Viele Fragen, keine Antworten und ein Sturz
Veleda Mayerhofer, Sabine Erdlinger und Marion Schwaiger.
Ich starrte auf den Zettel auf meinem Schreibtisch, auf dem ich mir die Namen notiert hatte. Was die drei Frauen verband, war ein Kräuterkurs, und eine von ihnen war jetzt tot. Ich weigerte mich, hier an einen Zufall zu glauben.
Hinter mir lag eine schlaflose Nacht, in der ich mir den Kopf über die Art der Zusammenhänge zerbrochen hatte. Meine Theorie war die: Sabine Erdlinger bot nicht nur Seminare an, sondern stellte auch gewisse Substanzen her, die sie dann über Kursteilnehmerinnen absetzte. Marion Schwaiger war – genauso wie Veleda – eine ihrer Vertriebspartnerinnen gewesen. Vielleicht war Marion dahintergekommen, dass die Erdlinger die Tinkturen selbst produzierte, und drohte damit, sie mit ihrem illegalen Handel auffliegen zu lassen. Und um das zu verhindern, flößte ihr die Erdlinger Alkohol und Ephedrin ein … Warum die Tote dann allerdings ausgerechnet im Dipoldinger Schlosspark starb, erklärte meine Theorie nicht. Auch nicht, was – falls überhaupt – Veleda nun damit zu tun hatte, und schon gar nicht, wo Marion Schwaiger in den über zwei Jahren gesteckt hatte, die seit dem Kräuterkurs vergangen waren.
Mittlerweile hatte ich mehr Fragen als Antworten. Außerdem
ärgerte ich mich über mich selbst. Denn das Wichtigste hatte ich bei meinem schnellen Blick auf die Teilnehmerliste vergessen: Mir den Dozenten oder die Dozentin zu merken. Dass neben dem Titel des Kurses ein Name gedruckt stand, hatte ich registriert. Doch dann war die Erdlinger ins Zimmer geplatzt …
Ihre Reaktion nährte zunächst meinen Verdacht, dass sie etwas zu verbergen hatte. Andererseits: Was wäre, wenn ich eine Patientin dabei erwischen würde, in meinen Karteikarten zu kramen? – Ich würde vermutlich nicht nur unfreundlich sein, sondern ausrasten!
Nach einem betriebsamen Vormittag, an dem ich mit dem üblichen Potpourri an Wehwehchen konfrontiert wurde, spielte ich erneut mit dem Gedanken, Jörg die Fakten auf den Tisch zu legen. Sollte er doch der Erdlinger auf den Zahn fühlen – und am besten auch Veleda. Falls sich mein Verdacht, dass sie etwas mit dem Mord zu tun hatte, als Ausgeburt meiner Phantasie erwies, würde ich in Aichendorf und Umgebung weiterhin mit ihr auskommen müssen.
Während ich den Arztkittel gegen Jeans und Shirt tauschte, fasste ich einen Entschluss.
Auch diesmal war in den kleinen Straubinger Seitengassen keine Parklücke frei. Als ich den Wagen schließlich wieder am Hagen abgestellt hatte und zu Fuß in Richtung Stadtplatz hinaufging, nieselte es leicht. Außerdem blies ein kühler Wind. Klassisches, ungemütliches Herbstwetter – was wohl erklärte, dass ich unterwegs kaum einen Menschen traf.
Direkt vor dem Haus Nummer 16 stand ein blauer Van, der halb in den Gehsteig ragte. Der Fahrer hatte den spärlichen Platz, der sich ihm bot, auf kreative Weise genutzt. Noch war keiner der Parksheriffs darauf aufmerksam geworden, wie mir die strafzettelfreie Windschutzscheibe zeigte.
Als ich diesmal bei Light & Fire
läutete, ertönte kein Türsummer. Ich wartete und wollte gerade nochmals klingeln, als ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahrnahm.
»Hej, lass mich mal!«
Der junge Kapuzenträger, der mit finsterem Gesichtsausdruck hinter mir stand, hatte die Hände in den Taschen seines Hoodys vergraben und zielte direkt auf meinen Bauch. Geschockt starrte ich den Typen an.
