Hunger, Habgier und ein Handy
Iris wachte auf. Es war stockdunkel im Schlafsaal, doch das war es mittlerweile fast immer und ohne jeden Hinweis darauf, wie viel Uhr es sein mochte. Das Gefühl sagte ihr aber, dass noch einige Stunden verstreichen würden, ehe der Gong sie zum Aufstehen aufforderte.
Im Bett gegenüber hustete sich Irma die Seele aus dem Leib. Vor rund einer Woche hatte Doro mit einer heftigen Erkältung gerungen und prompt Ruth angesteckt. Beiden ging es mittlerweile wieder besser, doch nun hatte es Irma erwischt. Den ganzen Tag wurde sie von Hustenanfällen geschüttelt. Die Kräutermischungen, die Iduna den Kranken reichte, schlugen bei ihr anscheinend weniger gut an.
Iris dagegen quälte wieder der Hunger. Inzwischen konnte sie sich die Hose über die Hüften ziehen, ohne sie zuvor aufzuknöpfen. Eine im Ziegenstall gefundene Schnur diente ihr als Gürtel, damit sie sie nicht beim Gehen verlor. An der mageren Verpflegung hatte sich nichts geändert – außer, dass sie immer noch monotoner wurde. Seit fünf Tagen gab es zum Frühstück nur noch ein Glas Ziegenmilch und zwei Scheiben Brot, mittags und abends eine dünne Kartoffel- oder Kohlsuppe. Der Apfel, den es mittags zum Dessert gegeben hatte, war ihr wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen. Satt gemacht hatte er natürlich genauso wenig wie die Suppe. Manchmal war ihr Hunger so groß, dass sie sogar die Melasseschnitzel kaute, die als Futtermittel für die Ziegen dienten. Die Versuchung, beim Melken etwas für sich selbst abzuschöpfen, war oftmals groß. Doch sie traute sich nicht. Fylla, die Küchenfrau, maß die Milch im Kübel akribisch genau ab.
Was sie an Entbehrung zu ertragen hatten, kam ihr unmenschlich vor, doch noch immer protestierte keine, nicht einmal Kathleen. Irgendetwas stimmte mit ihr ohnehin nicht. In den vergangenen Wochen war sie zur Schweigerin geworden. Iris wusste nicht recht, was sie davon halten sollte. Einerseits war sie erleichtert, dass Kathleen nicht mehr an allem herummeckerte und sie mit nervigen Fragen über Lumenaria in Ruhe ließ, andererseits hatte Kathleen mit ihr noch wirklich geredet. Wenn die anderen sprachen, dann nur über Dämonen, die die Seelen der Unwissenden fraßen, und über die Reinigung ihrer eigenen Seelen, um Erleuchtung zu erlangen.
Bryndis predigte ihnen mit unerbittlicher Härte. Zeitweise kam sich Iris vor wie zu Schulzeiten. Im Grunde ging es die ganze Zeit nur noch darum, wer sich was besser merken konnte, wer bei welchem Test die meisten Punkte bekam, wer in der Gunst der Meisterin derzeit am höchsten stand und vor allem, wer wann auserwählt werden würde, jetzt, wo Marion zum Unverständnis aller hingeschmissen hatte. Iris fühlte sich inzwischen teilweise genauso einsam und allein wie damals, als sie noch draußen gelebt hatte, in der Welt der Unwissenden. Von schwesterlicher Gemeinschaft war für sie hier nichts mehr zu erkennen.
Umso wichtiger war es ihr, der Meisterin zu gefallen. Sie sehnte sich nach deren lobenden Worten, nach Anerkennung. Begierig saugte sie das vermittelte Wissen auf. Andererseits glaubte sie manchmal, das Leben hier am Hof nicht mehr aushalten zu können. Es waren nicht nur der Hunger und die innere Einsamkeit, die ihr zusetzten, sondern auch die Kälte.
Die wenigen Öfen heizten das große Gebäude nie ausreichend. Ihr war ständig kalt. Selbst nachts trug sie inzwischen den mit Schaffell gefütterten Umhang, der eigentlich für ihre Arbeit im Freien gedacht war.
Jedes Mal, wenn sie glaubte, vor Elend gleich wahnsinnig zu werden, war die Meisterin ihnen persönlich gegenübergetreten und hatte einen flammenden Vortrag über die Notwendigkeit der Askese gehalten. Mit wenig auszukommen, stelle die Grundvoraussetzung dar, um in die vertiefenden Lehren von Lumenaria einzutauchen. Bisher hatte das stets genügt, um jeden Protest zu ersticken. Irgendwann würde sie erleuchtet werden. Sie musste nur durchhalten.
