Dubiose Studien, rätselhafte Ziffern und magische Pilze
»Das alles belastet mich allmählich sehr.«
Dorothee Florence Hirscheck-Lahn saß in einem hellblauen Polstersessel in jenem salonähnlichen Raum, in dem Jörg Berger bei ihrem ersten Besuch auf Schloss Dipolding mit der Haushälterin gesprochen hatte, die Finger ineinander verknotet. Ihre Stimme klang genauso warm, voll und melodiös, wie er sie in Erinnerung hatte, doch ihm entging nicht, dass das Auftauchen der Kripo sie verärgerte. Diesmal wurde auch kein Kaffee serviert.
Wendolin Hirscheck stand hinter ihr. Seine Hände ruhten auf den Schultern seiner Frau.
»Auch wenn ich Ihnen noch ein bisschen übel nehme, dass Sie mich verdächtigt haben, leisten wir ja gerne unseren Beitrag, dass der Tod dieses armen Wesens aufgeklärt wird«, sagte er. »Aber wir können einfach nichts mehr für Sie tun, verstehen Sie? – Wir haben Ihnen bereits alles gesagt. Und dieses Kleidungsstück da«, er machte eine fahrige Geste hin zum Teetischchen, auf dem Jörg ein Foto des Purpurmantels platziert hatte, »haben wir noch nie gesehen!«
»Ist Ihr Kleid nicht aus demselben Stoff?« Jörg deutete auf das dunkelgrüne, lange Gewand, das die Hausherrin trug.
»Samt. – Ja, und?« Die Frau sah ihn und Frank Furtner verständnislos an. »Ihre Pullover sind auch aus ein und demselben Material. Polyester-Baumwoll-Mix. – Welche krude Schlussfolgerung lässt sich daraus ziehen? Dass Sie im selben Kaufhaus kaufen? Oder Kripobeamte denselben Geschmack teilen?«
Jörg hatte nicht vor, sich provozieren zu lassen.
»Es freut mich, dass Ihnen unsere Pullover so gut gefallen«, bemerkte er mit liebenswürdiger Ironie in der Stimme. »Trotzdem lässt sich das schwer mit einem teuren Unikat wie diesem ungewöhnlichen Mantel vergleichen, finden Sie nicht auch?«
Sie setzte mit säuerlicher Miene an, etwas darauf zu erwidern, doch die Haushälterin sorgte für Unterbrechung.
»Madame, Telefon für Sie.«
Auch diesmal wirkte Martina Peschner auf Jörg wie die perfekte Haushaltshilfe aus einem altmodischen Bilderbuch. Lediglich der Fleck auf dem weißen Blusenärmel passte nicht recht zum musterhaften Erscheinungsbild.
»Sagen Sie, ich rufe zurück.«
»Ich fürchte, das ist nicht möglich, Madame.«
Obwohl Martina Peschner keine Miene verzog, gewann Jörg den Eindruck, dass ein kurzer stiller Dialog zwischen den beiden Frauen vonstatten ging.
»Sie entschuldigen mich.«
Dorothee Florence Hirscheck-Lahn verließ schnellen Schrittes das Zimmer, gefolgt von der Haushälterin.
»Meiner Frau wird das allmählich zu viel«, ergriff Hirscheck das Wort. »Erst die Tote im Park, dann meine Verhaftung, immer wieder Polizei im Haus … Wir hatten uns eigentlich hier nach Dipolding zurückgezogen, um Kraft zu tanken. Ihre ständigen Interventionen sind da äußerst kontraproduktiv.«
»Kraft zu tanken – wofür? Für Ihre dubiosen Studien über Menschen, die Extremsituationen ausgesetzt werden? Oder für Ihre Beratung von afrikanischen und asiatischen Despoten im Umgang mit politischen Kontrahenten?«
»Oh, da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht.« Hirscheck ließ sich in dem Sessel nieder, wo zuvor seine Frau gethront hatte, und schlug leger die Beine übereinander. »Mit wem haben Sie geredet? – Ich kann es mir denken: mit Professor Doktor David Klindemann von der Uni Heidelberg, meinem ehemaligen Forschungspartner. Der Herr ist nicht gut auf mich zu sprechen.«
Kann man so sagen, dachte Jörg grimmig, dem das in der Früh geführte Telefongespräch mit dem Wissenschaftler noch gut im Gedächtnis war.
