Ein Einzelzimmer, Speis und Trank
Stolz strich sich Iris über ihr kahlgeschorenes Haupt. Nur an wenigen Stellen spürte sie bereits wieder kleine Haarstoppeln. Ansonsten fühlte sich alles glatt an. Glatt und gut, wie sie selbst.
Seit ihrer Ernennung zur Auserwählten
wohnte sie in einem eigenen Zimmer, in das sie mit verbundenen Augen gebracht worden war. Der Raum maß zehn Schritte in die eine Richtung, sieben Schritte in die andere – was ihn aus ihrer Sicht ziemlich groß machte. Durch das vergitterte Fensterchen knapp unter der Decke drang nur wenig Licht, und das auch nur zeitweise. Das Zimmer musste also wohl im Untergeschoß liegen.
An den düsteren, von Ratten und Spinnen behausten Keller, in dem sie unlängst Stunden verbracht hatte, erinnerte trotzdem nichts. Der Raum war mit weißen Kacheln verfliest, was ihm zugegebenermaßen eine gewisse Sterilität verlieh, Iris aber nicht weiter störte. Denn es gab ein wunderbares, weiches Bett, einen Schreibtisch mit Drehstuhl und – Bücher! Seit Monaten hatte sie ihr Wissen über die Lehren der Erleuchtung
nur aus den Unterrichtsstunden mit der Meisterin und den anderen Erleuchteten bezogen. Jetzt endlich hatte sie Zugang zum geschriebenen Wort!
Mit großem Eifer saß sie stundenlang über dem Lehrbuch, nur unterbrochen von kurzen Schlafphasen, dem Gang zur Toilette oder
dem Zeitpunkt, an dem ihr durch eine Luke in der Türe Essen hereingeschoben wurde.
Die Kost war nun schmackhafter und abwechslungsreicher, die Portion ausreichend. Überhaupt empfand sie ihre jetzigen Lebensumstände als eine einzige große Verbesserung: die Matratze, die Wärme, die Tatsache, dass sie keine körperliche Arbeit mehr verrichten musste. Sie war eben auserwählt. Sie, und nicht Doro, Kathleen oder Ruth, deren Gesellschaft sie nicht im Geringsten vermisste. Nachdem sie Monate einen Schlafsaal mit drei anderen geteilt und im Grunde keine Minute unbeobachtet gewesen war, genoss sie nun die Einsamkeit.
Auserwählt. Bald würde sie die Gedanken anderer lesen können, alles sehen, alles wissen, alles hören. Sie würde Macht haben, Entscheidungen treffen. Sie würde im oberen Stockwerk residieren, zusammen mit Iduna, Fylla, Gunlod und Bryndis, wie sie sich die Meisterin inzwischen zu nennen erlaubte. Künftige Neuzugänge bei Lumenaria
– Iris zweifelte nicht daran, dass welche kommen würden – mussten zu ihr aufschauen und ihren Anordnungen Folge leisten. Sie würde anderen Anweisungen geben können!
Und es stünde ihr frei, den Hof zu verlassen, wann immer ihr danach war – so, wie es die Erleuchteten gelegentlich taten. Auf keinen Fall aber würde sie abbrechen, so wie zuletzt Marion.
Die Ausbildung werde sie an ihre Grenzen bringen, hatte Bryndis prophezeit. Bisher merkte Iris nichts davon.
Ich bin auserwählt
.
Eine Woge von Glück schlug über ihr zusammen; sie biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu jubeln – obgleich es hier, im Keller, wohl ohnehin niemand hörte.
Die Tätowierung auf der Schulter brannte leicht. Eine Eins war ihr eingraviert worden. Die Eins solle sie nicht vergessen, auch wenn sie in Kürze einen echten, neuen Namen bekäme. Iris wurde innerlich ganz kribbelig vor Aufregung. Wie er wohl lauten würde?
Stunde um Stunde wälzte sie die Bücher, bemüht, sich ein Wissen anzueignen, mit dem sie über allen Unwissenden stand.
Dass schon lange kein Essen mehr durch die Luke gereicht worden war, fiel ihr erst auf, als sich ihr Magen knurrend zu Wort meldete.
Wie viel Uhr mochte es sein? – Durch das Kunstlicht und die unregelmäßigen Schlafphasen hatte sie ihr Zeitgefühl weitgehend verloren, glaubte aber doch, dass es früher Abend sein musste.
Sie füllte ihren Becher am Waschbecken mit Wasser und setzte ihr Studium fort, überrascht über sich selbst: Früher war ihr das Lernen immer so schwergefallen. Hier aber konnte sie sich den Lehrstoff leicht merken.