Irma hustete erneut. Allmählich klang es fast so, als würde sie gleich ersticken. Doro schnarchte lautstark. Irgendjemand grunzte. Dann quietschte ein Lattenrost. Trotz der Dunkelheit nahm Iris wahr, dass eine der Frauen auf Zehenspitzen in Richtung Tür schlich. Durch einen schmalen Spalt schob sie sich nach draußen. Der Gestalt nach war es Ruth, die einstige Vorstandsassistentin. Iris wusste über sie nicht viel, außer dass sie weder einen Partner noch Kinder gehabt hatte. In jungen Jahren mochte sie hübsch gewesen sein – ihre vollen Lippen und die hohen Wangenknochen wiesen darauf hin. Umrahmt wurde ihr noch immer puppenhaftes, aber nun mit Falten durchzogenes Gesicht von halblangem blonden Haar, in das sich von Woche zu Woche mehr graue Strähnen zu mischen schienen.
Die Frau, die im Schlafsaal sehr herrisch auftrat, während sie sich den Erleuchteten gegenüber unterwürfig zeigte, war ihr nicht ganz geheuer. Sie ging Ruth daher bewusst aus dem Weg.
Iris’ Magen knurrte vernehmlich. Wieder einmal war der Hunger so übermächtig, dass sie wusste, sie würde bis zum Erklingen des Gongs kein Auge mehr zutun und völlig übermüdet in den Tag starten. Das Schnarchen und Husten um sie herum machten die Situation nicht leichter.
Tagsüber war der Hunger zumindest kurzfristig mit einer Tasse Kräutertee zu bekämpfen, von dem Fylla großzügig ausschenkte. Iris fiel ein, dass die Kanne am Abend noch halbvoll gewesen war. Sie wusste, wo sie stand: auf dem Küchentresen, rechts neben der Essensausgabe.
Es war besser, Ruths Rückkehr abzuwarten, doch die war offensichtlich auf der Toilette festgewachsen … Bemüht, möglichst wenig Lärm zu machen, erhob sich Iris von ihrer Matratze. Im Schlafsaal war es noch einigermaßen warm. Der Kanonenofen war vor dem Schlafengehen noch einmal mit Holzscheiten gefüllt worden, die nachglühten. Im Treppenhaus dagegen schlug ihr klirrende Kälte entgegen. Frierend zog sie ihren Umhang an der Brust dichter zusammen – und verharrte mitten auf der Treppe, als sie erregte Stimmen vernahm.
Der Wortwechsel, an dem ihrem Gehör nach zwei Frauen beteiligt waren, kam aus dem Büro der Meisterin. Unter der Tür drang Licht auf den Flur.
Der Eingang zum Speisesaal und von dort aus zur Küche lagen gegenüber. Iris zögerte. Sollte sie es wirklich wagen, die Tür zu öffnen, obwohl die Meisterin und wohl eine der Erleuchteten wach und im Disput waren? Damit hatte sie nicht gerechnet.
»… Fehler … gehäuft … böser Schnitzer … wieder einmal versagt …«
Einzelne Worte drangen auf den Gang. Die Stimme war lauter geworden. Eine Stimme, die Iris sofort wiedererkannte – es war die Stimme des Lichtwesens! Sie erinnerte sich noch genau, wie es am Lumen -Fest zu ihnen gesprochen, sie vor den Dämonen gewarnt hatte. Und wie sie, Iris, anschließend geflogen war, von übersinnlichen Kräften beseelt.
Ansonsten war ihre Erinnerung an diese Nacht wie weggeblasen. Manchmal blitzten Fragmente in ihrem Gedächtnis auf – ein Donnergrollen, der Wind, der über den See fegte, Lichter, der Geruch von gebratenem Fleisch. Ob all das mit dieser Nacht zu tun hatte oder ihrer Phantasie entsprang, vermochte sie nicht zu sagen.
Am nächsten Morgen waren sie und alle anderen in ihren Betten aufgewacht. Ihr Schädel hatte sich angefühlt, als würde er in Kürze explodieren, und ihre Glieder waren schwach. Erst nach der kalten Dusche ging es ihr besser.
»… unverzeihlich … du wirst dafür büßen …«
Die Stimme klang so böse und herrisch, dass Iris Zweifel kamen. Konnte es denn wirklich sein, dass das Lichtwesen hier war? – Es erschien doch nur zu Festtagen!
»… konnten nicht wissen … dummer Fehler … Sicherheitsvorkehrungen getroffen … nicht, wie es passieren konnte …«
Iris stockte der Atem. Bei der Frau, die jammerte wie ein Kind, dem Prügel angedroht worden waren, handelte es sich um niemand anderen als die Meisterin!
Von Neugierde getrieben, schlich sie sich auf Zehenspitzen an die Tür heran und presste ihr Ohr gegen das Holz.
