Laborergebnisse, Launen und eine Lieferantin
»Wir wollten Sie nur darauf aufmerksam machen, dass wir die Analyse für die Tropfen in einem gesonderten Mail schicken und nicht gemeinsam mit den Blutbefunden«, informierte mich die freundliche Dame vom Labordienst per Telefon.
Dass ich selbst abgehoben hatte und nicht meine Sprechstundenhilfe, war allein dem Umstand zu verdanken, dass diese gerade damit beschäftigt war, das Erbrochene eines Kleinkindes vom Boden aufzuwischen. Die von dem Zwischenfall peinlich berührte Mutter war inzwischen mit ihrem Kind auf die Toilette verschwunden; ich hörte es durch die geschlossene Türe hindurch brüllen.
»Nicht, dass Sie sich wundern«, fügte die angenehme Telefonstimme hinzu, während ich mir bereits den Kopf zermarterte, wovon eigentlich die Rede war.
»Tropfen? Was denn für …«, begann ich schließlich, doch weiter kam ich nicht. Als hätte ich ihr das Stichwort gegeben, sprang die mit Eimer und Wischtuch am Boden beschäftigte Gerlinde auf und wedelte wild mit den Armen. Ich verstand: Sie
steckte dahinter.
»Ähm, okay, danke«, sagte ich also nur, verabschiedete mich und bedachte Gerlinde mit einem fragenden Blick.
»Ich kann es erklären!«
Sie rückte dicht an mich heran, das übel riechende Kleenex in der Hand. Automatisch wich ich zurück. Auch wenn ich mittlerweile seit fast fünfzehn Jahren als Ärztin tätig war – der Geruch von Erbrochenem aktivierte zuverlässig meinen Würgereflex.
Gerlinde, die dieses Problem nicht zu kennen schien, verschränkte die Hände vor der Brust. »Ich würde es dir ja erzählen, aber wenn du es nicht hören willst …«
»Bitte, Gerlinde, komm zur Sache!«
Mit einer fast unmerklichen Bewegung machte sie mich auf das ältere Ehepaar aufmerksam, das mit gezückter Gesundheitskarte geduldig an der Rezeption wartete. Ich verdrehte die Augen. Trotzdem tat ich Gerlinde den Gefallen und zog mich mit ihr in mein Büro zurück.
»Also?«
»Ich habe die Tropfen der Pangerls analysieren lassen«, gestand mir meine Sprechstundenhilfe, kaum dass wir alleine waren. »Werner hat das arrangiert. Gratis, natürlich.«
Dunkel erinnerte ich mich an die Worte unseres Botenfahrers, mit dem ich am Freitag im Treppenhaus zusammengestoßen war: Bleibt unter uns. Ich krieg das hin
. Okay, jetzt wusste ich zumindest, wovon er gesprochen hatte.
»Aber warum?«, erkundigte ich mich überrascht. »Wir wussten doch schon, dass die Pangerlsche Allergie von diesem Zeug kommt.«
»War nur so eine Idee.« Gerlinde verzog das Gesicht. »Vielleicht eine dumme, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, wir sollten wissen, was in diesen Tropfen genau drinnen ist. Vielleicht ist es ja was Gefährliches.«
Als ich nach dem vorläufig letzten Patienten gegen 13 Uhr meine Mails öffnete und auf die Analyse des Labors stieß, traute ich meinen Augen kaum: Die Tropfen enthielten, wie erwartet, Tulsi – aber auch Spuren von Ephedrin, derselben Substanz, die im Körper der Toten von Dipolding gefunden worden war!
Jörg ging nicht ans Telefon. Das machte mich zunehmend
wahnsinnig. Wie konnte er einfach nicht erreichbar sein, jetzt, wo ich vermutlich auf eine heiße Spur gestoßen war, was seine Tote in diesem Schlosspark betraf!
