Joghurtsoße und ein gestohlener Computer
»Na, schon was Neues in eurem Mordfall?« Sonja Ritter, die Gerichtsmedizinerin, nahm ihren vollen Becher aus dem Ausgabefach des Kaffeeautomaten und machte Jörg Platz.
»Nichts, was uns wesentlich weiterhilft.«
Jörg steckte die Ein-Euro-Münze in den Schlitz und ließ seinen Blick über die Auswahl an Heißgetränken wandern. Cappuccino, Milchkaffee, Kakao – aus langjähriger Erfahrung wusste er, dass alles nicht so schmeckte, wie es die Bezeichnung verhieß. Resigniert entschied er sich für einen doppelten Espresso. Hauptsache Koffein.
»Bringt euch die Magic-Mushroom
-Frau denn nicht weiter?«
Magic-Mushroom
-Frau. Der Ausdruck schien sich im Hause wohl durchgesetzt zu haben, wenn es um Irma Pohl, die Verwirrte von Apetzhausen, ging.
»Ich habe gerade mit den Kollegen in Regensburg telefoniert. Nachdem die Wirkung des Psilocybin abgeklungen ist, wurde sie auf die Interne verlegt. Sie hat eine schwere Lungenentzündung und ist nicht vernehmungsfähig.«
»Die Frau ist doch angeblich über fünfzig, oder? – Der Konsum dieser Rauschpilze ist da eigentlich eher unüblich. Das ist eher so ein Teenie-Ding …«
»Wir gehen nicht davon aus, dass sie das Zeug freiwillig zu sich
genommen hat.«
»Eine echte Spur liefert euch die Substanz ja leider nicht.« Sonja Ritter nippte an ihrem Kaffee und verzog das Gesicht. Offenbar war sie an das eigenwillige Aroma noch nicht gewöhnt. »Die Pilzsporen kann jeder im Internet kaufen, als sogenanntes Grow-Kit
. Da wird eine Art Minitreibhaus mit integriertem Luftfilter gleich mitgeliefert. Kostet nicht mal zwanzig Euro. Deshalb gibt es immer wieder diese zugedröhnten Teenager, die mit akuten Symptomen – Halluzinationen, Schwindel, erhöhter Atemfrequenz – ins Krankenhaus eingeliefert werden.«
»Der Konsum ist leider auch noch völlig legal«, setzte Jörg resigniert hinzu. »Aber im Drogenrausch springen die Teenies dann vor fahrende Autos, jagen sich gegenseitig über Hausdächer und –« Er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn in diesem Moment bog Frank Furtner um die Ecke.
»Wir müssen los!« Er drückte Jörg dessen Anorak in die Hand. »Sollnergasse sechzehn. Überfall mit ’ner Verletzten.«
Von draußen hörte Jörg bereits das Signal abfahrender Streifenwagen.
»Hei! Und was geht uns das an? – Wir sind die Mordkommission!«
Furtner fuhr im Laufen herum.
»Die Verletzte ist Frau Doktor Hofmann.«
Jetzt begann auch Jörg zu rennen.
Die Streifenwagen waren knapp vor ihnen da. Mangels anderer Möglichkeiten hielt Furtner, der gefahren war, direkt hinter dem Krankenwagen in der Mitte der Gasse. Fast zeitgleich mit den Beamten in Uniform sprang Jörg aus dem Auto.
Die Haustür zu dem schmucklosen Sechzigerjahrebau stand offen, ebenso die Wohnungstüre in Parterre. Im Vorraum sah Jörg die neonfarbene Jacke eines Rettungssanitäters aufblitzen. Er nahm sich nicht die Zeit, anzuklopfen, sondern stürzte hinein – gefolgt von den uniformierten Kollegen und Frank Furtner. Während der Fahrt hatte er bangend versucht, sich auf die schlimmsten Horrorszenen
vorzubereiten: Gesine, brutal zusammengeschlagen und im Koma. Nicht ansprechbar. Mit verquollenem Gesicht und doppeltem Schädelbruch. In einer Blutlache.
Das Szenario, das ihn tatsächlich erwartete, übertraf jedoch alle Erwartungen.
In dem Zimmer, das er jetzt betrat, wimmelte es vor Leuten: Kinder, Männer, Frauen mit und ohne Kopftuch, Sanitäter. Der Geruch von gebratenem Fleisch, Knoblauch und Koriander hing in der Luft, Schüsseln und Teller, teils leer, teils noch gefüllt, standen auf dem Esstisch.
