Eine Spermaprobe, ein Purpurmantel und eine Verrückte
»Nach Einsicht der vorliegenden Fakten besteht mein Mandant auf Abgabe einer Spermaprobe.«
Dr. Kurt Feichtenböcks bestimmender Tonfall stand in Einklang mit seinem gesamten Auftreten. Mit seinen knapp über eins siebzig Länge war der untersetzte Mittvierziger rund einen halben Kopf kleiner als Jörg. Dennoch ließ seine Körperhaltung keinen Zweifel daran, dass er über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und erfolgsorientiertes Denken verfügte. Sein Anzug – maßgeschneidert, nicht von der Stange – und sein auffälliges italienisches Schuhwerk unterstrichen diese Charakterzüge.
Jörg kannte den Anwalt, der zur Straubinger Stadtprominenz gehörte, von früheren Fällen und ahnte jetzt schon, dass sein Verdächtiger noch am selben Tag aus der Untersuchungshaft entlassen würde, wenn sie nicht weitere stichhaltige Beweise liefern konnten.
Auch Wendolin Hirscheck schien darauf zu vertrauen. Seit er sich nach der Nacht im Gefängnis nun doch dazu entschieden hatte, den Anwalt zu kontaktieren, wirkte er noch selbstgefälliger als am Vortag. Er schien sich prächtig über das Schauspiel, in dessen Zentrum er stand, zu amüsieren.
»Einer Spermaprobe?«, wiederholte Jörg überrascht. »Aber Herr Doktor Feichtenböck, aus den Unterlagen, die Sie einsehen durften, geht genau hervor, weshalb Ihr Mandant festgenommen wurde: weil er und das Opfer dasselbe zu Abend gegessen haben. Dass er mit ihr Sex hatte, war nie Thema!«
»Herr Hirscheck«, ergänzte Feichtenböck, »wird freiwillig eine Spermaprobe abgeben, um auszuschließen, dass er mit dem Opfer Geschlechtsverkehr hatte. Das wird ihn zusätzlich entlasten. Denn mit Verlaub, Herr Kommissar: dass die Frau zufällig ein Speckbrot zu Abend gegessen hat, beweist letztendlich gar nichts! Ein Glas Rotwein dazu und wir haben ein in Deutschland nicht so unübliches Abendessen.«
Glaubte der Anwalt selbst den Unsinn, den er hier erzählte?
»Das ist also alles Zufall: Marion Schwaiger hat zufällig dasselbe gegessen wie Professor Hirscheck, und zufällig ließ sie in seinem Schlosspark ihr Leben.«
»Beweisen Sie das Gegenteil«, konterte der Anwalt gelassen. »Abgesehen davon war mein Mandat zur Tatzeit längst im Flugzeug und kann der Frau nicht post mortem Alkohol eingeflößt haben. Sie müssen ihn also so oder so freilassen.«
»Ich muss vorerst gar nichts.« Jörg war zu lange im Job, um sich verunsichern zu lassen. »Ihr Mandant steht weiters in Verdacht, mit dem Mord in Verbindung zu stehen, Tatzeit hin oder her. Es geht auch um eine mögliche Beteiligung, und dabei reicht es durchaus, wenn entsprechende Vorarbeit geleistet wurde – beispielsweise, indem man die Frau vorsätzlich mit Rotwein betrunken macht und ihr Drogen verabreicht.«
»Drogen verabreicht!« Feichtenböck blies die Backen auf. Einen Moment lang erinnerte er Jörg an einen Karpfen. »Das wird ja immer wilder! Ich hoffe, Sie haben dazu bald irgendetwas in der Hand, was Ihren Verdacht stärkt!«
»Warten wir die Spermaanalyse ab«, erklärte Jörg. »Wenn Sie beide so scharf darauf sind, will ich Ihnen das Vergnügen nicht nehmen!«
»Der hat doch Dreck am Stecken!«, ließ der Ermittler seinen Gedanken freien Lauf, kaum dass die Türe des Büros hinter ihm ins Schloss fiel. »Der kuschelt mit Regierungen, die für ihre zweifelhaften Methoden im Umgang mit Regimekritikern berüchtigt sind! Von dem gibt es Fotos und Berichte über freundschaftliche Besuche bei quasi allen, die bei Amnesty International auf der Schwarzen Liste stehen! Und hier sitzt er neben seinem feinen Anwalt und gibt das ahnungslose Unschuldslamm!«
»Na ja, das eine hat ja mit dem anderen nichts zu tun«, wandte sein Kollege vage ein.