Die Tropfen standen in irgendeiner Verbindung zu dem Mädchen. Die Pangerls hatten dadurch Ephedrin zu sich genommen, in Minimaldosierung, das Mädchen in deutlich konzentrierterer Form. Als Medizinerin mit Ahnung von Pharmakologie wollte ich da nicht an einen Zufall glauben. Dass Ephedrin nicht in jeder Apotheke so einfach zu erwerben war, hatte ich Jörg ja bereits erklärt. Der Zusammenhang lag für mich auf der Hand: Die Tropfen der Pangerls mussten aus demselben Labor stammen wie das Rauschmittel, das die Tote noch zu Lebzeiten zu sich genommen hatte. In Gedanken stellte ich mir ein dunkles, miefiges Hinterhoflabor vor, wie ich es in einer Doku über chinesische Arzneimittel-Fälscher gesehen hatte, mit teilweise schon rostigen Destillationsanlagen und Filtersystemen. Vermutlich waren die Geräte nach der Herstellung der einen, bewusst ephedrinhaltigen Substanz nur unzureichend gereinigt worden, ehe die nächste produziert wurde – was die Spuren von
… im Laborbericht erklärte.
Diese mit Rauschdrogen versetzten, selbstgemixten Arzneimittel kursierten also in Aichendorf! Laut Jörg hatte die Droge in Kombination mit Alkohol und körperlicher Anstrengung bei diesem Mädchen zum Herzstillstand geführt. Was, wenn mehrere Leute die gefährliche Substanz erhalten hatten? – Vielleicht war dann die Tote im Dipoldinger Schlosspark erst der Anfang einer Reihe von ephedrinverseuchten Leichen, die demnächst in irgendwelchen Gärten lagen oder beim Joggen im Wald ihr Leben ließen, weil ihr Herz versagte! Meine Phantasie ging mit mir durch. Ich stellte mir Jörg vor, der flankiert von Gerichtsmedizinern und Amtsärzten von einer zur nächsten eilte.
Und dann schoss es mir heiß ein: Veleda! Von ihr hatte Katharina die Tropfen.
Ich warf einen kurzen Blick auf das Handy in der Hoffnung, irgendeine Rückmeldung von Jörg erhalten zu haben – vielleicht ein SMS, dessen Piepston ich in meinen Grübeleien überhört hatte und in dem er mir mitteilte, dass er mich in Kürze zurückrufen werde.
Doch nichts. Jörg war anscheinend zu beschäftigt, mit was auch immer.
Ich musste die Angelegenheit wohl ohne polizeiliche Unterstützung in Angriff nehmen. Bis zur Nachmittagssprechstunde blieb genug Zeit. Aber ehe ich mich auf den Weg nach Deggenbach machte, um Veleda ins Kreuzverhör zu nehmen, musste ich noch etwas anderes erledigen …
Frankziska Stockmüller – um die fünfzig, Typ graue Maus – war nicht nur meine Patientin, sondern vor allem Katharinas Sekretärin. Seit über zehn Jahren fristete sie an einem Pult im Vorzimmer der Kanzlei ihr Dasein und sorgte unter anderem dafür, dass hier nicht dasselbe Chaos herrschte wie in der Privatwohnung gegenüber. Je besser ich Katharina und ihre Probleme kannte, desto klarer sah ich, wie herausfordernd der Job einer Rechtsanwaltsgehilfin in der Kanzlei Habler sein musste. Dass die Stockmüller unter leichten Depressionen litt und sich im Winter von einer Erkältung zur nächsten hangelte, überraschte mich jedenfalls nicht mehr.
»Sie ist drüben«, ließ sie mich wissen, noch ehe ich nach Katharina gefragt hatte. »Aber sie ist erst vor einer knappen halben Stunde vom Gericht zurückgekommen, und jetzt …«
Der Bote eines Zustelldienstes, der ein großes Paket in der Hand hielt, sorgte für abrupte Unterbrechung. Während Franziska Stockmüller die Formalitäten regelte, zog ich mich zurück und läutete gegenüber.
