Ein General, Geisterstimmen und unerwünschte Gäste
Martina Peschner öffnete das Fenster zum Schlosspark. Frische, kühle Luft verdrängte den Staubsaugergeruch, der das Schlafzimmer der Schlossherrin erfüllte, nachdem die Haushälterin ihren täglichen Pflichten nachgekommen war. Madame legte äußersten Wert auf Sauberkeit und Hygiene.
Ihren hohen Standard in einem Gemäuer wie diesem zu erfüllen, war schwierig genug. Wenn Martina morgens an die Arbeit ging, hatte sie oftmals das Gefühl, irgendjemand sei über Nacht mit einem Staubfass durch die Räume spaziert und hatte den Inhalt verstreut, um ihr bewusst das Leben schwer zu machen. Möglicherweise war es eine Art Rache jener Geister, die Madame in ihren Séancen aus dem Jenseits riss. So ganz von der Hand zu weisen war das ja nicht. In den mittlerweile zehn Jahren, in denen sie im Dienste der Hirschecks stand, hatte sie viel über Geisterbeschwörungen gelernt – nicht nur durch Madame selbst, sondern auch aus Büchern und Artikeln. Bei der Lektüre hatte sie feststellen müssen, dass Madames Art, mit den Geistern zu kommunizieren, teilweise erheblich von der gängigen Lehrmeinung abwich. So wartete sie beispielsweise grundsätzlich nicht, bis die Geister in Kontakt treten wollten, sondern forderte sie
gezielt auf, mit ihr zu sprechen – hier, jetzt und sofort. Meistens gehorchten die Geister, was Martina Peschner noch immer etwas überraschte. Sogar der Geist des Generals, der zu Lebzeiten ein erbitterter Rivale von Napoleon Bonaparte gewesen war, ließ sich von ihr dirigieren wie ein folgsamer Hund. Ob dieser Geist sich nicht doch über die raue Behandlung, die ihm zuteil wurde, grämte und eines Tages womöglich hinterrücks auf gemeine Art rächen würde? Vielleicht nicht an Madame, denn die war zu mächtig, aber an ihr, der kleinen Haushälterin?
Wer wusste denn wirklich, was in diesen Seelen, die keine Ruhe fanden, vor sich ging?
Schließlich konnte Madame ja auch so sanft und liebevoll sein. Wenn sie mit ihrer kleinen Franziska sprach, beispielsweise. Martinas Tochter war bereits ein paar Tage nach der Geburt verstorben. Zwölf Jahre wäre sie mittlerweile alt. Dank Madame und ihren Fähigkeiten wusste Martina, dass es Franzi dort, wo sie war, gut ging. Im Gegensatz zu anderen Geistern, deren Stimmen sie während der Séancen vernahm, hatte sie ihre Franziska noch nie sprechen gehört. Dennoch gab es für sie keinen Zweifel, dass das, was ihr an Gedanken und empfangenen Schwingungen übermittelt wurde, von der Tochter stammte. Schließlich hatte ja nur Franzi wissen können, dass sie während der Schwangerschaft gelegentlich Alkohol getrunken und viele gewalttätige Auseinandersetzungen mit dem Kindsvater gehabt hatte.
»Tjänarinna!«, drangt es gedämmt durch die Wand, die das Schlafzimmer vom Büro trennte, an Martina Peschners Ohr. Die Haushälterin schloss das Fenster.
»Tjänarinna!«
Ein drängender Unterton schlich sich in die volle, melodische Stimme, die sie nun zum zweiten Mal beim Namen rief. Bei dem Namen, den Madame ihr vor Jahren gegeben hatte. Sie liebte diesen Namen. Martina, so hatten in dem kleinen Dorf in Unterfranken, in dem sie aufgewachsen war, viele geheißen. Tjänarinna dagegen klang aufregend und exotisch.
Madame saß an ihrem ausladenden Schreibtisch, wie so oft um diese Zeit. Konzentriert starrte sie auf den Monitor ihres Notebooks.
Mehrere aufgeschlagene Bücher und einige dicht beschriebene Notizblöcke lagen darum herum.
»Warum dauert das so lange?«
Der Ärger in ihren Gesichtszügen ließ Martina unwillkürlich zusammenzucken.
»Verzeihen Sie, Madame, ich …«, setzte sie zu einer Rechtfertigung an, wurde aber durch eine herrische Geste zum Schweigen gebracht.
»Ich habe fünfmal nach dir gerufen. Fünf Mal!«
Die Haushälterin schluckte trocken. Zwei Rufe hatte sie gehört …
»Zehn Jahre stehst du nun schon in meinen Diensten, und noch immer bist du nicht in der Lage, meine mentale Stimme zu hören!« Die Enttäuschung ihrer Dienstherrin setzte Martina mehr zu, als wenn ihr eine scharfe Rüge erteilt worden wäre. »Ich weiß nicht, wohin das noch führen soll.«
Dorothee Florence Hirscheck-Lahn schüttelte niedergeschlagen den Kopf. Martina fühlte sich schuldig. Der Tag hatte doch so gut begonnen, trotz aller Umstände. Madame hatte die Tote im Park nicht ansatzweise erwähnt, sondern im Traum Stimmen einer Patriziertochter aus dem Alten Rom empfangen, die einst unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen war. Sobald die Dämmerung hereinbrach, wollte sie sich mit ihr in Verbindung setzen. Allein die Ankündigung hatte Martina in innerliche Aufregung versetzt. Wie üblich würde sie bei dieser Séance dabei sein. Sie war nicht nur gespannt darauf, was die Patriziertochter über ihren Tod zu berichten hatte, sondern auch erleichtert, dass Madame keinen Kontakt zu dem toten Mädchen aus dem Park suchte.