Er entdeckte Gesine auf einem Sofa mit Blumenmuster gleich neben dem modernen Flachbildschirm, der definitiv größer war als der Couchtisch. Sie nagte an einem Hühnerflügel und hatte einen Teller mit Gemüse und Joghurtsoße vor sich. Eine korpulente türkische Mama mit wallendem Rock und gemustertem Kopftuch stand an ihrer Seite und drückte ihr ein mit Stoff umwickeltes Kühlelement auf die Stirn, während sie mit der freien Hand die etwas ratlosen Sanitäter wegscheuchte. Die gesamte Kulisse wurde von gedämpfter türkischer Volksmusik untermalt.
»Hej, Sie sind der Kommissar, oder?« Ein junger Mann, wohl kaum sechzehn Jahre alt, streckte ihm die Hand entgegen. »Ich hab sie gefunden. Oben im Dachgeschoss, nein, eigentlich im Treppenhaus. Aber wir haben uns vorher schon kennengelernt. An der Haustür.«
Jörg, immer noch sprachlos, sah zu, wie Gesine nun den abgenagten Hühnerknochen zur Seite legte und ein Stück Weißbrot in die Joghurtsoße tunkte. Um seine Zurückhaltung war es geschehen, als sie sich schließlich auch noch genussvoll die Finger abschleckte.
»Sag mal, bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?«, herrschte er sie an.
Sowohl die Stimmen als auch die türkische Musik im Hintergrund verstummten abrupt. Der türkischen Mama entglitt ihr Kühlelement; es fiel auf den abgetretenen weinroten Teppichboden. Alle Blicke waren nun auf den Störenfried gerichtet, einschließlich dem von Gesine. Sie sah völlig überrascht aus. Offenbar hatte sie weder ihn noch die Uniformierten bemerkt.
»Jörg! Zum Glück bist du da!«, rief sie dann und wischte sich mit
der Serviette die Joghurtsoße von den Lippen. »Du musst sofort eine Fahndung herausgeben – sonst hauen die ab!«
»Wer, verdammt nochmal?« Er drängte sich unaufgefordert neben sie auf das Sofa. »Ist dir eigentlich klar, dass ich gerade mitten in einem komplizierten Mordfall hänge?«
Gesine legte die Serviette schwungvoll auf den Tisch.
»Oh, das tut mir aber leid!« Ihr süffisanter Tonfall verriet das Gegenteil. »Tut mir wirklich
leid, dass ich ausgerechnet jetzt die Bekanntschaft mit zwei dubiosen Damen machen musste, die gerade mit ziemlicher Sicherheit Beweismittel zu deinem Mord vernichten und ihre Flucht vorbereiten! – Wenn ich gewusst hätte, dass du nichts anderes im Sinn führst, als mich anzupflaumen, hätte ich sie gewiss nicht belauscht und mich anschließend quasi von ihnen die Treppe hinunterstoßen lassen, sondern hätte gemacht, dass ich wegkomme!«
Erst jetzt fiel ihm die blutige Schramme auf Gesines Stirn auf, ebenso wie die Tatsache, dass sie ihre Brille nicht auf der Nase trug. Kein Wunder, das Gestell lag in zwei Hälften gebrochen neben dem Teller. Zumindest war nun klar, warum sie keine Notiz von den Beamten und ihm genommen hatte.
Auf ihrem linken Handrücken entdeckte er eine weitere blutige Schramme. Sofort tat ihm sein Ausbruch leid.
»Sorry. Ich dachte nur, du wärest halbtot, und dann sitzt du hier und … Erzähl mir doch einfach, was passiert ist.«
Gesine warf einen kurzen Blick auf die bunte Versammlung, die sich vor dem Sofa aufgebaut hatte, als würde hier ein Bühnenstück aufgeführt.
»Klar. Bist du mit dem Wagen hier? – Dann lass uns das Gespräch dort führen; hier ist mir zu viel Trubel.«
Vorsichtig stand sie auf, hielt sich dabei die linke Seite. Dass sie Schmerzen hatte, war offensichtlich.
»Kommen Sie, lassen Sie sich doch helfen …« Einer der Sanitäter machte einen bemühten Versuch, ihr unter die Arme zu greifen, doch sie wehrte ihn vehement ab.
