Kräuter, Licht und Feuer
Mein Navigationssystem lotste mich in eine kleine Seitengasse. Als ich nach einigem Herumkurven einsah, dass ihr hier keinen Parkplatz finden würde, stellte ich mein Auto auf dem Großparkplatz am Hagen ab und ging den kleinen Hügel zu Fuß in die Stadt hinauf. Der unfreiwillige Abendspaziergang in der kühlen Herbstluft tat mir letztendlich gut, gelang es mir dabei doch, meine Gedanken zu sortieren.
Jörg hatte bisher weder auf meine Nachricht auf seiner Mobilbox reagiert noch im Büro abgehoben, wenn ich anrief. Dass er meinen Ephedrin-Nachweis in den Tropfen als so unwichtig erachtete, hatte mich anfangs geärgert. Mittlerweile war ich aber zu dem Schluss gekommen, dass er in seinem Mordfall möglicherweise vielversprechendere Spuren verfolgte.
Mir allerdings lag Veledas Handel schwer im Magen. Es war anzunehmen, dass sie nicht die einzige Vertriebspartnerin von Light & Fire war. Wenn von Jörg nichts kam, was blieb mir anders übrig, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen? – Im Grunde war ich ja auch froh um die Abwechslung. Ansonsten hätte ich vielleicht doch noch Energien darauf vergeudet, über meinen vorläufig letzten Besuch bei Katharina nachzudenken …
Nummer 16 war ein graues, zweistöckiges Stadthaus, das zwischen den im Baustil sehr ähnlichen Häusern dieser Straße nur deshalb auffiel, weil es wie von ihnen gestützt wirkte. Ein Sanierungsfall. Selbst im fahlen Licht der Straßenlaternen war erkennbar, dass der Putz von der Fassade bröckelte.
Hinter den Vorhängen im Parterre und auch im zweiten Stock brannte Licht. Die Türschilder an der Klingelanlage waren mehrfach überklebt worden. Auf zweien befanden sich türkisch klingende Namen, auf dem dritten tatsächlich die Aufschrift Light & Fire . Veledas Weiterbildungsstätte hatte zwar einen tragenden Namen, aber einen baufälligen Firmensitz.
Den Wegweisern im Inneren des Gebäudes folgend, stieg ich die schmale Treppe hinauf ins Dachgeschoss. Das Stiegenhaus war karg und schmucklos. Eine Funzellampe spendete jedem Stockwerk gerade noch ausreichend Licht. Umso überraschter war ich, als im Dachgeschoss zusätzlich zwei Laternen vor der einzigen Türe positioniert waren. Sie wirkten einladend und stimmungsvoll, ebenso wie das aufwendig gestaltete Türschild, das neben dem Firmennamen noch ein Flammenlogo aufwies.
Ich läutete. Es verstrichen keine zehn Sekunden, als auch schon geöffnet wurde.
»Bitte sehr, wie kann ich Ihnen helfen?«
Ungeschminkt, unfrisiert und mit einem Bäuchlein, das gewiss einer Vorliebe für Essen entsprang, präsentierte sich mir eine Frau, die ich eher im Ökoladen erwartet hätte als bei einem Weiterbildungsinstitut. Sie trug einen Strickpulli mit Norweger-Muster, der farblich mit ihrem braunen Lockenkopf harmonierte, dazu eine beigefarbene Leinenhose. Ihr astreines Hochdeutsch verriet mir, dass sie nicht in Bayern aufgewachsen war.
»Ich interessiere mich für Ihr Kursangebot«, sagte ich das Sprüchlein auf, das ich mir zurechtgelegt hatte. »Auf Ihrer Website steht, dass man sich persönlich informieren kann.«
Die Frau stutzte kurz. »Eigentlich vergeben wir hierfür Termine. Aber Sie haben Glück. Für heute Abend ist niemand sonst im Kalender eingetragen. – Kommen Sie rein!«
Ich folgte ihr durch einen grün und blau gestrichenen Gang in einen riesigen Raum, der offensichtlich hauptsächlich als Büro diente. Das Mobiliar war modern und zweckmäßig. Entlang den Wänden rankte sich das bekannte Regalsystem eines noch bekannteren Einrichtungsdiscounters, das gewöhnlich in keiner Studentenbude fehlte. Unter der Dachschräge gab es ein kleines, rotes Sofa, auf dem ich Platz nehmen durfte. Eine Stehlampe tauchte das Zimmer in warmes Licht. Auf dem Beistelltisch vor mir versprühte eine elektronische Duftlampe feinen, nach Zitronengras duftenden Nebel.