Jörg schenkte Frank Furtner einen vernichtenden Blick, während er mit langen Schritten im Raum auf- und abging. »Dieser Hirscheck publiziert Fachliteratur, die sich mit Bestrafungs- und Belohnungssystemen beschäftigt, und manipuliert in fragwürdigen Experimenten menschliches Verhalten … Der flog deshalb sogar von der Universität, hat einen Lehrstuhl aufgeben müssen! – Ich habe mich gestern über ihn im Internet schlaugemacht und glaub mir, Frank: Der Mann ist mit Vorsicht zu genießen!«
»Aber das alles hat nichts mit Marion Schwaiger zu tun«, wandte Furtner erneut ein. »Abgesehen davon, auch ich habe recherchiert: Er hat nicht nur wissenschaftlich publiziert, sondern auch einen Roman geschrieben. Future One . Irgendein utopischer Unsinn, vor ein paar Jahren im Eigenverlag erschienen. Ich habe ihn mir mal bestellt.«
»Ich glaube zwar nicht, dass uns das weiterbringt, aber wenn du meinst, viel Spaß beim Lesen.« Jörg hatte sich wieder unter Kontrolle. Resigniert ließ er sich auf dem Schreibtischstuhl nieder. »Gibt es eigentlich schon eine Nachricht vom Textilexperten?«
»Marion Schwaigers Hose und Umhang sind offenbar selbstgenäht, eher dilettantisch. Die Hose ist aus Leinen, Material Massenware, genauso wie der Stoff des Umhangs. Das Fell im Innenfutter stammt von einem gewöhnlichen Hausschaf. Also nichts Aufregendes. Im Gegensatz zu unserem Mantelfund …«
»Heißt?«
»Na ja, die umfangreiche Analyse steht noch aus, aber es ist jetzt schon klar, dass es ein extrem teures Ding ist. Um die zehntausend Euro ist der Mantel wert, schätzt er spontan.«
»Was?!« Im Aufspringen stieß Jörg gegen die Kaffeetasse. Er konnte gerade noch verhindern, dass sich der braune Sud über den Tisch ergoss.
»Ja. Der Mantel ist aus Samt, das Muster an der Vorderseite wurde mit echten Goldfäden gefertigt, und eingefärbt ist das Teil mit Purpur. Mit echtem Purpur. Von der Purpurschnecke.«
Furtner klang ehrfurchtsvoll, während vor Jörgs innerem Auge ein Pulk schleimiger Schnecken über Stoffbahnen kroch. »Okay«, sagte er gedehnt. »Und das ist was besonders Tolles?«
»Allerdings.« Frank Furtner ließ sich am Schreibtisch gegenüber nieder und entsperrte den Monitor. »Echter Purpur ist einer der teuersten Farbstoffe der Welt«, zitierte er von einer Website, die er sich offenbar schon zuvor aufgerufen hatte. »Die Farbtönung divergiert je nach Schneckenart, Geschlecht, Ernährung und Dauer des Färbeprozesses; die farbliche Spannweite reicht von grün über verschiedene Rosa- und Rottöne bis hin zu dunkelviolett, fast schwarz.«
»Und wer trägt so ein sündteures Stück?«
»Also … im Alten Rom waren mit Purpur gefärbte Kleidungsstücke den Senatoren vorbehalten … im Mittelalter den Kaisern …«
»Und im einundzwanzigsten Jahrhundert?«
Furtner hob die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht irgendwelche hohe kirchliche Würdenträger? – Ich werde mich da mal erkundigen.«
Knapp vier Stunden später stand Jörg gemeinsam mit zwei Uniformierten in der gemütlich eingerichteten Stube eines Bauernhauses in Apetzhausen, einem etwas größeren Dorf an der Landkreisgrenze zu Regensburg, und versuchte, sich auf die Szenerie, die sich ihm bot, einen Reim zu machen.
Eine in Wolldecken gehüllte Frau kauerte auf der Holzbank am wärmenden Kachelofen. Ihr Oberkörper wippte im Gleichtakt vor und zurück. Die blauen Augen waren in die Ferne gerichtet; es schien, als wäre sie in einer anderen Welt. Ab und zu gab sie ein heiseres Bellen von sich. Wenn sie nieste – was sie häufig tat –, zog sie den Rotz geräuschvoll nach oben.
»Die war vom Regen völlig durchweicht«, informierte ihn die aufgeweckte Pensionistin, die das Bauernhaus bewohnte. »Ich glaube, die ist schon länger draußen herumgelaufen. Angeblich aus Richtung der Bundesstraße. Sie ging über den Acker. Das hat zumindest der Semmler Edi behauptet. Deswegen hat sie auch so viel Erde an ihren Schuhen und der Strumpfhose kleben. Dann saß sie vor der Kirche.«
»Vor? Warum denn nicht drinnen?«, erkundigte sich Jörg, der sich noch immer wunderte, weshalb ihn die Streife hierher beordert hatte.