»Wir haben eine Vereinbarung«, sagte das Lichtwesen mit klarer Stimme. »Und ihr haltet euch nicht daran – weil ihr offensichtlich unfähig seid, auf eine Gruppe dämlicher Frauen aufzupassen! In anderen Worten: Ihr bekommt von mir alles, gebt aber nichts! Und das seit Jahren!«
»Es wird alles anders werden«, begann Bryndis weinerlich, doch die andere fuhr ihr ins Wort: »Ein einziger Fehltritt noch, und dieses Projekt wird gestoppt! Ich muss dir nicht sagen, was das für dich und die deinen bedeutet! – Bestenfalls kannst du beim Arbeitsamt stempeln gehen. Eine Frau wie du, in deinem Alter, mit deiner Historie, ist da draußen chancenlos! Wenn es weniger gut läuft, kannst du gemeinsam mit deiner Freundin Karin in der Gefängnisküche kochen! – Ich werde euch alle vernichten, und du weißt sehr gut, dass ich die Macht dazu habe!«
»Bitte … bitte nicht! Gnade!«
Die Meisterin, die sonst so bestimmt und überlegen auftrat, weinte und flehte. Es klang einfach erbärmlich.
Dass das Lichtwesen sich in Bewegung gesetzt hatte und nun ganz gewöhnlich durch die Türe treten würde, statt erleuchtet und von geheimen Kräften getragen davonzufliegen, wurde Iris erst klar, als sich die Türklinke bereits nach unten bewegte.
Panisch flüchtete sie in den Speisesaal. Die Dunkelheit umfing sie dort wie ein schützender Mantel. Mit klopfendem Herzen lauschte sie den schnellen Schritten am Gang und dem leisen Quietschen der sich öffnenden Haustüre.
Das Lichtwesen verschwand. Aber wohin?
Vorsichtig schlich Iris zum Fenster und zog den Vorhang ein wenig zur Seite. Die Silhouette einer Frau in Mantel und Hut bewegte sich im Lichtkegel der Strahler, mit denen der Hof beleuchtet wurde. Zügig marschierte sie in Richtung des Eisentors, das Außenstehenden den Zugang unmöglich machte. Sie streckte ihren rechten Arm nach vorn. Das schwere Hoftor öffnete sich wie von Geisterhand. Die Frau marschierte hindurch und verschwand in der Dunkelheit.
Auf einmal fühlte Iris eine Berührung an ihrer rechten Schulter. Mit einem leisen Aufschrei fuhr sie herum. Trotz der Dunkelheit erkannte sie ein Gesicht, das genauso erschrocken wirkte wie sie selbst.
»Bist du wahnsinnig?«, zischte Ruth. »So herumzuquietschen! Willst du, dass das ganze Haus aufwacht? Geh zurück in den Schlafsaal. Du hast hier nichts zu suchen!«
»Aber …«, setzte Iris an, doch ein Rascheln im hinteren Bereich der Küche ließ sie abrupt verstummen. Kein Zweifel: Sie waren nicht allein. »Die Meisterin«, flüsterte sie entsetzt.
»Blödsinn«, kommentierte Ruth, klang aber nicht ganz überzeugt. Trotzdem schlich sie nun um die Theke herum in Richtung Küche. Nach einem Augenblick des Zögerns folgte Iris ihr. Es war besser, gemeinsam mit Ruth von der Meisterin entdeckt zu werden, als ihr alleine gegenüberzustehen.
Die Scheinwerfer des Hofes leuchteten durch das vorhanglose große Fenster in die Küche und tauchten den Raum in fahles Licht. Die Gestalt, die im weißen Nachthemd am Boden kauerte und sich an den Holzpanelen zu schaffen machte, war klar erkennbar.
»Wusste ich es doch!«, stieß Ruth hervor.
Kathleen zuckte zusammen und sprang auf. Iris glaubte zu erkennen, dass sie einen kleinen silbernen Gegenstand in ihrem Ärmel verschwinden ließ.
»Was machst du hier?«, fragte Iris, die sich keinen Reim auf das alles machen konnte. Hatte Kathleen nicht im Bett gelegen, als sie den Schlafsaal verließ?
»Na, was wird sie wohl hier machen!« Ruth stieß ein trockenes Lachen aus. »Dasselbe, was du wolltest: Essen stehlen!«
»Nein, ich wollte bloß …«
»Tu nicht so scheinheilig, Ruth! Als ob du nicht dasselbe vorhattest!«, fuhr Kathleen dazwischen, und Iris blieb fast das Herz stehen. Warum musste sie so laut reden? Wusste sie nicht, dass die Meisterin im Parterre herumgeisterte? – Wenn Kathleen schon länger hier war, konnte ihr der heftige Wortwechsel doch nicht verborgen geblieben sein!
»Was für eine Unterstellung!« Ruths Augen blitzten böse. »Ich halte mich an die Regeln der Askese, die mich auf den Weg der Erleuchtung bringen!«
Kathleen schnaubte. »Diese Diät hier bringt dich eher ins Grab! – Manchmal frage ich mich wirklich, ob euer Verstand erst hier flöten ging oder ob ihr sowieso von vornherein ein Vakuum im Hirn hattet!«
Sie trat einen schnellen Schritt auf Ruth zu. Ehe es diese verhindern konnte, riss sie ihr das verknotete Tuch aus der Hand. Vier Scheiben Vollkornbrot, eine Semmel und zwei Äpfel kamen zum Vorschein.