Die Zeit, bis hinter der festen Flügeltüre irgendein Lebenszeichen zu vernehmen war, kam mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Dafür hörte ich dann Katharinas Gelächter und eine Männerstimme umso deutlicher.
Während ich zu der Feststellung kam, dass ihr Sozialleben wohl doch nicht so sehr von Einsamkeit geprägt war, wie sie es mich hatte glauben machen wollen, ging die Tür auf. Mit wem auch immer sie
gerechnet hatte – die Person, die mit offenem Mund dastand, war eindeutig ich. Denn Katharina trug nichts anderes als ihren
Seidenkimono. Dass dies nicht der Aufzug war, in dem sie bei Gericht gewesen war, lag auf der Hand.
Ich hatte meine Sprache noch nicht wiedergefunden, als ich den Mann hinter ihr registrierte: in unserem Alter, Halbglatze, Kinnbart, kaum größer als sie selbst. Da er diesmal keinen Anzug, sondern Jeans und Pulli trug, verstrichen ein paar Sekunden, bis ich den besorgten Parteikollegen wiedererkannte. Albert Reiter hatte im Rathaus an Katharinas Seite gekniet. Mir dämmerte, weshalb …
»Ah, die Frau Doktor Hofmann. Heute Nachmittag gar nicht im Dienst? – Arzt müsste man sein, da geht’s einem gut!«
Benommen schüttelte ich die Hand, die sich mir entgegenstreckte. Sein dummer Kommentar ließ mich endgültig versauern. Ich schwieg.
»Also, Kathi«, rief Reiter, als er begriff, dass von mir nichts weiter kam. »Wenn du wieder was von mir brauchst – du kannst dich jederzeit melden!«
»Danke, Albert. Fürs Erste bin ich versorgt.«
Sie verabschiedeten sich mit einem vertraut wirkenden Wangenkuss. Dann bat sie mich herein. Die olfaktorische Mischung aus leichtem Ölgeruch und kaltem Rauch, die mir entgegenschlug, war mir inzwischen schon fast vertraut. Irgendwo surrte etwas.
»Was führt dich hierher?«, erkundigte Katharina sich fast beiläufig. Ich folgte ihr in die Küche. Die beiden schmutzigen Sektgläser waren nicht zu übersehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie jetzt ein drittes aus dem Schrank nahm und für mich befüllte, brachte das Fass zum Überlaufen.
»Was ist das hier? Eine Durchlaufstation für sexuell Bedürftige aus Aichendorf und Umgebung?«
Sie fuhr herum, das gefüllte Glas in der rechten Hand, die Sektflasche in der linken.
»Hast du irgendein Problem, Gesine?«
Auf ihrer Stirn bildeten sich zwei steile Falten. Ihre Stimme klang frostig.
»Was soll das, Katharina? Sekt und Sex, ist das dein Nachmittagsprogramm für alle, die dich besuchen kommen?«
»Und wenn das so wäre, was geht es dich an?« Sie hob die Brauen.
»Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.«
Ich lachte auf, obwohl mir nicht nach Lachen zumute war. Dass ich von ihr offensichtlich in dieselbe Schublade eingeordnet wurde wie Albert Reiter, Karl Weller und wer sonst noch ihre Gastfreundschaft hin und wieder genießen durfte, war so verletzend wie demütigend.
»Nein, natürlich nicht. Du kannst tun und lassen, was du willst – nichts anderes machst du ja sowieso schon, und man sieht, mit welchem Ergebnis!«
»Hör auf.« Sie stellte Glas und Flasche abrupt ab und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das Problem mit euch Lesben ist, dass ihr alle einen Knall habt. Ihr könnt nie einfach nur Sex haben. Da muss gleich immer ein Gefühlszirkus draus gemacht werden!« Sie unterstrich ihre Worte mit einer theatralischen Geste. »Irgendwie habe ich gehofft, du wärest da etwas entspannter. Aber nein, jetzt tauchst du hier auf und …«
Sie verstummte. Anscheinend dämmerte ihr in diesem Moment selbst, welch lächerliche Nummer sie gerade abzog. Bisher hatte sie nicht einmal im Ansatz danach gefragt, weshalb ich ihr unangemeldet einen Besuch abstattete.