Er starrte zurück, blanke Irritation in den dunklen Augen.
»Hej, ähm, hallo? – Ich will nur aufsperren!«
Das, was ich für eine Pistole gehalten hatte, entpuppte sich als Schlüssel. Noch immer leicht unter Schock, wich ich zur Seite.
»Sie wollen zu denen ins Dachgeschoss, richtig? – Vielleicht ist die Klingel mal wieder kaputt.«
Ich trat mit ihm in den Hausflur. Aus der halb geöffneten Türe in Parterre duftete es nach frisch gebratenem Fleisch und Knoblauch. Ich ignorierte, dass mein Magen einen Salto mortale schlug, und stieg nach oben.
Gerade wollte ich anklopfen, als ich im Light & Fire
-Büro aufgeregte Stimmen vernahm. Ich musste mein Ohr nicht erst gegen das Holz pressen, um jedes Wort zu verstehen.
»Die Ordner mit den Listen und Verträgen müssen verschwinden! Es sind die einzigen Dokumente, auf denen Unterschriften stehen! Ich will nicht, dass man uns irgendeine Verbindung zu den Frauen nachweist!«, erhob sich eine Männerstimme.
Ein kurzes, höhnisches Lachen war die Antwort.
»Wenn du glaubst, dass dieser Papierkram das Problem ist, tust du mir leid … Ein Mal den großen Kachelofen geschürt, und das Zeug ist weg. Was uns noch ans Messer liefern wird, ist Henriettes verdammte Herumpfuscherei! Ohne deine Schwester und ihre unsauberen Mixturen wären wir überhaupt nicht in der Situation!«
Die schrille Frauenstimme ging mir durch Mark und Bein.
»Ach! Jetzt ist wieder Henriette an allem schuld!« Der Mann, mit dem die Keifliese sich fetzte, klang tief gekränkt. »Immerhin hat sie uns ein nettes Zusatzeinkommen verschafft! Sonst wären wir ja nur von denen da oben abhängig! – Und als ob du anders entschieden hättest! Du warst nicht da, und wir mussten rasch eine Lösung finden. Diese Marion war außer Rand und Band, wollte unbedingt weg! Hat mit der Polizei gedroht! Wir wollten sie einfach ruhigstellen! Das haben wir schließlich immer so gemacht! – Du weißt, dass in dem
Fall alles anders geplant war. Doch dann kam ausgerechnet dieser VW-Bus, und weg war sie! – Bis jetzt gibt es aber nicht die kleinste Verbindung zu uns …«
»Bis jetzt, bis jetzt!« Allein ihr Tonfall machte deutlich, was die Frau davon hielt. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie die momentan durchdrehen, welchen Druck sie mir machen? – Aber es ist immer dasselbe mit denen! Kaum läuft was schief, sind wir schuld.« Resignation hatte sich in die Stimme geschlichen. »Jetzt wieder dieses Problem mit der Nummer eins …«
»Na, die redet aber zumindest nicht mehr.«
»Trottel!« Die Frau spuckte ihm die Worte regelrecht entgegen. »Ich spreche von der neuen Nummer eins, nicht von der, die nicht mehr reden kann! Die hat sie gesehen, verstehst du?! Das Mädchen darf den Hof auf keinen Fall verlassen, sonst sind wir alle geliefert.«
»In erster Linie ist das Mädchen geliefert, nicht wir.«
»Das Ephedrin stammte von deiner lieben Schwester, wenn ich dich erinnern darf.«
»Was hat denn jetzt das Ephedrin damit zu tun? – Gerade erst hast du von der anderen gesprochen, und jetzt …«
Die Frau ließ ihn nicht ausreden. »Das Ephedrin wird sie auf unsere Spur bringen. Darum geht es.«
»Niemand kann das genau überprüfen. Sabine muss nur dichthalten.«
Wieder das böse, höhnische Lachen. »Wegen Sabine mache ich mir weniger Sorgen. Die wird das schon meistern. – Diese dumme Kuh mit dem Esoterikfimmel ist ein Risiko. Die hat geplaudert.«
Ihren Worten folgte ein kurzes Schweigen, in dem ich nur das Klopfen meines eigenen Herzens hörte.