»Von wegen Askese!« Kathleen lachte höhnisch. »Vollstopfen wolltest du dich!«
»Gib her!«
Ruth wollte ihre Beute an sich reißen, doch Kathleen dachte nicht daran, die kostbaren Lebensmittel freizugeben. Eine Rangelei entstand, bei der Äpfel und Vollkornbrot zu Boden fielen. Geistesgegenwärtig griff Iris nach beidem und stopfte sich ein Stück Brot in den Mund.
Der zweite Apfel rollte durch die Küche und prallte ausgerechnet gegen den blechernen Eimer, in dem sie morgens die Ziegenmilch sammelten.
»Hallo?«
Das Öffnen der Bürotür und Bryndis’ Stimme am Gang ließ sie alle drei stocksteif in der Bewegung innehalten. Nach der ersten Schrecksekunde lösten sie sich aus der Schockstarre. Wie auf ein geheimes Kommando hin flüchteten sie durch die Hintertüre und eilten durchs Treppenhaus hinauf und in den Schlafsaal. Iris war es zuvor noch gelungen, den verräterischen Apfel an sich zu nehmen. Mit klopfendem Herzen und den beiden Äpfeln lag sie unter ihrer Bettdecke.
Es verstrich keine Minute, und das Licht im Schlafsaal ging an.
»Was ist hier los? Haltet ihr die Nachtruhe etwa nicht ein?«
Es war die Stimme der Meisterin. Iris gab ihren Plan auf, sich schlafend zu stellen. Das grelle Licht, die schneidende Stimme und die Geräusche der anderen, die aus dem Schlaf aufgeschreckt worden waren oder zumindest so taten, hätten sie verdächtig gemacht, wenn sie ruhig liegen geblieben wäre.
Die Meisterin ließ ihren Blick über die Betten schweifen. Er blieb an Irma hängen, die hustend aufrecht saß, an ihrer Seite Ruth, die ihr beruhigend den Rücken klopfte. Offenbar hatte sie es nicht mehr bis zu ihrem Bett am Ende des Schlafsaals geschafft und daher zu einer Notlösung greifen müssen.
»Irma geht es sehr schlecht«, erklärte Ruth auch schon.
»Und wie willst du ihr helfen? Indem du auf ihrer Bettkante sitzt, Streicheleinheiten verteilst und alle anderen vom Schlafen abhältst?« Die Stimme der Meisterin triefte vor Sarkasmus.
Trotz der Furcht, die sie erfüllte, staunte Iris insgeheim darüber, wie herrisch diese Frau schon wieder auftreten konnte. Keine Viertelstunde war vergangen, seit sie vor dem Lichtwesen noch kleinlaut gejammert hatte.
»Von uns kann sowieso keine schlafen.« Es war das erste Mal seit langem, dass sich Kathleen wieder aktiv zu Wort meldete. »Irma hustet die ganze Nacht!«
Wie zum Beweis wurde die Kranke erneut von einem schlimmen Hustenanfall geschüttelt. Ihr Gesicht wurde dabei ganz rot und sie rang nach Luft.
»Iduna wird sich um sie kümmern«, verkündete die Meisterin. »Jede von euch geht in ihr eigenes Bett. Bald bricht der Tag an. Ihr habt nicht mehr viel Zeit zum Schlafen.«
Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand. Iris fiel ein Stein vom Herzen. Jede Sekunde hatte sie damit gerechnet, dass die Meisterin Verdacht schöpfen, ihre Betten durchsuchen und bei ihr auf die Äpfel stoßen würde.
Wohin war der Brotrest wohl verschwunden? Woher hatte Ruth überhaupt die Nahrungsmittel? Und was hatte es mit dem eckigen silbernen Ding auf sich, den Kathleen im Ärmel versteckt hatte? Sie kam vorerst nicht dazu, sich weiter den Kopf zu zerbrechen, denn nun betrat Iduna den Raum. Sie trug einen Becher bei sich, den sie Irma an die Lippen setzte. Die Kranke leerte ihn mit gierigen Zügen. Dann sank sie zurück auf ihre Matratze und schloss die Augen. Iris rechnete damit, dass auch Iduna sich nun wieder zurückziehen und endlich Ruhe im Saal herrschen würde, doch es kam anders: Gunlod und Fylla betraten den Schlafsaal. Zu dritt hoben sie Irma unsanft auf und schleppten sie weg.
Die Türe fiel hinter ihnen ins Schloss.
»Was … was ist hier eigentlich los?« Doro rieb sich verschlafen die Augen. »Hier geht es heute zu wie in einem Wartesaal! – Wo warst du so lange, Kathleen? Und du, Ruth?«
»Ich weiß zwar nicht, was dich das angeht, aber ich war auf dem Klo.« Kathleen klang gereizt. »Wenn man mit nichts als Suppe abgefüllt wird, ist es nicht weiter verwunderlich, wenn der Darm rebelliert, oder?«
»Und ich habe nach Iris geschaut.« Ruths Stimme klang ruhig und bestimmt. »Ich habe mir Sorgen um sie gemacht, nachdem sie ja auch so lange weg war.«
Iris war fassungslos. Ruth war schließlich vor ihr gegangen!
