete, bis Jörg in sein Auto gestiegen war und aus dem Parkplatz auf die Straße abbog, dann setzte auch ich mich in Bewegung. Ohne zu wissen, warum eigentlich, drehte ich mich nach ein paar Schritten nochmals um.
Katharina stand mit ihrem Begleiter beim Eingang zur Pizzeria und spannte einen Schirm auf. Nichts an ihr ließ einen Zweifel offen, dass sie flirtete.
Es ärgerte mich. Und dass es mich ärgerte, ließ meinen Ärger weiter wachsen.