»Ich hätte gute Lust, diese Verräterin mit einem Todesfluch zu belegen. Oder ihren Hof in Brand zu stecken.« Der Mann klang bitterernst. »Irgendwie muss sie ja dafür bestraft werden, dass sie den Vertrag gebrochen hat.«
Die Frau lachte höhnisch.
»Ja, darin warst du schon immer meisterhaft: Probleme noch zu vergrößern, statt sie zu lösen! – Ein Brand zieht immer polizeiliche Untersuchungen nach sich, du Idiot! Das können wir nicht
brauchen.« Eine Pause entstand.
»Wir haben sowieso etwas gegen sie in der Hand«, meldete sie sich dann wieder zu Wort. »Ich werde dafür sorgen, dass die nicht redet!«
Sprachen sie etwa von Veleda? Wie auch immer – ihre Worte klangen bedrohlich. Unwillkürlich hielt ich ein paar Sekunden lang den Atem an.
Drinnen brabbelte die Frau etwas, das ich nicht verstehen konnte. Vermutlich hatte sie sich weiter von der Tür entfernt.
»… Polizei wird irgendwann hier auftauchen.« Die Worte wurden wieder verständlich. »Die erste Nummer eins ist tot, und die zweite ist nicht nur eine Bedrohung für uns, sondern auch für sie. Die ganze Sache wächst uns über den Kopf. Das einzige, was wir tun können, ist, unsere Zelte abzubrechen.«
»Wieder einmal.« Der Mann seufzte. »Wir hatten in letzter Zeit aber auch wirklich Pech mit unseren Zöglingen. Erst das Unglück mit der ersten Eins, dann die Verrückte und die Kranke … und jetzt die Turbulenzen mit der nächsten Eins …«
Etwas raschelte. Ein Gegenstand fiel zu Boden, wurde aufgehoben. Das Geräusch, das folgte, klang, als würde jemand eine Kiste über den Boden ziehen. Allmählich dämmerte mir, dass hinter dieser Türe zusammengepackt wurde.
»Hilf mir mal«, hörte ich die Frau auch schon sagen. »Das Ding ist ziemlich schwer.«
»Da geht noch was rein«, war der Mann überzeugt. »Gib die Tastatur her. Den Monitor nehmen wir extra.«
Neuerliches Rutschen, begleitet von einem Ächzen.
»Er wird nicht begeistert sein«, nahm der Mann den Gesprächsfaden dann wieder auf. »Ausgerechnet jetzt, wo alles so vielversprechend aussah … Irgendwie bleiben durch diese ständigen Unterbrechungen und Umzüge ja die Ergebnisse auf der Strecke, und Geld kostet es ihn auch.«
»Geld! Davon hat der doch genug!« Die Frau begann sich wieder zu echauffieren. »Eine neue Bleibe will er für uns finden. Ha! Da bin ich mal gespannt. Von heute auf morgen wird das nicht gehen. Vermutlich werden wir erst einmal mit einer Übergangslösung vorlieb nehmen müssen.«
»Und die anderen Frauen?«
»Wir machen es wie damals in Wasenberg, was sonst?«
»Was, wenn eine redet?«
»Was sollen sie reden? – Die dummen Hühner wissen von nichts. Die kriegen die Klamotten, mit denen sie gekommen sind, und ein Zugticket nach Hause. So, wie wir sie die letzten Tage gequält haben, dürften die froh sein, alles hinter sich zu lassen. Und dann hoffen wir mal das Beste. Wenn alles so läuft wie in Wasenberg, kann keine mehr irgendetwas vernünftig bezeugen. – Los, heb mit an …«
Mir stockte das Herz, als mir auch schon die Türe schwungvoll gegen den Kopf gedonnert wurde. Einen Moment lang sah ich nur Sternchen. Dann taumelte ich zurück, wollte mich an der Mauer abstützen – trat aber ins Leere. Noch während ich fiel, sah ich zwei Frauen, die mit einem Karton in den Händen am Treppenabsatz standen und meinen Sturz über die Stiege verfolgten.