»Wir sollen nachts den Schlafsaal nicht verlassen«, belehrte Doro sie.
»Klar, ich hätte auch ins Bett pinkeln können!« Kathleen schnaubte verächtlich. »Machen wir uns nichts vor«, sagte sie dann sachlich. »Wir wissen doch in Wahrheit alle ganz genau, was Ruth und Iris da draußen getrieben haben: Sie haben Essen gestohlen! Wir wissen alle, wie das funktioniert; jede von uns macht das doch so!«
Ungläubig blinzelte Iris in die Dunkelheit. Jede? Zum ersten Mal hörte sie davon! Sie hatte bis zu dieser Nacht geglaubt, die Kühlkammer sei versperrt, und den Schlüssel trüge Fylla um den Hals. Wie und woher sollten sie Essen stehlen?
»Und wenn schon!«, schmetterte Ruth ihr entgegen. »Meinst du etwa, ich will hier verhungern? – Wir kriegen viel zu wenig!«
»So sind die Hausregeln. Wir alle haben ihnen zugestimmt, als wir Lumenaria beigetreten sind! Irgendwann wird sich unser Körper schon darauf einstellen. Bisher ist niemand hier verhungert«, erwiderte Doro.
»Da wäre ich mir nicht so sicher.« Kathleen bedachte sie mit einem verächtlichen Blick. »Wer weiß schon, was mit Marion wirklich passiert ist!«
»Sie hat die Ausbildung abgebrochen und …«, begann Doro, doch Ruth überging sie. »Du glaubst ja wohl auch alles! Kathleen, rück lieber das Essen heraus; wir haben Hunger!«
»Ich habe nichts, Ruth!« Wie zum Beweis schlug sie ihre Bettdecke zurück, erhob sich und schüttelte sie demonstrativ vor allen anderen aus. »Du selbst hast das Zeug doch gebunkert!« Kathleen klang nun müde, fast schon genervt.
»Was für ein Unsinn!« Ruth saß noch immer auf dem Bett, in dem noch vor Minuten Irma gelegen hatte. »Als ob ich nicht mit euch teilen würde, wenn ich was hätte! – Bleibt nur noch eine, die mit unten war …«
Doro starrte Iris an. Neid und Argwohn funkelten in ihren Augen. »Teil es gefälligst mit uns!« Mit zwei Sätzen war sie bei ihr. Riss die Bettdecke weg. Stürzte sich auf sie wie eine wilde Hyäne. Iris versuchte erst gar nicht, sich zu verteidigen. Triumphierend hielt Doro die Äpfel in den Händen.
»Ha! Sieh einer an! – Aber … ist das alles?« Ungläubig musterte sie Iris, die noch immer starr vor Schreck auf ihrer Matratze lag. »Ihr riskiert den Zorn der Erleuchteten, und alles für zwei lächerliche Äpfel?!« Ihre Stimme überschlug sich fast.
»Pst! Leise, du weckst noch alle auf!« Ruth klang leicht verärgert. »Anstatt uns hier gegenseitig zu zerfleischen, sollten wir lieber zusammenhalten. Zwei Äpfel sind besser als nichts. Wir sind vier Frauen. Also bekommt jede einen halben.«
Sie hob die Matratze ihres Bettes an. Iris war regelrecht perplex, als sie Augenblicke später ein kleines Taschenmesser in deren Hand aufblitzen sah. Hatten sie nicht jeglichen Privatbesitz abgeben müssen?
»Iris hat im Übrigen schon Brot gegessen«, fügte sie beiläufig hinzu, während sie sich von Doro die Äpfel aushändigen ließ.
Iris setzte an, um zu protestieren, biss sich aber in letzter Sekunde auf die Lippen. Es stimmte ja, sie hatte ein Stück Brot heruntergewürgt. Wenn sie nun sagte, dass Ruth oder Kathleen irgendwo die anderen Scheiben versteckt haben mussten, würden beide es ableugnen. Bestimmt war es klüger, zu schweigen und sich die beiden nicht zu Feindinnen zu machen.
Doro schickte ihr einen geringschätzigen Blick, während Ruth die Früchte teilte.
»Aber … wenn ich jetzt etwas esse, dann wirft mich das im Reinigungsprozess zurück.« Doro hatte die Apfelhälfte schon in der Hand, als ihr plötzlich Zweifel kamen.
»Dann gib wieder her. Wenn du lieber verhungern willst, bitte. – Aber solltest du uns verraten, bist du fällig.«
Die eindeutige Geste, die Ruth mit dem Taschenmesser entlang ihrer Kehle vollführte, ließ Doro zusammenzucken. Iris drückte sich tiefer ins Kissen. War das die Gemeinschaft, von der sie in den ersten Monaten so überzeugt gewesen war? Die bittere Erkenntnis, dass es hier nicht anders zuging als in der Welt der Unwissenden, traf sie mit aller Wucht.