Die Rentnerin hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Der Herr Pfarrer hat sie da entdeckt und auch angesprochen, aber sie ist vor ihm weggelaufen. Irgendwann ist sie hier am Haus gestanden. Sie hat so hilflos gewirkt … So verloren, wie sie da im Regen stand … also habe ich sie hereingeholt.« Sie kehrte ihrem Gast den Rücken zu und senkte die Stimme. »Ich hab die Polizei gerufen. Das war mir dann doch zu unheimlich. Irgendetwas stimmt mit der nicht!«
Auf den Punkt gebracht, dachte Jörg, während er nun einen Schritt nach vorne machte und die Frau genauer betrachtete.
Ihr blondes, mit grauen Strähnen durchzogenes Haar hing feucht und zerzaust über den Schultern. Die Pupillen waren geweitet. Vermutlich hatte sie irgendwelche Drogen genommen. Das überraschte ihn. Wie der typische Junkie wirkte sie nicht, eher wie eine Patientin, die aus einer Betreuungseinrichtung für Behinderte oder psychisch Beeinträchtigte getürmt war.
»Habt ihr die Personalien schon festgestellt?«, wandte sich Jörg an die Uniformierten.
»Äh … nein.« Der Ältere der beiden, der immer noch zehn Jahre jünger sein mochte als er selbst, wirkte verlegen. »Das ging nicht. Die spricht nicht mit uns. Die wird nur aggressiv. Vorher ist sie auf uns losgegangen.«
»Und deshalb ruft ihr die Kripo?« Jörg glaubte sich verhört zu haben. »Die Frau gehört auf die geschlossene Psychiatrie!«
Verärgert darüber, dass ihn die Kollegen vom Schreibtisch weggerufen hatten, wollte er sich schon verabschieden, als sich der jüngere Streifenpolizist zu Wort meldete.
»Wegen des Umhangs! Deshalb haben wir Sie gerufen! – Ich war doch in Dipolding mit vor Ort. Erinnern Sie sich nicht an mich? – Ich war einer von denen, die sich um die Absperrung rund um den Weiher gekümmert haben!«
Jetzt, wo er es sagte, kam eine vage Erinnerung in Jörg auf. Dieses blasse, jugendliche Gesicht mit dem dünnen Oberlippenbart kam ihm tatsächlich bekannt vor.
»Sehen Sie …« Der junge Mann deutete aufgeregt über die Bank. Erst jetzt bemerkte Jörg die Kleidungsstücke, die auf einer Stange oberhalb des Kachelofens zum Trocknen hingen. Ein geblümter Sommerrock, eine fleckige, wahrscheinlich einmal weiße Rüschenbluse. Daneben ein olivgrüner Umhang, unter dem Schaffell hervorlugte. »Es gab noch eine Strumpfhose, aber die habe ich gleich weggeschmissen, so, wie die aussah – mit Löchern und Flecken! Genauso wie die Sandalen. Da hatte sich die Sohle schon gelöst. Billiges Zeug, nicht mal Leder.«
Sommerkleidung und durchgelaufene Sandalen, und das bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, ging es Jörg durch den Kopf, während er den Umhang von der Stange zog. Er war schwer – vollgesogen mit Wasser, das ihm jetzt entgegentropfte.
Unter den neugierigen Blicken der Kollegen und der alten Dame breitete Jörg das Stück auf dem gefliesten Boden aus und schob das Fellfutter zurück. Schiefe Nähte, unsauber vernäht – der Umhang war zwar größer, unterschied sich ansonsten aber nicht von dem, den sie bei der Toten in Dipolding gefunden hatten.
»Ich habe mir gedacht, Sie sollten sich selbst ein Bild von alledem machen«, erklärte ihm der junge Beamte. »Wir haben die Rettung sowieso schon verständigt; sie müsste bald da sein. Aber wir wollten Ihnen einen Vorsprung geben. Sonst wird sie aufgrund der Zuständigkeit nach Regensburg auf die Psychiatrie gebracht, und das wird dann alles kompliziert … ich meine, bis Sie mit ihr sprechen können. Sie wissen ja, wie das läuft: Da sind dann die Regensburger Kollegen dran, obwohl es ein Fall der Kripo Straubing ist, und bis Sie das über den Amtsweg klären …«
»Schon gut.« Jörg brachte den eifrigen Jungspund zum Schweigen. Als er die Enttäuschung in dessen Augen bemerkte, schob er jovial hinterher: »Gut mitgedacht. Aber die Dame braucht jetzt dringend einen Arzt.«
Wie zur Bestätigung seiner Worte musste die Frau erneut heftig niesen. Bevor sie die Nase wieder geräuschvoll hochzog, zückte Jörg eine Packung Taschentücher, die er in seiner Jackentasche bei sich trug, und trat auf sie zu. Da kam plötzlich Leben in die Unbekannte: Mit ungeahnter Energie sprang sie auf. Die Decken fielen zu Boden. Nur in weißer Baumwollunterwäsche, Marke Liebestöter, rannte sie zur Türe. Geistesgegenwärtig stellte sich ihr der ältere Uniformierte in den Weg.