Überzeugt, das große Los gezogen zu haben, legte sie sich irgendwann schlafen und löschte das Licht.
Ein Klappern riss Iris aus dem Schlaf. Es kam von der Tür her.
»Iris …? Iris, bist du hier?«, drang es dumpf an ihr Ohr. Einen Moment lang glaubte sie, nur geträumt zu haben, doch nach kurzer Zeit meldete die Stimme sich wieder.
»Iris … bitte, rede mit mir, wenn du hier bist …«
Benommen knipste Iris das Licht an, torkelte schlaftrunken zur Türe. Die Luke bewegte sich leicht. Jemand versuchte sie von außen zu öffnen. Offensichtlich gelang es nicht.
»Iris … sag etwas!«
»Kathleen? Was machst du da?«
Iris rieb sich unwillig die Augen. Dass Kathleen sie, die Auserwählte, in ihrer Klausur störte, passte ihr nicht in den Kram. Da sie sich aber gar so kläglich anhörte, gelang es ihr nicht, sie gänzlich zu ignorieren.
»Gott sei Dank, du lebst!« Kathleen klang erleichtert, aber nur für einen Moment. Als sie fortfuhr, hörte sie sich verängstigt und elend an. »Es ist kalt hier und eklig … überall Ratten und Spinnen! Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin … ob sie mich irgendwann rausholen …«
Was, um Himmels willen, redete Kathleen da? – Dann dämmerte es Iris, dass hinter der Türe ihres schönen Zimmers wohl jener Kellergang liegen musste, in dem sie selbst Stunden des Bangens zugebracht hatte.
»Wieso bist du dort drinnen?«, fragte sie verwirrt.
Ein kurzes, bitteres Lachen war die Antwort.
»Weil du mich verpfiffen hast! – Was hast du den Weibern von mir erzählt, du Petze? Das mit dem Essen? Oder etwa das mit den Fotos und dem Handy? Herrgott, du bringst uns damit noch alle um, du dumme Gans!«
Dumme Gans. Petze.
Überhaupt, welche Fotos?
Sie kam zu dem Schluss, dass sie als Auserwählte es nicht notwendig hatte, sich weiter damit auseinanderzusetzen. Sie ging zurück zum Bett und deckte sich zu.
»Iris … Tut mir leid.«
Iris knipste das Licht aus.
An der Luke klapperte es. »Bitte, komm wieder her! Es tut mir leid, dass ich dich beschimpft habe. Bitte!«
Es klopfte auf dem Holz.
»Bitte, Iris, ich muss dir was sagen. Du musst
das wissen, damit du jemandem davon erzählen kannst, falls ich sterbe.«
Iris hörte an Kathleens Stimme, dass sie weinte.
Was soll’s. Sie konnte ohnehin nicht schlafen. Seufzend kauerte sie sich vor die Tür.
»Was willst du eigentlich, Kathleen? – Geh weg, lass mich in Ruhe. Oder hau ganz von hier ab, wenn du mit den Lehren nichts anfangen kannst.«
»Ich tät nichts lieber als das!« Kathleens Stimme überschlug sich fast. »Aber ich bin eingesperrt
, hast du das nicht verstanden? Weil du mich verpfiffen hast! Bitte sag mir, was du dem Inneren Kreis
erzählt hast! Wissen sie von den Fotos und meinen Aufzeichnungen? – Wenn ja, dann werde ich hier nicht lebend rauskommen!«
Wovon redete Kathleen nur?