»Danke, ich schaffe das auch so!«
»Sie sollten in ein Krankenhaus. Zum Durchchecken.«
»Ich weiß, was mir fehlt; ich hab ein paar Abschürfungen, morgen vermutlich Hämatome am Körper und mindestens eine gebrochene Rippe«, erwiderte Gesine sachlich. »Ich bin Ärztin!«
… und verdammt stur, ging es Jörg durch den Kopf, während er sie Richtung Wohnungstür begleitete.
»Das heißt, wir sollen wieder fahren?«, erkundigte sich der Sanitäter, nun fast schon schüchtern.
Gesine warf ihm über die Schulter einen kurzen Blick zu.
»Ja, bitte. Es gibt Leute, die Sie nötiger brauchen als ich!«
»Und wir?«, meldete sich einer der Uniformierten zu Wort. »Hier ist ja offensichtlich nichts passiert …«
»Schaut doch mal mit Furtner, was da oben im Dachgeschoß los ist. Ihr habt ja gehört, was der junge Mann gesagt hat.«
Einige Minuten später saß Jörg mit Gesine im Auto und hörte sich an, was sie zu berichten hatte. Marion Schwaigers Name in der Teilnehmerliste eines Kräuterkurses. Veleda Mayerhofer, die auch daran teilgenommen hatte und seither illegal Medikamente vertrieb. Der Ephedrin-Nachweis in den Tropfen. Unterlagen, die vernichtet werden sollten. Eine Frau, die unsaubere Mixturen braute … Im Stillen ärgerte er sich darüber, dass er Gesine nicht längst zurückgerufen hatte. Möglicherweise war deshalb wertvolle Zeit verloren gegangen!
»Diese Henriette ist also die Schwester des Mannes, dessen Stimme du gehört hast?«
»Zumindest hat sich das im Gespräch so angehört.« Gesine griff sich an den Kopf und verzog dabei schmerzerfüllt das Gesicht. »Aber weißt du, was komisch ist? – Als mir die Tür auf die Stirn knallte, weshalb ich dann die Treppe herunterfiel, sah ich nur zwei Frauen, keinen Mann! Und ich glaube, da war sonst niemand in der Wohnung. Jedenfalls kam keiner mehr herunter, solange ich benommen am Treppenabsatz lag. Berat hat mich schließlich aufgelesen und zu seiner Familie gebracht.«
Gesine sah ihn nun eindringlich an.
»Jörg, vielleicht hältst du mich jetzt für verrückt, aber ich glaube wirklich, da ist was im Busch! Diese Frauen sind mit hundertprozentiger Sicherheit in den Mord an Marion verwickelt, genauso wie Sabine Erdlinger, die Leiterin von Light & Fire
! Und wenn ihr die nicht schnell findet, haben sie sich schon vom Acker gemacht! Die haben sowas wohl schon mal hingebogen, in … wie hieß der Ort … Wasenberg.«
»Wir haben uns das Büro oben angeschaut, die Türe war nur angelehnt.« Furtner steckte seinen Kopf zur Beifahrertür herein. »Das Türschloss ist völlig intakt, drinnen sieht es aus wie in einem stinknormalen Büro. Ein ziemlich neues Notebook, Ordner in Reih und Glied, nichts durchwühlt.«
»Die haben eine Kiste weggetragen!«, begehrte Gesine empört auf. »Die haben definitiv was verschwinden lassen! Ich bilde mir das doch nicht ein!«
»Kann ja sein, dass du ihnen durch deine Lauschaktion dazwischengefunkt hast«, warf Jörg beschwichtigend ein. »Furtner, wer ist Eigentümer des Büros?«
»Eine gewisse Sabine Erdlinger. Wohnt in Straubing-Alburg.«
»Sag ich doch!« Gesine lehnte sich mit einem gequälten Stöhnen zurück und schloss die Augen. Jetzt, nachdem keine türkische Hausmannskost sie mehr ablenkte, schien sie ihre Schmerzen wieder stärker wahrzunehmen. »Diese Erdlinger hat Dreck am Stecken, Jörg! Ebenso Veleda. Der müsst ihr auch auf den Zahn fühlen!«
»Werden wir.« Jörg wandte sich an seinen Kollegen, der immer noch neben dem Auto stand. »Furtner, sieh bitte zu, dass Gesine von einer der Streifen nach Hause gefahren wird und dass diese Erdlinger hierher kommt! Und dann machen wir beide einen Ausflug nach Deggenbach.«
»Hej, aber mein Auto steht unten am Parkplatz, ich kann selber …«, setzte Gesine an, doch er schnitt ihr das Wort ab.