»Klindemanns Problem ist, dass er einen Minderwertigkeitskomplex hat«, fuhr Hirscheck ungerührt fort. »Er hat mir meine außeruniversitären Erfolge nicht gegönnt. Sein Vorteil war, dass er dem Dekan näher stand als ich. Und das hat letztendlich zu meinem Abgang dort geführt.« Er warf einen kurzen Blick auf Frank Furtner, ehe er sich wieder Jörg zuwandte. »Das kann Ihnen mit dem jungen Kollegen da auch mal passieren. Sie klären den Mord auf, freuen sich über den Erfolg – aber er läuft schon ins Büro Ihres Chefs und sägt an Ihrem Sessel!«
Furtner setzte sofort zu einer Entgegnung an, doch Jörg war schneller. Auf diese Art von kommunikativen Spielchen würden sie sich nicht einlassen.
»Klindemann und die Uni Heidelberg haben sich von Ihnen distanziert, weil Sie mit Ihrer Forschung in wissenschaftlich untragbare Bereiche abgeschlittert sind«, stellte er nüchtern klar. »Im Übrigen reicht schon ein Blick auf Ihre Publikationen, um zu wissen, dass Ihre Studien ethisch höchst fragwürdig sind. Das menschliche Individuum unter isolierten Bedingungen: Veränderung von Wahrnehmung, Bewusstsein und Beeinflussbarkeit , um nur einen Ihrer jüngeren Artikeln zu nennen!«
»Ich bedauere sehr, dass Ihnen meine Studienthemen nicht gefallen.« Wieder erschien ein süffisantes Lächeln auf Hirschecks Lippen. »Ich kann Ihnen natürlich nicht nehmen, dass Sie sich über mich informieren, staune aber doch über Ihre Prioritätensetzung. Kein Wunder, dass der Mörder der jungen Frau noch immer nicht gefunden ist, wenn die Polizei lieber in der Gegend herumtelefoniert und im Internet surft!«
In Gedanken bedachte Jörg den Professor mit einem derben Schimpfwort.
»Was ich mich die ganze Zeit frage: Wie kommen Sie als Psychologe eigentlich damit klar, dass Ihre Gattin Parapsychologin ist?«, meldete sich nun Frank Furtner zu Wort. »Ich meine: während Ihr Gebiet eine seriöse Wissenschaft ist, gilt die Parapsychologie ja als umstritten.«
Hirschecks Lächeln wurde breiter.
»Ich will Ihnen diese Frage gerne beantworten: Ich habe schlichtweg Respekt vor der Tätigkeit meiner Frau. Dorothee Florence ist …«
Die Rückkehr der Ebengenannten ließ ihn mitten im Satz verstummen. Dorothee Florence Hirscheck-Lahn nahm nun die Position ein, die er zuvor gehabt hatte: Sie stellte sich hinter den Sessel und legte ihrem Mann die Hände auf die Schultern.
»Von meiner Seite wäre alles geklärt«, eröffnete sie den beiden Ermittlern. »Ich bedaure, dass ich nicht weiterhelfen kann.«
Wirkte sie jetzt nicht noch angespannter? – Jörg war sich erst nicht sicher, sah seine Annahme jedoch bestätigt, als sie eine lästige Haarsträhne aus ihrem Gesicht streifte. Ihre Hand zitterte leicht.
»Darf ich fragen, mit wem Sie gerade telefoniert haben?«, hakte er direkt nach.
»Nein, dürfen Sie nicht.« Die schlanke Frau richtete sich kerzengerade auf. »Weil das Privatsache ist. – Hören Sie auf, meinen Mann und mich weiter zu verdächtigen! Wir haben diese junge Frau nicht auf dem Gewissen, so gerne Sie uns das auch unterschieben würden!«
»Wir wollen Ihnen gar nichts unterschieben.« Jörg sah ein, dass er im Moment hier nicht weiterkam, und stand auf. »Aber ich habe den Eindruck, dass dies nicht unser letzter Besuch bei Ihnen war!«
»Ah ja?« Hirscheck lachte. »Dann irrt Ihr Eindruck. Meine Gemahlin und ich werden demnächst für lange Zeit im Ausland weilen: Guatemala. Sie wissen dank Ihrer Recherche ja, dass ich als gefragter Vortragender ständig unterwegs bin.«
Seine Gattin wies mit einer eleganten Geste zur Tür. »Wenn ich bitten darf …«
Fünf Minuten später saß Jörg hinterm Steuer und startete den Wagen. Die Dämmerung war angebrochen. Obwohl er die Strecke vom Eingangstor zum Schloss und zurück inzwischen mehrmals gefahren war, fiel es ihm schwer, auf der schmalen Kiesstraße Spur zu halten. Die alten Bäume, die sich wie dunkle Riesen vor ihm auftaten, wirkten bedrohlich. Schatten lösten sich aus dem bewaldeten Dunkel, verloren sich, tauchten ganz plötzlich vor seinem Auto auf und zwangen ihn zu einer abrupten Bremsung. Zwei Augenpaare funkelten ihn an, um Sekunden später wieder zwischen den Bäumen zu verschwinden.