Ärger und Enttäuschung vermischten sich in mir zu einem schmerzhaften Gefühlswirrwarr. Ich wollte mich einfach umdrehen und gehen. Doch die Gewissenhaftigkeit besiegte meine gekränkte Seele. »Ich komme wegen dieser Tropfen, die du nimmst«, erklärte ich betont sachlich. »Sie sind möglicherweise mit einer Substanz kontaminiert, die auch im Körper der Toten von Dipolding gefunden wurde.«
Katharina sah mich einfach nur schweigend an, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Gib mir die Tropfen, damit ich feststellen kann, ob das wirklich so ist«, setzte ich schließlich hinzu. »Katharina! Es geht hier immerhin um einen Mordfall.«
Mein Gegenüber runzelte die Stirn. »Und was genau habe ich damit zu tun? Hältst du mich für die Mörderin oder für das nächste Opfer?«
Mein Ärger wuchs. Katharina war keine dumme Frau.
Ausgeschlossen, dass sie den Zusammenhang nicht begriff.
»Na bitte.« In ihrer Stimme lag leiser Triumph. »Glaube bloß nicht, dass ich dir auf blanke Vermutungen meine Tropfen aushändige. Mir hilft das Zeug.«
»Du machst dich strafbar, wenn –«
»Bist du die Polizei, Gesine?«, fiel sie mir ins Wort. »Nein. – Also misch dich nicht in mein Leben ein.«
Prima. Da machte ich mir Sorgen um ihre Gesundheit, und alles, was ich dafür bekam, war eine klare Abfuhr.
Ich sah ein, dass jede weitere Diskussion auf einen Akt von Masochismus hinausliefe.
»Wie du meinst.«
Auf dem Flur kam mir unter anschwellendem Surren ein flaches, rundes Ding aus dem Schlafzimmer entgegen, das den Parkettboden mit winzigen Besen und Bürsten polierte. Ich wich ihm aus, warf die Wohnungstüre hinter mir zu und eilte die Treppe hinunter, zwei Stufen auf einmal nehmend.
Froh, dass ich diesmal mit dem Auto gekommen war, ließ ich mich auf den Fahrersitz gleiten und verharrte dort Augenblicke lang bewegungslos. Mein Puls raste. Die Auseinandersetzung hatte mich aufgewühlt. Ich war maßlos enttäuscht von Katharina, aber auch wütend auf mich selbst.
Ihre abrupt wechselnden Launen waren bekannt, und über ihre diversen Liebhaber tratschte ganz Aichendorf. Seit sie hier wohnte, lebte sie alleine, auch um ihren kleinen Freundeskreis war es nicht allzu gut bestellt. Und das lag vorwiegend an Katharinas schwierigem Charakter: ihrer Uneinsichtigkeit, ihrer Sturheit, ihrer oft provokativen Art. Sie war eine Meisterin in der Kunst, jemanden emotional fernzuhalten. Gerade hatte ich es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Es tat weh.
Doch vermutlich hatte ich diesen Ernüchterungsschlag in die Magengrube gebraucht, um wieder klarzusehen. Katharina war klug, sogar höchst intelligent. Ich schätzte unsere Gespräche. Sie hatte einen feinsinnigen Humor. Das alles hatte mich tatsächlich dazu verleitet, davon zu träumen, dass ich einen anderen Stellenwert bei ihr hatte als die Männer, mit denen sie angeblich Affären gehabt
hatte oder auch immer noch pflegte.