»Du musst heute die Einladungen zur Post bringen«, befahl die Hausherrin und deutete auf eine Kiste voller beschrifteter Kuverts, die auf dem Drucker rechts neben dem Schreibtisch lagen. »Es ist höchste Zeit. Der Zirkel findet schließlich schon in zehn Tagen statt.«
Verdutzt starrte Martina die elegante Frau am Schreibtisch an. Madame wollte einen Zirkel veranstalten? Jetzt? Unter diesen Umständen?
»Was ist? Bist du festgewachsen?«
Dorothee Florence Hirscheck-Lahn bedachte sie mit einem weiteren ungeduldigen Blick.
»Ich dachte nur … wegen des toten Mädchens …«
»Was, bitte, hat ein mir völlig unbekanntes, totes Mädchen damit zu tun, dass ich wie jeden Monat ausgesuchte Gäste für eine Séance einlade? – Sie ist seit einem halben Jahr angekündigt; meine Anhängerschaft hat schon im Voraus dafür bezahlt und wartet nur noch auf die Bekanntgabe von Tag und Uhrzeit! Wir können es uns jetzt nicht leisten, Gelder an rund achtzig geladene Gäste zurückzuzahlen, die mit dem General sprechen wollen! Und abgesehen von der finanziellen Komponente sehe ich auch keinen Grund dafür.«
Martina schluckte trocken. Sie hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Mit unterdrücktem Seufzen nahm sie die Kiste mit den Kuverts. Auf dem Weg die Treppe hinab ins Erdgeschoß stieß sie fast mit dem Hausherren zusammen.
»Nun, Martina, jetzt machen Sie doch kein Gesicht, als stehe der Weltuntergang unmittelbar bevor!« Der hochgewachsene Mann mit dem schlohweißen Haar, der auf seinem Weg nach oben dynamisch zwei Treppenstufen auf einmal genommen hatte, bedachte sie mit einem aufmunternden Lächeln.
Martina Peschner erwiderte es dankbar, die schwere Kiste mit den Briefen an den Oberkörper gepresst. Sie wollte ihren Weg gerade fortsetzen, als Hirscheck die Kuverts bemerkte. Mit spitzen Fingern angelte er sich eines davon heraus und warf einen prüfenden Blick auf die aufgedruckte Adresse.
»Einladungen für den nächsten Zirkel?«, stellte er fest. Die Schärfe seines Tones ließ die Haushälterin unwillkürlich zusammenzucken. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder?«
Martina spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie schämte sich für die versteckte Rüge, die er ihr durch seine Frage erteilte. Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass er sie für etwas verantwortlich machte, wovon Madame nicht abzubringen war.
»Ich denke, wir beide sind uns einig, dass das im Moment keine gute Idee ist.« Er bedachte sie mit einem stechenden Blick.
Martinas Herz klopfte.
»Nach dem Vorfall gestern! Schließlich hat keiner unserer regelmäßigen Gäste Interesse daran, eventuell mit einem Mordfall in Verbindung gebracht zu werden.«
Wendolin Hirscheck fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes Haar. »Ich weiß selbstverständlich, wie sehr eine Absage meine Frau aufwühlen wird«, fügte er versöhnlich hinzu. »Sie lebt ja bekanntlich für diese Runden! Aber ich denke, wir müssen sie in diesem Fall vor sich selbst schützen.« Er stieß einen heiseren, kurzen Lacher aus. »Wenn ich mir das nur vorstelle – achtzig Leute mit Draht zum Übersinnlichen in einem Schloss, in dessen nächster Nähe vor kurzem eine Frau ihr Leben ließ! Da ist der Ärger vorprogrammiert. Das Letzte, was wir brauchen können, ist ja wohl, dass sich die Seele der Verstorbenen zu Wort meldet!«
Martina sträubten sich die Nackenhaare. An dieses Szenario hatte sie noch gar nicht gedacht.
»Es … es gibt ja noch die Verschwiegenheitsklausel, die jeder Gast unterzeichnen muss«, warf sie schließlich zaghaft ein.
»Ich will hier niemanden auf dem Grundstück sehen, bis sich die Lage beruhigt hat.« Hirscheck nahm ihr die Kiste aus den Händen. »Den nächsten Zirkel gibt es erst dann wieder, wenn der Mörder dieses armen Kindes gefunden ist. Ich werde das mit meiner Frau klären.«
Die Haushälterin fühlte sich, als wäre ihr nicht nur eine Kiste mit Papierkuverts, sondern ein ganzer Sack voller Steine abgenommen worden.