»Was war das denn?« Jörg nahm die Hände vom Lenkrad und atmete tief durch. Obgleich nichts passiert war, zitterte sein rechtes Bein leicht. Er hielt an, stieg aus, sah sich um. In der kühlen Herbstluft bildete sein Atem weiße Wölkchen. Es war vollkommen still.
»Irgendwelche Tiere«, kam es von Frank Furtner. Auch er war ausgestiegen. »Ganz schön unheimlich hier. Und ziemlich düster. Könnte mir vorstellen, da leicht die Orientierung zu verlieren, so ganz ohne Lampe.«
Jörg drehte sich um. In ein paar hundert Metern Luftlinie sah er Lichter im Schloss brennen.
Ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf: Marion Schwaiger, die in der Finsternis durch diesen Park lief – orientierungslos, nachtblind, in Panik. Vom Schloss her ertönte ein schriller Pfiff. Irgendwo im Gebüsch knackte es. Erst als die Kreaturen den hellen Vorplatz vor dem Schloss erreichten, konnte er erkennen, dass es die Jagdhunde waren.
Die beiden Ermittler stiegen ein und setzten ihre Fahrt fort. Sie hatten das offene Tor zur Straße bereits passiert, als Jörg seine Sprache wiederfand.
»Sie haben sie auf sie gehetzt.«
»Was? Auf wen?«
»Die Hunde auf Marion Schwaiger. Das erklärt für mich ihren entsetzten Blick. Sie muss geglaubt haben, irgendwelche Bestien wären hinter ihr her! Empfänglich für Irrationales war sie ja laut ihrem Bruder. Dazu die Drogen und der Alkohol. Und selbst ich finde es hier nachts unheimlich.«
»Aber … wer? Und warum?«
Furtner sah ihn verdutzt an.
»Hirscheck und seine abgedrehte Gattin, wer sonst! Alibis hin oder her, die hängen da knietief mit drin. Wie und warum, werde ich schon noch herausfinden!«
Furtner erwiderte nichts. Sein Interesse galt plötzlich der vorbeiziehenden niederbayerischen Landschaft, über die sich die Finsternis legte wie ein schwerer Mantel. Nach zehnminütiger Fahrt und zwanzig weiteren Minuten, die noch vor ihnen lagen, wurde Jörg das Schweigen zu dumm.
»Was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Nein.« Furtner fuhr sich nervös durch seinen Haarschopf. »Ich denke nur, dass du … wir uns da mit den Hirschecks in etwas verrennen. Vielleicht sollten wir andere Spuren verfolgen.«
Jörg wusste nicht, was ihn mehr ärgerte: dass Furtner seinen Verdacht nicht teilte oder dass es ihn dermaßen Überwindung gekostet hatte, ihm geradeheraus mitzuteilen, anderer Meinung zu sein. Verbissen konzentrierte Jörg sich auf die Straße. Dabei hatte er nie den höheren Dienstgrad vor sich hergetragen! Es dauerte ein paar Kilometer, ehe sich seine Enttäuschung und sein Ärger gelegt hatten. Auch wenn er bei seinem Verdacht blieb, eines stimmte: Für Recherchen in andere Richtungen hatte er sich bisher nicht viel Zeit genommen.
Und Gesine hatte er auch noch immer nicht zurückgerufen … Dass sie sich nicht mehr gemeldet hatte, ließ nur zwei Schlüsse zu: Entweder es war nicht so wichtig gewesen, oder sie war sauer.