Unweigerlich stieg Ekel in mir auf, als ich mir vorstellte, wie sich ihre Bekanntschaft mit Albert Reiter gestalten mochte. Ich schüttelte mich.
Während ich in Richtung Deggenbach fuhr, fasste ich einen festen Entschluss: Nie wieder würde ich mich von dieser Frau einlullen lassen!
Veleda war bekannt für ihre unkonventionelle Kleidung, doch diesmal schoss sie den Vogel ab: Zu einem buntgestreiften Wollponcho trug sie giftgrüne Leggins und rote, bis zu den Knien reichende Lederstiefel. Geblendet von dem farbenprächtigen Aufzug, in dem sie mir die Haustüre öffnete, blinzelte ich sie sekundenlang einfach nur an.
»Frau Hofmann. Welch Überraschung!«, sagte sie, doch die Irritation in ihrer Stimme blieb mir nicht verborgen. Sie versuchte sich anscheinend einen Reim auf mein Erscheinen zu machen. »Wie kann ich helfen?«
»Indem Sie mich über Ihren illegalen Arzneimittelhandel aufklären.« Ich wollte nicht lange um den heißen Brei herumreden.
»Meinen was?« Veleda starrte mich entgeistert an.
»Anton Pangerl, Tropfen – Katharina Habler, Tropfen – klingelt da was bei Ihnen?«
»Ach so, das.« Die hagere Frau machte eine belanglose Geste. »Jetzt regen Sie sich doch nicht gleich so auf, nur weil ich Ihrer geliebten Pharmaindustrie Konkurrenz mache! Höchste Zeit, dass jemand was gegen diese Mafia tut und die Leute wieder daran erinnert, dass es auch alternative Heilmethoden gibt! – Außerdem, keine Sorge: Wenn irgendetwas schiefgeht, hätte ich Sie ja eh verständigt, liebe Frau Doktor!«
Ich war kurz davor, mir mit der Hand gegen die Stirn zu schlagen. Veleda war zu weltfremd, um zu kapieren, dass sie sich strafbar gemacht hatte. Ihre Unterstellung, dass es mir nicht um das Wohl der Menschen, sondern rein um das der Pharmaindustrie ging,
ärgerte mich dennoch.
»Ja, und zufällig ist jetzt etwas schiefgegangen«, fuhr ich sie daher unwirsch an. »In einer Ihrer Wunderarzneien wurde Ephedrin nachgewiesen. Ebenso bei einer jungen Frau, die in Dipolding tot aufgefunden wurde. Das stand in der Zeitung, vielleicht haben Sie davon gelesen oder gehört. Da stellt sich mir die Frage, was Sie mit dem Fall zu tun haben könnten.«
»Was?!« Auf Veledas Gesicht malte sich echtes Entsetzen. »Nichts!«, brach es aus ihr hervor. »Was soll ich denn damit zu tun haben? Glauben Sie wirklich, ich bringe plötzlich irgendwelche Leute um? Warum sollte ich das tun?«
Gute Fragen.
Sie zwang sich, bewusst tief auszuatmen. »Vielleicht sollten wir das in Ruhe besprechen«, schlug sie schließlich vor.
»Ja, das wäre sicher besser«, bestätigte ich und folgte ihr nach drinnen. Seit meinem ersten und bisher einzigen Besuch hatte sich im Inneren des Hauses nicht viel verändert. Es roch nach Curry und Räucherstäbchen. Im Vorzimmer hingen große, bunte Tücher an den Wänden. Von der Decke baumelte eine riesige türkische Lampe, die den Raum in dämmriges Licht tauchte. Auch in der Wohnküche, in die sie mich schließlich bat, erinnerte das Interieur eher an einen orientalischen Bazar als an ein altes Deggenbacher Bauernhaus.