»Ich muss euch nicht verraten.« Doro klang beleidigt. »Die Erleuchteten sehen sowieso alles. Sie wissen, was hier vor sich geht! Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn die Meisterin gleich noch einmal erscheint und euch alle vernichtet.«
»Du klingst schon fast wie Irma!«
Kathleen lachte kurz auf. Auch Ruth grinste.
Zu ihrer Verwunderung steckte sich Doro nun doch das Apfelstück in den Mund.
Ich werde euch alle vernichten, und du weißt sehr gut, dass ich die Macht dazu habe .
Genau dieser Satz war in dem Gespräch gefallen, das sie belauscht hatte. Das Lichtwesen hatte ihn gesprochen, und Bryndis’ Reaktion darauf – ihr verzweifeltes Flehen – gab Iris zu denken. Die Meisterin hatte offenbar an die Allmacht des Lichtwesens geglaubt, sonst hätte sie wohl kaum so gejammert … Ihre Macht war also eindeutig begrenzt. Aber was, wenn es stimmte und das Lichtwesen wirklich alles sah? Wenn es beispielweise sah, was hier im Schlafsaal vor sich ging …?
Ruth streckte ihr eine Apfelhälfte entgegen.
»Hier, nimm. Auch wenn du es dir nicht verdient hast!«
Iris traf ihre Entscheidung.
»Ihr könnt meinen Teil unter euch aufteilen. Ich möchte nicht gegen die Regeln erstoßen.«
Kathleen schlug sich gegen die Stirn.
»Du und Doro, ihr seid so geistig beschränkt, dass es schon wehtut!«
Iris verzog das Gesicht. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Irgendwann würde sie die einzige Auserwählte sein, während die anderen weiterhin im Schlafsaal froren und sich an gestohlenen Äpfeln erfreuten. Sie dagegen würde zum Inneren Kreis gehören. Was auch immer das Lichtwesen und die Meisterin da besprochen hatten – es war vermutlich besser, dem nicht so viel Beachtung zu schenken und lieber die Lehren von Lumenaria zu verinnerlichen. Deren oberste Macht war das Lichtwesen, das Erleuchtung oder Vernichtung bringen konnte … Bryndis war nicht mehr als seine Handlangerin.
Der nächste Morgen brach viel zu früh an. Es war noch dunkel, als der Weckgong ertönte. Die kalte Dusche brachte Iris einmal mehr zum Zähneklappern.
Zum Frühstück gab es diesmal Ziegenmilch und einen Haferbrei, der den Magen füllte. Iris war stolz darauf, dass sie in der Nacht zuvor der Versuchung widerstanden hatte, die Regeln der Askese zu brechen. Es war gar nicht nötig gewesen. Niemand verhungerte. In dem Punkt hatte Doro recht, und sie musste es ja wissen, schließlich war sie schon fast drei Jahre hier.
Sie hatte ihre Schüssel gerade ausgelöffelt, als der Innere Kreis den Saal betrat. Bryndis klatschte dreimal in die Hände, bis alle zu ihr aufsahen. Ihr finsterer Blick verhieß nichts Gutes.
»Wir haben Verräterinnen unter uns.«
Iris’ Puls begann zu rasen. Schweiß brach ihr aus. Ruth starrte in die halbvolle Schüssel mit Brei. Doro biss sich angespannt auf die Fingernägel. Lediglich Kathleen schien der unheilverkündende Satz nicht aus dem inneren Gleichgewicht zu heben. Sie trank ihre Ziegenmilch, als ginge sie das alles nichts an.
»Verräterinnen, die gegen die Regeln verstoßen.« Die Meisterin ließ ihren Blick über die vier Frauen schweifen.
»Als ihr bei uns eingetreten seid, habt ihr einen Vertrag unterschrieben«, erinnerte Bryndis sie. »Ihr habt mit eurer Unterschrift besiegelt, euch unseren Anordnungen zu unterwerfen und unsere zehn Gebote zu befolgen.« Sie wies mit dem Kinn auf Iris, der fast das Herz stehen blieb.
»Nummer eins! Wie lautet das vierte Gebot?«
Iris erhob sich mit weichen Knien. »Du sollst die Prinzipien der Askese befolgen.« Ihre Stimme zitterte.
»Und was gehört da dazu?«
»K…kein materieller Luxus. Verzicht auf Eigentum. Befolgung der Ernährungsregeln.«
»Wunderbar. Womit wir beim Thema wären. – Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie unendlich enttäuscht ich bin, dass hier ein Vertrauensbruch begangen wurde! Nicht nur, dass ihr die Lehre von Lumenaria in Frage gestellt und eure Erleuchtung gefährdet habt. Nein, ihr habt uns auch noch hintergangen! Wir haben euch in einer Phase eures Lebens, in der ihr unglücklich und orientierungslos wart, Kost und Logis und die Aussicht auf eine wertvolle Ausbildung gegeben, und was wir von euch zurückbekommen, ist nichts als Undank! Ihr stellt unsere Glaubenssätze infrage und bestehlt uns!«
Die Meisterin machte einen Schritt auf den Tisch zu, an dem sie saßen. Iris, die immer noch stand, wich instinktiv zurück.