»Du wirst erst am Kommissariat deine Aussage zu Protokoll geben, und dann lassen wir dich nach Hause bringen. Du gehörst ins Bett, Gesine, nicht hinters Steuer! Und wenn du nicht gehorchst, hetz ich die Habler auf dich – so sieht’s aus!«
Dass seine beste Freundin für derartige Späße im Augenblick nicht empfänglich war, begriff Jörg erst, als Gesine wortlos ausstieg und sich erhobenen Hauptes in Furtners Obhut begab.
»Nein. Nein, es fehlt nichts. Absolut nicht. Nur der PC.«
Sabine Erdlinger, die Frau mit dem wirren Lockenkopf, stand mitten in ihrem Büro und wirkte noch immer genauso perplex wie eine Viertelstunde zuvor, als die Ermittler sie über den Vorfall informiert hatten.
»Keine Ordner?«, hakte Jörg nach.
»Nicht, dass ich wüsste.« Sie ließ ihren Blick über die lose bestückten Regale wandern. »Ich kann das überhaupt nicht verstehen!«, brach es aus ihr heraus. »Dieser Computer war schon alt! Ich begreife nicht, warum jemand deshalb einbrechen sollte! Und da war nichts groß auf der Festplatte abgespeichert! Ich arbeite ja hauptsächlich mit dem Notebook …«
»Frau Erdlinger, setzen wir uns bitte.« Jörg wies auf das rote Sofa. Nur widerstrebend kam die Frau seiner Aufforderung nach. Unruhig glitten ihre Augen über die Regale. Jörg konnte nachvollziehen, wenn jemand angesichts der Umstände durcheinander war. Trotzdem wirkte die Verwirrung, die hier zur Schau gestellt wurde, insgesamt etwas übertrieben – ohne dass er hätte genau sagen können, weshalb er zu dem Urteil kam. »Also, Frau Erdlinger, es gibt keine Einbruchsspuren. Das Türschloss ist völlig intakt.«
Die Frau im groben Strickpullover sah ihn mit großen Augen an. »Nein?! Was heißt das?«
»Wer hat noch einen Schlüssel zu Ihrem Büro?«
»Niemand!«
»Was ist mit den Lehrbeauftragten? Sie geben Ihre Kurse ja nicht allesamt selber.«
»Von denen hat niemand einen Schlüssel. Ich bin immer vor Ort, wenn ein Kurs startet. Der Konferenzraum ist nebenan; Sie können sich gerne ein Bild davon machen.«
Jörg verzichtete darauf, ihr zu eröffnen, dass er dies längst getan hatte. Außer Sitzpolstern, Tischen und Stühlen hatte der Raum wenig hergegeben.
»Die Leute, die in Ihrem Büro zugange waren, haben Sie jedenfalls gekannt. In den Gesprächen, die unsere Zeugin mitbekommen hat,
ist mehrmals Ihr Name gefallen.«
»Ach ja? – Ich habe keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte. Wirklich nicht!«
Jörg lehnte sich leicht nach vorne und sah die Frau eindringlich an. »Frau Erdlinger, werden Sie von irgendjemandem unter Druck gesetzt?«
»Wie kommen Sie denn darauf?« Nun klang sie genervt. »Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden!«
»Sagt Ihnen der Name Marion Schwaiger etwas?«
»Nein. Wer soll das sein?«
»Sie wurde vor kurzem tot im Dipoldinger Schlosspark aufgefunden – mit Ephedrin im Blut, das möglicherweise aus demselben Labor stammt wie die Tropfen, die Sie im Rahmen Ihrer Kräuterkurse zum Weiterverkauf anbieten.«
»Was? Welche Tropfen?«
Wieder machte die Erdlinger große Augen. Jörg fand, dass sich hier jemand absichtlich dumm stellte.
»Der Name Veleda Mayerhofer sagt Ihnen also auch nichts?«
»Veleda …« Die Frau runzelte angestrengt die Stirn. »Doch. Neulich war eine Frau da, die diesen Namen erwähnt hat. Da habe ich ihn das erste Mal gehört.«
Gesine.