»Was sagen eigentlich die Tattoostudios in der Umgebung über die rätselhafte Eins auf der Schulter der Toten?«, fragte er Furtner – in erster Linie, um sich von seinem schlechten Gewissen abzulenken.
»Bei denen in der Stadt konnte sich niemand daran erinnern, eine einfache Zahl tätowiert zu haben. Aber es gibt massenhaft Tattoostudios, und es kann sonstwo gestochen worden sein.«
»Allerdings steht ja im Bericht der Gerichtsmedizin, dass die Tätowierung relativ frisch ist«, erinnerte sich Jörg. »Und auch der Bruder kann sich nicht erinnern, dass Marion ein Tattoo trug. – Dass keiner eine einfache Zahl tätowiert haben will, überrascht mich übrigens. Wenn ich überlege, wen ich im Laufe meiner bisherigen Karriere so alles verhaftet habe, da waren viele mit Zahlen-Tätowierungen drunter.«
»Klar«, stimmte Furtner zu. »Aber meistens in Kombination mit irgendwelchen Symbolen, Zeichen oder Bildern. Und wenn nur die Zahl tätowiert wird, dann sind es Geburtsdaten, Jahreszahlen und so. Oder Artikelcodes. Binäre Zahlenfolgen. Außerdem bleibt ein Tattoo selten alleine – Leute, die sich einmal tätowieren lassen, haben ja meistens bald ein ganzes Bilderbuch auf der Haut.«
»So ist es. Wer einmal anfängt, kann nicht aufhören.«
In Gedanken an seinen jüngeren Freund, dessen schlanken Körper zahlreiche Tattoos überzogen, wurde sich Jörg Furtners Irritation erst bewusst, als dieser begann: »Hast du etwa …«
»Nein, nein, ich kenne da nur ein paar Typen, bei denen ist das so.«
Jörg hatte nicht vor, von Sascha zu berichten. Zwar wussten seine Kollegen, dass er mit einem Mann zusammen war, doch hielt er das Thema ansonsten aus seinem Arbeitsumfeld heraus. Und das Bedürfnis, ausgerechnet mit Frank Furtner darüber zu diskutieren, hielt sich sowieso in Grenzen – ohne dass Jörg den Grund dafür exakt benennen konnte.
»Na ja, die Schwaiger hatte jedenfalls nur diese Zahl, sonst nichts. Das ist dann wiederum atypisch. Vielleicht handelt es sich um eine Nummerierung? Wie bei Strafgefangenen …« Kaum ausgesprochen, wurde ihm selbst bewusst, was dies eventuell nach sich zog. »Wenn es eine Eins gibt, dann vielleicht auch eine Acht … eine Zehn … eine Zwanzig? Hundert? Möglicherweise gibt es hier in der Region ja wirklich so eine Art Sekte, mit hunderten Mitgliedern, und wir wissen nichts davon!«
»Na, da bin ich ja mal gespannt«, kam es trocken von der Beifahrerseite. »Wir haben also die Tote Nummer eins im Schlosspark und dann noch die Magic-Mushroom -Frau, die bei Eiseskälte in Sommerkleidung über einen niederbayerischen Acker läuft. Was uns wohl die restliche Sekte zu bieten haben wird!«
»Magic-Mushroom -Frau?«
Sie hatten inzwischen die Stadteinfahrt passiert, weshalb Jörgs Aufmerksamkeit kurz auf den stockenden Verkehr gelenkt gewesen war.
»Na, die von Apetzhausen.« Furtner klang erstaunt.
Was wiederum Jörg irritierte. Hatte er irgendetwas verpasst?
»Sprichst du von dieser Irma Pohl?«
»Ja, genau. Ich habe mit den Regensburger Kollegen telefoniert. Laut Uniklinik hatte die Pohl bei ihrer Einlieferung Psilocybin im Blut. Die Substanz, die in diesen Pilzen enthalten ist!«
Ephedrin, Psilocybin …
Jörg seufzte. Möglicherweise hatte er sich tatsächlich in eine Theorie verrannt, die nicht haltbar war. Irma Pohl war in über dreißig Kilometern Luftlinie von Dipolding aufgegriffen worden. Der Umhang mit dem Schaffellfutter ließ dennoch auf einen Zusammenhang zwischen ihr und Marion Schwaiger schließen. Und dass beide Frauen mit Drogen vollgepumpt gewesen waren, konnte doch kein Zufall sein!