»Hätten Sie gern einen Tee?«
In Wahrheit wollte ich nur eines: wissen, wer die illegalen Substanzen produzierte, für die sie Vertriebspartner warb. Doch mit der Tür ins Haus fallen würde wohl nichts bringen.
»Gerne«, tat ich erfreut, und der Lockenkopf verschwand durch den Gang in ein Nebenzimmer.
Wie groß mochte das hier sein? – hundertzwanzig, hundertdreißig Quadratmeter bestimmt; es erstreckte sich immerhin über das gesamte Dachgeschoß. Während ich die Frau im Nebenzimmer hantieren hörte, sah ich mich genauer um. Viele Regale waren bis oben mit Büchern befüllt, andere enthielten reihenweise Ordner. Die Computerschrift auf deren Rücken war teilweise so groß, dass ich sie vom Sofa aus entziffern konnte.
EINSTEIGER – FORTGESCHRITTENE – MEISTERKLASSE – SPEZIELLES .
In der Reihe, in der SPEZIELLES stand, klaffte eine Lücke. Ein Ordner lag aufgeschlagen auf dem Schreibtisch neben dem Laptop, an dem die Frau wohl gearbeitet hatte, ehe ich gekommen war.
»So. Ich habe erst Wasser aufsetzen müssen, es dauert noch etwas«, rief es von draußen. Dann war sie zurück. »Aber darf ich mich erst einmal vorstellen: Sabine Erdlinger. Ich leite dieses Institut. Und Sie sind …?«
»Tabea Meisner.« Die Kombination aus dem Mädchennamen meiner Mutter und dem Vornamen meiner Schwester hörte sich sogar für mich, die sie geübt hatte, interessant an.
»Nun also, Tabea. Was sind Sie für ein Mensch?«
Sabine Erdlinger hatte sich mir gegenüber niedergelassen und sah mich freundlich, aber auffordernd an.
Ich schluckte. Auf Fragen dieser Art war ich nicht vorbereitet. Möglicherweise fiel mir trotzdem irgendetwas Verworrenes ein, ähnlich dem, was Veleda zeitweise von sich zu geben pflegte. Doch abgesehen von meinem falschen Namen wollte ich möglichst authentisch bleiben.
»Ich interessiere mich für die Kräuterkurse. Eine Freundin hat mir erzählt, sie hätte so viel bei Ihnen gelernt, und …«
»Wie heißt Ihre Freundin?«
Täuschte ich mich, oder lag da ein Hauch von Misstrauen in der Stimme?
»Veleda Mayerhofer.« Ich sah keinen Grund, den Namen zu verschweigen. »Sie hat mir kurz berichtet, was Kräuter alles bewirken können, und …«
»Veleda wie?« Sabine Erdlinger legte die Stirn in Falten. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »An den Namen kann ich mich jetzt spontan gar nicht erinnern.«
Bitte? Nun war ich daran, die Stirn zu runzeln. Wer einmal den Namen Veleda hörte und sie noch dazu kennenlernte, würde sich wohl selbst mit fortgeschrittener Alzheimer-Erkrankung noch erinnern!
»Was diesen Kräuterkurs betrifft: Da muss ich Sie leider enttäuschen. Das ist nichts, was wir Einsteigern anbieten. Dabei handelt es sich um etwas Spezielles.«
»Äh … inwiefern?«
»Na, unsere Kurse haben ja einige spirituelle Komponenten. Nicht alles, was in uns und um uns herum geschieht, lässt sich in wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten packen. Da gibt es bekanntlich noch eine dritte Ebene.«
Ah ja. Ich bemühte mich um ein neutrales Gesicht und brachte sogar ein Nicken zustande, während ich Veleda in Gedanken verwünschte.
»Womit sollte ich denn … dann einsteigen?«
»Oh, da können wir Ihnen viel bieten!« Sabine Erdlinger kam mit einem dicken Ordner zurück. »Nähkurse, Aurenbestimmung, Vorträge …« Sie schlug den Ordner auf. Irgendwann begann ein Teekessel zu pfeifen.