»Setz dich!«, fuhr Bryndis sie hart an, und Iris ließ sich gehorsam nieder. Ihre zitternden Knie hätten ein längeres Stehen sowieso nicht erlaubt. Sie sah zu Boden.
»Wir wissen, dass zwei von euch mehr Schuld auf sich geladen haben als die anderen«, sagte die Meisterin mit tragender Stimme. »Es wäre uns ein Leichtes, sie zu nennen. Aber wir wollen euch die Sache nicht ganz so einfach machen. Wir wollen, dass ihr selbst seht, wer von euch loyal ist, und wer den Weg zur Erleuchtung dagegen niemals finden wird. – Iduna, wenn ich dich bitten darf …«
Die hochgewachsene Frau trat an ihre Seite. »Es ist ganz einfach«, begann sie in ihrer sanften, einschläfernden Redeweise. »Entweder, die beiden, die die größte Schuld auf sich geladen haben, melden sich freiwillig und empfangen eine harte Strafe. Anschließend wird eine von ihnen Lumenaria verlassen müssen. Oder ihr bekennt euch allesamt für schuldig. Dann gibt es nur eine geringe Strafe und alle dürfen bleiben.« Sie schickte ihren Worten ein Lächeln hinterher.
»Wir geben euch eine Viertelstunde Zeit, euch zu beraten«, ergriff die Meisterin erneut das Wort. Damit begab sie sich, gefolgt von den anderen drei Frauen, zur Türe. Ehe sie den Saal verließ, drehte sie sich nochmals um. »Noch etwas: Da wir Erleuchteten alles sehen und hören, wissen wir ohnehin, wer von euch schuldig ist. Sollten sich also die Falschen zu einer Schuld bekennen, werdet ihr alle hart bestraft, und zwei von euch werden Lumenaria verlassen! – Es liegt in eurer Hand!«
Die Türe schloss sich.
Eine ganze Weile sagte keine etwas. Dann durchbrach Kathleen das Schweigen. »Das sind doch Psychospiele! Nur ein weiterer Schritt, um uns zu manipulieren. – Aber was soll’s! Mir reicht es sowieso. Ich bin froh, wenn ich hier rauskomme! Ich habe Essen gestohlen, ich bin schuldig! Ich will, dass sie mich heimschicken. Anders gibt es hier ja sowieso kein Entkommen!«
»So ein Unsinn«, widersprach Doro. »Du kannst jederzeit gehen!«
»Ach ja?« Kathleen lachte bitter. »Glaubst du etwa immer noch, dass die meterhohen Zäune, der Stacheldraht und die Bewegungsmelder im Hof dazu da sind, uns vor Eindringlingen zu schützen? Wer, glaubst du, sollte so ein irres Interesse daran haben, hier einzubrechen?«
»Du kannst ja gehen, aber ich will hier nicht weg!«, jammerte Doro. »Wo soll ich denn hin? Ich habe niemanden da draußen, zu dem ich kann! – Und überhaupt, ich habe doch gar nichts getan! Ich war die Einzige, die gestern in ihrem Bett geblieben ist, abgesehen von Irma!«
»Du hast genauso vom Apfel gegessen!«, wies Ruth sie unbarmherzig zurecht. »Also bist du auch schuldig!«
»Aber nur ein klitzekleines Stück!«
Während die beiden noch weiterstritten, überschlugen sich Iris’ Gedanken. Wenn das Lichtwesen wirklich alles sah, kannte es sicher ihren Plan, in der Küche bloß Tee zu trinken. Also wusste es, dass sie letztendlich nichts zu sich hatte nehmen wollen, und würde ihr das Stück Brot nachsehen …
»Ich bin unschuldig«, erklärte sie daher ohne Umschweife. »Es wäre unfair, mich für etwas bestrafen zu lassen, woran ich nicht die geringste Schuld habe. Ich bin dagegen, dass sich alle vor dem Inneren Kreis für schuldig bekennen. Kathleen und Ruth sind die Hauptverantwortlichen.«
»Okay, also ich geh gerne!« Kathleen lachte und löffelte ihren Haferbrei. Für sie schien der Fall erledigt.