»Und der Name Henriette?«
»Hören Sie.« Sabine Erdlinger atmete tief durch. »An meinen Kursen nehmen durchschnittlich drei-, vierhundert Frauen im Jahr teil. Glauben Sie ernsthaft, da kann ich mir jeden einzelnen Namen merken?«
Jörg sah ein, dass er so im Moment nicht weiterkam.
»Händigen Sie mir bitte die Teilnehmerlisten Ihrer Kräuterkurse aus – inklusive des Namens der Lehrbeauftragten.«
»Dürfen Sie das? Ich meine, das fällt doch unter Datenschutz, oder?« Die Skepsis stand der Kursveranstalterin im rundlichen Gesicht. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob die nicht auf dem PC waren …«
»Wir ermitteln hier in einem Mordfall«, erinnerte Jörg sie unsanft. »Da gehe ich ja nicht davon aus, dass Sie unsere Ermittlungen
behindern wollen, oder?«
Die Frau presste die Lippen aufeinander. In ihr schien es zu arbeiten.
»Frau Erdlinger?« Jörg musste sich allmählich bemühen, freundlich zu bleiben. »Die Listen. Selbst wenn die Daten auf dem PC waren, haben Sie sie doch sicher ausgedruckt und irgendwo abgelegt. Die ganzen Akten hier zeigen mir ja, dass Sie das sonst auch tun. Geben Sie uns bitte den Ordner?«
»Ähm, ja. Jetzt gleich?«
»Wann sonst?«
Sabine Erdlinger erhob sich – widerstrebend, wie es Jörg vorkam. Unschlüssig blieb sie vor dem Regal stehen, schob einige Ordner von links nach rechts.
»Sie finden ihn nicht?«
»Doch, doch. Ich glaube, der ist gerade bei mir zu Hause«, sagte sie schließlich. »Manchmal nehme ich mir Arbeit mit heim.«
»Und es kann nicht sein, dass ausgerechnet dieser Ordner von ihren mysteriösen Besuchern mitgenommen wurde?«
»Nein. Nein, da fehlt nichts. Das sagte ich Ihnen doch schon.«
Jörg unterdrückte einen Seufzer. Er erhob sich. Furtner tat es ihm nach.
»Gut, liebe Frau Erdlinger. Dann darf ich Sie jetzt bitten, sofort nach Hause zu fahren und den Ordner bei uns im Kommissariat zu hinterlegen. – Hier meine Visitenkarte, sollte Ihnen noch etwas einfallen.«
»Das stinkt doch zum Himmel«, sagte Frank Furtner, kaum dass sie das Haus verlassen hatten. »Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die uns eine ganze Menge verschweigt!«
»Nicht nur du.« Jörg startete den Wagen. »Aber bevor wir sie richtig in die Mangel nehmen, statten wir ihrer Vertriebsfrau einen Besuch ab.«
»Vertriebsfrau?«
»Na, wer wohl. Veleda Mayerhofer. Nach allem, was Gesine von ihr erzählt hat, bin ich schon gespannt darauf, sie kennenzulernen!«
»Frau Mayerhofer, jetzt machen Sie schon die Türe auf! Wir haben gesehen, dass Sie zu Hause sind!«
Kalter Wind fegte über den Hof und wirbelte die Blätter unter dem Kastanienbaum neben der Scheune auf. Fröstelnd richtete Jörg seinen Anorakkragen auf, während Furtner erneut den Finger auf dem Klingelknopf ruhen ließ.
»Frau Mayerhofer! Wenn Sie nicht von selber öffnen, brechen wir die Türe auf!«
Jörg musste unwillkürlich schmunzeln. Eine gewagte Drohung. Ohne Gefahr in Verzug hätte die Umsetzung für sie beide ein juristisches Nachspiel. Dennoch wollte er Furtners Eifer vorläufig nicht bremsen. Auch er hatte zuvor den Schatten hinter der Gardine bemerkt.
»Frau Mayerhofer! Jetzt machen Sie endlich …«
»Ja, verdammt!« Die Türe wurde ruckartig aufgerissen. Eine Person, auf die Gesines Beschreibung exakt passte, stand mit finsterem Gesicht im Türrahmen. »Ich bin doch kein D-Zug! Ich war gerade im Keller, das ist ja wohl kein Verbrechen!«
Ein gutes Stichwort.