»Schauen Sie sich das schon mal an. Ich kümmere mich um den Tee!«
Schon war sie weg und ließ mich mit der Übersicht über ein umfangreiches Kursprogramm allein. Besonders die Vortragsreihe hatte es in sich.
Am Anfang der Ich-Werdung .
Wozu bin ich hier? – Ein Wegweiser durch den Sinn des Lebens .
Spiritualität & Liebe
Spiritualität & Erotik
Karmische Sexualität und Selbstfindung .
Na bumm. Und das war nur Seite eins!
Neben einer kurzen Inhaltsangabe, was die Teilnehmer zu erwarten hatten, fand sich auch der Name der Dozenten unter dem Titel. Kein einziger Name sagte mir etwas, aber bei den meisten stand ein Doktortitel davor. Unglaublich, worauf sich Menschen, die bereits wissenschaftlich gearbeitet hatten, einließen.
Da ich Sabine Erdlinger in der Küche mit Geschirr klappern hörte, stand ich auf und schlenderte zu den Ordnern mit der Aufschrift »Spezielles«. Letztendlich interessierte mich nur eines: Wer war die oder der Lehrbeauftragte für den Kräuterkurs? – Es war anzunehmen, dass die Handzettel mit der Anwerbung für den Medikamentenvertrieb auf sein beziehungsweise ihr Konto gingen.
Die Ordner waren alphabetisch sortiert: von A wie Askese bis J wie Jahreshoroskop, von L wie Lichtarbeit bis Z wie Zauber. Was fehlte, war ausgerechnet K wie Kräuter!
Ich wanderte zum Schreibtisch hinüber. Der aufgeschlagene Ordner. Mit zwei schnellen Schritten war ich um den Tisch herum – und traute meinen Augen kaum: Eine Teilnehmerliste aus dem Sommer vor rund zweieinhalb Jahren – und das unter der Überschrift MIT KRÄUTERN HEILEN . Ich entdeckte Veleda sofort, daneben ihre unverkennbare krakelige Unterschrift. Hastig überflog ich die anderen Namen. Bei einem blieb ich hängen: Marion Schwaiger.
Mein Herz setzte für ein paar Takte aus. Der Name der Toten von Dipolding – von der, wie in der Zeitung gestanden hatte, niemand wusste, wie und wo sie vor ihrem Tod zuletzt gelebt hatte!
Doch ehe ich mir einen Reim darauf machen konnte, hörte ich sich nähernde Schritte.
Ich schaffte es gerade noch, eine Armlänge Distanz zwischen mich und den Ordner zu bringen, ehe die Frau auch schon im Zimmer stand, ein Tablett mit Tassen und einer Kanne Tee in den Händen. Ihre Gesichtszüge vereisten, als sie mich beim Schreibtisch entdeckte. Während ich um eine Ausrede rang, fiel mein Blick auf den Monitor. Der Bildschirmschoner erwies sich als meine Rettung.
»Ich sah so wunderschönen Fotos von fernen Ländern«, sagte ich. »Haben Sie die alle bereist?«
»Natürlich nicht.« Sabine Erdlinger stellte das Tablett so schwungvoll auf den Couchtisch, dass der Tee trotz Deckel aus der Kanne schwappte. »Das sind vorinstallierte Fotos.«
»Oh!« Ich schlug mir theatralisch auf den Mund und kicherte verlegen, während mein Puls raste. »Und ich dachte schon, Sie seien da überall gewesen … na, egal.« Angesichts des Misstrauens in Sabine Erdlingers Gesichtszügen wollte ich hier nur noch weg. »Hören Sie, ich glaube, Ihr Kursprogramm ist wohl doch nicht das Richtige für mich«, erklärte ich daher ohne Umschweife. »Kräuterkunde hätte mich interessiert, aber mit Esoterik kann ich nichts anfangen.«
»Wie Sie meinen.«
Die Ökofrau klang jetzt schnippisch. Nichts an ihrer Haltung erinnerte noch an den freundlichen Empfang. Zum Abschied gab sie mir nicht einmal mehr die Hand.
Für mich der endgültige Beweis, dass sie die Teilnehmerliste nicht zufällig studiert hatte – und dass es eine eindeutige Verbindung zwischen der Toten und Light & Fire gab.
Warum um alles in der Welt hatte mir Veleda verschwiegen, dass sie das tote Mädchen gekannt hatte?