»Ich denke nicht daran!«, fauchte Ruth aufgebracht. »Nach fünfunddreißig Jahren Demütigung dort draußen habe ich genug davon, die Dumme zu sein! Jetzt bin ich dran, die Zügel in der Hand zu halten! Wenn ich erleuchtet bin, werde ich mich an allen rächen, die mich in den vergangenen Jahrzehnten kleingehalten haben! Ich lasse mir das nicht nehmen, und ich werde nicht riskieren, dass man mich hier rauswirft! Es kann mir ja niemand garantieren, dass Kathleen rausgeschmissen wird und nicht ich. Wir sind alle vier gleichermaßen schuldig!« Als jede Zustimmung ausblieb, richteten sich ihre Augen auf Iris. »Du bist doch da unten herumgegeistert! – Was hast du im Speisesaal zu suchen, wenn du angeblich keine Lebensmittel stehlen wolltest? Vielleicht heimlich dein Handy aufladen?«
Kathleen ließ den Löffel in die leere Schale fallen. »Was?«
Iris verstand die Welt nicht mehr. »Was für ein Handy? – Ich habe meines bei der Meisterin abgegeben, als ich herkam!«
»Ach ja?« Ruth lachte höhnisch. »Ich habe es aber beim Bettenmachen in deiner Matratze entdeckt. Fast wäre mir das Loch, in dem du es versenkt hast, gar nicht aufgefallen! Geschickt, geschickt, das muss man dir lassen! – Also, wer verstößt hier gegen Regeln?! Das bisschen Essen, dass wir hin und wieder mitgehen haben lassen, ist ja wohl harmlos dagegen!«
»Aber …«, begann Iris, doch Kathleen schnitt ihr das Wort ab.
»Wenn das so ist, sind wir beide schuldig. Also bekennen wir uns freiwillig, und die beiden anderen gehen straffrei aus! Eine von uns muss gehen – ich tu das mit Freuden. Und wenn es dich trifft, macht es doch auch nichts. Offensichtlich gibt es ja draußen noch jemanden, sonst bräuchtest du kein Handy!«
Iris setzte zum Protest an, doch in diesem Moment kamen die Erleuchteten zurück.
»Wie lautet eure Entscheidung?« Die Meisterin baute sich vor ihnen auf.
»Iris und ich sind diejenigen, die Schuld auf sich geladen haben«, sagte Kathleen selbstbewusst.
»Tatsächlich? – Dann müssen wir euch beide einer harten Strafe zuführen!« Die Meisterin ging um den Tisch herum und fixierte die Frauen mit stechendem Blick.
Iris kämpfte mit den Tränen. Ruths erleichterter Seufzer gab ihr den Rest. Sie fühlte sich verraten.
»Wir wissen aber, dass nur eine von euch beiden gegen die Regeln verstoßen hat.« Die Meisterin war stehen geblieben. »Und da ihr uns also auch jetzt anlügt, greift die Maßnahme, die wir schon angekündigt haben: Es werden alle hart bestraft, und zwei von euch werden uns verlassen!«
Kathleen stöhnte. Doro schrie gellend auf. Ruth presste die Lippen aufeinander. Iris konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten.
»Hör auf zu heulen!«, herrschte die Meisterin sie an und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass er heftig wackelte. Vor Schreck versiegten Iris’ Tränen. Mit weit aufgerissenen Augen erwartete sie schon den ersten Schlag.
Doch Bryndis hatte anderes im Sinn, als sich weiter mit ihr zu befassen.
»Nummer neun, du hilfst heute in der Küche. Nummer eins, du putzt das Haus. Nummer vier, du wirst den Ziegenstall ausmisten. Nummer fünf, du schichtest draußen Brennholz auf. Das Mittagessen entfällt heute, genauso wie die Meditation. Stattdessen werde ich euch verkünden, welche Bestrafung euch erwartet!«
Keine tat einen Mucks.
Wenig später schüttelte Iris die Betten im Schlafsaal auf. In ihr tobten Angst und Verzweiflung. Sie war sich sicher, dass sie in Wahrheit diejenige war, die die Erleuchteten für schuldig erachteten – nicht wegen der gestohlenen Nahrungsmittel, sondern weil Bryndis wusste, dass sie Zeugin ihres Streits mit dem Lichtwesen geworden war.
Und dann die Sache mit dem Handy … Konnte es sein, dass die Erleuchteten irrtümlich glaubten, sie hätte etwas damit zu tun? Als sie bei ihrem eigenen Bett angelangt war, untersuchte sie die Matratze. Sie entdeckte den länglichen Schlitz in der Mitte sofort. Warum war er ihr beim Betten überziehen zuvor nie aufgefallen? Iris gab sich die Antwort selbst: weil sie nie danach gesucht hatte.
Als sie hineinfasste, fühlte sie nur Schaumstoff. Trotzdem ließ der Gedanke, dass sie nächtelang auf einem Mobiltelefon geschlafen hatte, sie nicht los. Irgendeine aus dieser Scheingemeinschaft wollte sie sabotieren, wollte verhindern, dass sie auserwählt wurde! Irgendeine hatte wohl darauf spekuliert, dass das verbotene Kommunikationsmittel den Erleuchteten in die Hände fiel und ihr Ärger einbrachte.
Oder existierte dieses verdammte Ding vielleicht gar nicht? Vielleicht war die ganze Geschichte sowieso nur auf Ruths Mist gewachsen, um sie auszubooten! Je länger Iris darüber nachdachte, desto überzeugter war sie. Ruth hatte Essen gestohlen, Ruth wollte ihr ständig die Schuld zuschieben, Ruth hatte die Sache mit dem Handy erfunden.
In Zukunft würde sie sich mehr vor ihr in acht nehmen. Falls es für sie überhaupt eine Zukunft bei Lumenaria gab …