Jörg trat vor und zückte seine Dienstmarke. Das kantige Gesicht der Frau verfinsterte sich noch mehr.
»Ich weiß, warum Sie hier sind«, knurrte sie missgelaunt. »Frau Doktor Hofmann hat Sie geschickt. Wegen der Tropfen.«
»Unter anderem.«
»Man kann mir keine Vorwürfe machen! Ich wusste nicht, dass es ein Arzneimittel ist! Ich wollte den Leuten nur helfen. Überhaupt – meine Kunden leben noch, und die Tropfen habe ich auch wieder eingesammelt! Also von denen, die sie noch hatten. Die kann ich Ihnen gern übergeben, dann sehen Sie, wie kooperativ ich bin! Und dann können Sie wieder verschwinden.«
Sie drängte sich an Furtner vorbei und eilte schnellen Schrittes zur Scheune. Ihr graubraunes Haar stand nach allen Seiten ab. Der Wind fuhr unter ihren dunkelvioletten Rock und plusterte ihn auf. Diese Veleda sah aus wie eine Hexe aus dem Bilderbuch.
Inzwischen machte die Frau sich am Schloss der Scheune zu schaffen. Das große Tor quietschte laut, als sie es zurückschob.
»Kommen Sie schon! Sie wollen doch die Tropfen, oder etwa nicht?«
Furtner berührte Jörg am Arm, als sie einen alten, blauen VW-Bus sahen. Die beiden Männer tauschten einen bedeutungsschweren Blick. Das Gespräch, das Gesine belauscht hatte, und der darin erwähnte VW-Bus, in den das spätere Opfer eingestiegen war, ließ bei den Ermittlern innere Alarmglocken schrillen.
Veleda riss die Türe auf der Beifahrerseite auf und nahm eine beigefarbene Stofftasche vom Sitz.
»Hier. Da ist alles drin, was ich verkauft habe!« Sie drückte dem verdutzten Furtner die Tasche in die Hand. »Nur die Tropfen von den Pangerls und von der Frau Doktor Habler fehlen. Die Pangerls hatten sie nicht mehr, und die Frau Habler habe ich nicht erwischt. Vielleicht haben Sie ja mehr Glück. – Aber eines sage ich Ihnen: Da ist sicher kein Gift drin! Den Leuten ging es richtig gut, und die waren echt ungehalten, dass ich ihnen die Tropfen wegnehme, das können Sie mir glauben!«
»Frau Mayerhofer, kennen Sie diese Frau?«
Jörg hielt ihr die Aufnahme von Marion Schwaiger unter die Nase. Veleda betrachtete das Foto.
»Warum?«, fragte sie dann misstrauisch.
»Können Sie einfach meine Frage beantworten?«
»Keine Ahnung.«Veleda wandte sich ungehalten ab.
»Sie haben mit ihr einen Kräuterkurs gemacht«, half der Ermittler ihrem Gedächtnis auf die Sprünge. »Bei Light & Fire
.«
»Da waren so viele Leute, und das ist schon Ewigkeiten her.«
»Zweieinhalb Jahre sind keine Ewigkeit.«
»Kann mich nicht erinnern.«
Veleda stand bereits wieder an der Scheunentür. Sie hielt das Gespräch anscheinend für beendet.
»Einen netten alten Bulli haben Sie da. Fahren den noch andere Leute?«, erkundige sich Furtner nun, während er um den Bus herumging.
»Nein. Wieso?!« Die Augen der Frau blitzten wütend.
Furtner blieb stehen. »Frau Mayerhofer, wo waren Sie vorletzte Woche am Abend und in der Nacht von Donnerstag auf Freitag?«
Veleda schaute ungläubig von einem zum anderen. Dann wurden ihre Gesichtszüge hart. »Ich sage hier jetzt überhaupt nichts mehr!«, entgegnete sie trotzig. »Sie wollen mich doch wegen irgendetwas hinhängen, oder nicht?«
Jörg hatte genug. »Wissen Sie was? Sie holen jetzt Ihren Mantel, und dann machen wir gemeinsam einen Ausflug.«
»Wohin denn?«
Veleda verschränkte die Arme vor dem Oberkörper.
»Nach Straubing aufs Kommissariat. Möglicherweise hilft eine Ortsveränderung Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.«