Eingenommen von der Einrichtung, sah ich die schmale Gestalt eines jungen Mannes, der hastig durch die Hintertüre verschwand, nur aus den Augenwinkeln. Ich ließ meine Beobachtung unkommentiert. Dass Veleda des öfteren Männer mit teilweise ungeklärtem Aufenthaltsstatus bei sich beherbergte, ging mich im Grunde nichts an.
»Kaffee?«, fragte sie unwirsch.
»Gerne.« Vielleicht entspannte dies die Situation.
Sie hantierte gerade mit einer altmodischen Espressokanne am gusseisernen Ofen – ein Überbleibsel aus alter Zeit –, als zwei Frauen in die Stube traten, beide um die fünfzig und in bodenlange grüne Umhänge gehüllt. Sie verneigten sich vor Veleda, nahmen mich nicht einmal zur Kenntnis.
»Herrin, wir melden uns gehorsam zur Meditation.«
»Jetzt nicht.« Veleda wedelte mit der Hand, als ginge es darum, Hühner in den Stall zu treiben, und die Frauen wichen ein paar Schritte zurück. Dann straffte sie die Schultern und verkündete getragen: »Die Meditation findet heute Nachmittag um vier statt. – Ihr dürft euch entfernen.«
Mit wachsendem Erstaunen sah ich zu, wie die beiden sich nochmals verneigten, ehe sie sich zurückzogen.
»Herrin
?«, erkundigte ich mich irritiert. »Was ist das hier? Ein Dominastudio?«
»Also, bitte!« Veleda klang beleidigt. »Die Frauen haben bei mir ein Vier-Tages-Seminar gebucht, um mit ihrem übersinnlichen Ich in Kontakt zu treten!«
»Ich dachte, Sie bieten Seminare im Bereich der Lebensberatung!« Inzwischen erfüllte Kaffeearoma den Raum, durchmischt von Curry und Räucherduft. Mit einem flauen Gefühl im Magen nahm ich die Espressotasse in Empfang.
»Ich musste mein Angebot erweitern«, erklärte Veleda mir ohne Umschweife. »Das Geschäft ist in letzter Zeit nicht mehr so gut gelaufen. Die Frauen wollen mittlerweile etwas anderes.«
»Und was sollte das sein?«
»Übersinnliches. Pseudoreligiöses. Irgendwas in der Art«, sprach es Veleda auch schon aus. »Das habe ich Ihnen doch schon auf diesem italienischen Fest gesagt. Frauen auf Sinnsuche wollen sich inzwischen nicht mehr mit sich selbst auseinandersetzen, die wollen an etwas glauben. An eine höhere Macht. An jemanden, der ihnen den Weg weist. Der Regeln und Gesetze vorgibt. Also habe ich mein Angebot erweitert: Spirituelles Coaching. Aura-Beratung. Hellsehen.«
Veleda, die Geschäftsfrau. Von dieser Seite kannte ich sie noch gar nicht. Oder? Die Frage brachte mich auf den eigentlichen Grund für meine Fahrt nach Deggenbach zurück.
»Sprechen wir über Ihre Tropfen und die Tote in Dipolding. Ephedrin gehört zu den Suchtmitteln. Bezug und Anwendung obliegen bestimmten gesetzlichen Auflagen. Abgesehen davon brauchen Sie eine Lizenz, um Arzneimittel zu produzieren und mit ihnen zu handeln.«
»Arzneimittel, Medikamente!« Veleda schüttelte den Kopf. »Was soll denn der Unsinn? Glauben Sie, ich braue das Zeug selbst zusammen? – Ich habe doch nur ein paar Kräutertropfen weiterverkauft! Nichts Medizinisches aus dem Pharmalabor!«
Damit hatte ich schon gerechnet.