Die Fremde warf sich erst gegen ihn, der die sichtlich Geschwächte mit Leichtigkeit abwehrte, dann brach sie heulend und jammernd zusammen.
»Fixieren?« Der jüngere Polizist warf Jörg einen fragenden Blick zu.
Jörg wehrte ab. Die Frau, die nun am Boden saß und sich die Haare raufte, schien völlig verstört. Dass Handschellen zu ihrer Beruhigung beitragen würden, bezweifelte er.
Ihr Körper sah seltsam unförmig aus. Mager und ausgezehrt wirkte er, den Falten am Rumpf nach musste sie früher übergewichtig gewesen sein. Die Haut war auffallend blass, fast so, als hätte sie ewig kein Sonnenlicht mehr gesehen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.
Im Kachelofen knackte Holz. Die Frau fuhr zusammen, dann starrte sie auf die Flammen, die hinter dem gläsernen Sichtfenster loderten, und stieß einen gellenden Schrei aus.
»Meine Kinder verbrennen! Sie sind da noch drinnen!« Mit ungeahnter Geschwindigkeit kroch sie auf allen Vieren zum Kamin. Die Polizisten konnten sie gerade noch davon abhalten, sich in das Feuer zu stürzen.
Als der Rettungsdienst und ein Streifenwagen beinahe gleichzeitig eintrafen, hatten sie die Verzweifelte auf dem Boden fixiert und ihre Hände auf den Rücken gedrückt. Viel Gegenwehr leistete die Frau ohnehin nicht. Der diensthabende Notarzt stellte sie mit einer Injektion ruhig, dann trugen zwei Sanitäter sie auf einer Bahre zum Krankenwagen. Als Jörg mit den beiden Beamten hinaustrat, hatten sich trotz der Dunkelheit und des Regens ein paar Menschen in der Hofeinfahrt versammelt und verfolgten neugierig das Geschehen. Blaulicht und Sirene hatten die Dörfler neugierig gemacht.
Einer löste sich schließlich aus der Menge und wandte sich direkt an den älteren Polizisten.
»Grüß Gott. Ich bin Jonathan Scheff, der Pfarrer hier. Vor der Kirche habe ich gerade noch was gefunden, ich glaube, das hat die Frau verloren.«
Er überreichte ein flaches, rechteckiges Dokument, etwas größer als eine Scheckkarte. Es war ein vor rund einem Jahr abgelaufener Personalausweis. Irma Pohl. Deutsche Staatsbürgerin. Das Foto ließ keinen Zweifel zu, wem er gehörte.
Als Jörg rund eine Dreiviertelstunde später ins Büro zurückkam, empfing ihn Furtner mit sauertöpfischer Miene.
»Schlechte Nachricht! Hirscheck ist wieder auf freiem Fuß. Laut der Untersuchungsrichterin gibt es keinen Grund, ihn weiter festzuhalten.« Frank Furtner atmete tief durch. »Die Richterin sieht keine Anhaltspunkte, dass Hirscheck irgendetwas mit dem Mord zu tun hat. Sie folgt damit quasi Feichtenböcks Argumentationslinie, dass der Professor zum Tatzeitpunkt nachweislich im Flieger saß und Speckbrot keine außergewöhnliche Mahlzeit sei. Außerdem bestehe bei Hirscheck grundsätzlich keine Flucht- oder Verdunklungsgefahr.«
»Und die Spermaprobe?«
»Das Mail mit der Analyse müsste mittlerweile auch in deinem Posteingang sein. Vorweg gesagt: Es wurde nichts gefunden. Lies es dir in Ruhe durch.«
Augenblicke später wusste Jörg, was Furtner meinte. Analysekauderwelsch hin oder her, eines war klar: Sie hatten tatsächlich nichts gegen Hirscheck in der Hand.
Dafür mit dem Auftauchen der Verwirrten im olivgrünen Umhang und dem teuren Purpurmantel in nächster Nähe der Toten zwei neue Aspekte, zwischen denen es eine Verbindung geben musste. Im Moment standen sie bei ihren Ermittlungen wieder ganz am Anfang.