»Und von wem haben Sie die Tropfen?«
»Das darf ich nicht sagen.« Veleda wirkte fast schon trotzig. »Ich habe eine Verschwiegenheitsklausel unterzeichnet. Niemand kann mich zwingen, einen Vertrag zu brechen!«
»Gut.« Auch diese Antwort war wenig überraschend. Ich kippte den Espresso hinunter und erhob mich. »Dann werde ich eben bei der Polizei melden, dass Sie Medikamente mit gefährlichen Inhaltsstoffen vertreiben. Ich kann Ihnen jetzt schon garantieren: Die werden den ganzen Hof auseinandernehmen! Da möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken, wenn herauskommt, dass Sie ein paar illegale Bewohner …«
»Kein Mensch ist illegal!«, fuhr Veleda aufgebracht dazwischen. Sie war aufgesprungen und stellte sich mir in den Weg. Ihre Augen funkelten kämpferisch.
»Aber Ihr Treiben ist es!«, schmetterte ich zurück, bemüht, mir nicht anmerken zu lassen, dass ihr Blick mich einschüchterte. »Jetzt reden Sie schon: Von wem bekommen Sie das Zeug? – Sie wollen gewiss nicht, dass noch mehr Leute sterben!«
»Jetzt machen Sie sich doch nicht lächerlich, Frau Doktor!« Veleda verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe keine Ahnung, wie es in mein Medikament gekommen ist. Aber gestorben ist von meinen
Kunden bisher kein einziger!«
Sie erhob sich und verließ das Zimmer. Augenblicke später kam sie mit einer handgeschriebenen Liste zurück.
»Hier. Das sind meine zwölf Bezieher.«
Ich überflog die Namen. Die Pangerls standen auf der Liste, auch Katharina.
»Nur so wenige?«
»Was denken Sie denn? – Ich habe mit dem Vertrieb ja gerade erst angefangen … einen Kundenstamm muss man sich aufbauen!«
»Tja, und in dem Fall ist der Anfang gleichzeitig das Ende.«
Ich faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Hosentasche. Die Dealerin wider besseres Wissen verzog säuerlich das Gesicht.
»Heraus damit, von wem bekommen Sie die Tropfen?«
Mit einem Seufzer ließ Veleda sich mir gegenüber nieder.
»Ich habe an einen Kräuterkurs teilgenommen, vor ungefähr zwei Jahren. Da lagen auf einmal diese Zettel mit einer Mailadresse auf den Tischen. Dort sollte man sich melden, wenn man Interesse an einer Zusammenarbeit hätte. Ich habe einen eingesteckt und erst einmal vergessen. Vor einem halben Jahr ist er mir wieder in die Hände gefallen, und ich dachte: warum nicht? Ein Zubrot kann nicht schaden.«
»Haben Sie diesen Zettel noch?«
Veleda schüttelte den Kopf.
»Ich kann Ihnen die Mailadresse aufschreiben.« Sie kannte sie auswendig; schrieb sie vor meinen Augen auf einen Notizzettel. »Aber ich glaube nicht, dass die Ihnen antworten. Die suchen sich ihre Leute schon aus.«
»Ach ja?«
»Sie haben ja nicht einmal den Kräuterkurs gemacht!«
Veleda betrachtete mich mit einer Mischung aus Mitleid und Verwunderung – so, als könne sie nicht fassen, dass ich auf diesen einfachen Zusammenhang nicht selbst gestoßen war.
»Na, das kann ich nachholen!«, konterte ich salopp, entschlossen, mit dieser Causa auf meine Weise umzugehen.
»Wenn Sie meinen. Dann schreibe ich Ihnen wohl besser auch noch auf, wo ich meine Weiterbildungskurse mache.«
Mit einer Bereitwilligkeit, die mich überraschte, kritzelte sie noch ein paar Zeilen auf den Zettel.
Nach der Nachmittagssprechstunde bewarb ich mich bei der Firma Light & Fire
unter dem Mädchennamen meiner Mutter als Vertriebspartnerin. Ich hielt den Text bewusst oberflächlich. Das Mail kam schon Augenblicke später wieder zurück. Die Adresse war nicht mehr aktiv.