»Sie lassen dich irgendwann frei«, versicherte Iris, die nicht wusste, was sie von alledem halten sollte. »Du bist nur für kurze Zeit eingesperrt, zur Strafe. Das war bei mir doch auch so.«
»Hej … hier ist was im Gange! Gunlod und Fylla packen den ganzen Hausstand in Kisten. Ruth und Doro sind weggebracht worden – keine Ahnung, wohin. Sie trugen nicht unsere Umhänge, sondern ganz normale Anziehsachen.«
Ruth und Doro? – Warum denn Doro? Hatte die Meisterin nicht eigentlich Kathleen an deren Stelle nach Hause schicken sollen? Das jedenfalls war Iris’ Plan gewesen. »Na«, erwiderte sie schließlich gleichmütig, »wenn die beiden weg sind, sei doch froh, dass sie dir noch eine Chance geben.«
»Iris!« Kathleen schrie fast. »Hör auf! Schalt dein Hirn ein, falls du eins hast! – Wir werden hier seit Monaten gefangen gehalten!«
»Unsinn. Wir hätten jederzeit eine Ausgangserlaubnis beantragen können. Wir haben es nur nicht getan, weil wir ja wissen, dass unser aurischer Energiehaushalt …«
»Verdammt!« Jetzt schrie Kathleen wirklich. »Wenn du von hier jemals wieder wegkommst, bist du entweder tot oder stehst voll unter Drogen! – Du hättest Doro und Ruth sehen sollen, als sie zu Bryndis ins Auto gestiegen sind. Die waren komplett weggetreten! Ich habe keine Ahnung, was sie mit ihnen machen! Was sie auch mit Irma gemacht haben und mit Marion …«
»Irma war krank. Sie haben sie in ein Krankenhaus gebracht. Wenn sie wieder gesund ist, kommt sie zurück!« Iris’ Herz klopfte schneller und lauter als zuvor. Das Gespräch wühlte sie auf. »Und dass Marion die Ausbildung abgebrochen hat, wissen wir alle. Es ist kein Geheimnis, dass sie Lumenaria
verlassen hat. Sie wollte gehen und wurde nicht daran gehindert.«
»Von wegen!«,wisperte Kathleen verzweifelt. »Ich habe gesehen, was mit Marion passiert ist.« Ein Schluchzen drang durch den Spalt. »Sie haben sie aus dem Keller geholt. Ihr Kopf war kahlgeschoren, sie war blass und schwach, spindeldürr und total neben der Spur. Sie haben sie in einen Raum gebracht; ich habe sie durch die geschlossene Türe weinen und schreien hören! Später sah ich sie wegrennen und dann …« Der Rest ihrer Worte ging in unverständlichem Jammern unter.
Iris beeindruckte das alles nicht besonders. Wenn Kathleen sich so darüber aufregte, war dies nur ein weiterer Beweis, dass ihr einfach jedes Gespür für die geheimen Lehren der Lumenaria
fehlte. »Ja, und?«, konterte sie verständnislos. »Die Ausbildung ist eben hart. Das wissen wir. Aber nur so wird man erleuchtet. Genau deshalb sind wir hier. Ich jedenfalls.«
»Iris, du verstehst es nicht, du bist total auf dem Holzweg! – Das hier ist eine kriminelle Vereinigung, die Frauen gefangen hält und quält! Wer hier je wieder rauskommt, ist verrückt oder tot! Ich habe genug Beweise, ich bin …«
Sie verstummte abrupt.
»Da kommt jemand.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Bitte! Falls ich sterbe … informier meine Familie! Mein echter Name ist …«
»Was machst du dort? Weg da!«
Gunlods Stimme ertönte unmittelbar hinter der Türe. Iris hörte Kathleen laut aufschreien, dann folgte ein undefinierbares Geräusch, das ihr unter die Haut fuhr und Gänsehaut bereitete.
Auf leisen Sohlen schlich Iris im Dunkeln ins Bett zurück, froh, dass sie diesmal darauf verzichtet hatte, das Licht anzumachen. Mit klopfendem Herzen presste sie sich an die Matratze und zog sich die Bettdecke bis zum Kinn.
Der Schlüssel knirschte im Schloss. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit.
»Nummer eins?«
Iris verharrte bewegungslos. Gunlod, die große, grobe Frau mit der tiefen Stimme, hatte ihr schon immer Angst gemacht. Auch wenn Kathleen Unsinn redete – es war vermutlich besser, so zu tun, als hätte sie nichts mitbekommen.
Erleichtert atmete sie auf, als sich die Tür wieder schloss. Die Erleichterung war jedoch nur von kurzer Dauer. Plötzlich tat es drüben einen Schlag, den ein hässliches Knirschen begleitete, gefolgt von einem Ächzen. Etwas knallte so heftig gegen das Türblatt, dass es erzitterte.
Dann war Stille.
Iris’ Puls raste. Schweiß brach ihr aus. Kurz überlegte sie, ob sie aufstehen und lauschen sollte, ob sich noch irgendetwas tat. Doch die Angst, die von ihr Besitz ergriffen hatte, lähmte sie. Steif lag sie da und lauschte angestrengt in die Dunkelheit, während es in ihr arbeitete. Was war da passiert? Was hatte Kathleen getan?
Alles, was die skeptische blonde Norddeutsche je vermutet, kritisiert und in Zweifel gezogen hatte, spukte in ihrem Kopf herum
und ließ sie lange nicht zur Ruhe kommen.
Doch irgendwann hatte sie sich selbst davon überzeugt, dass nichts davon wahr war, wahr sein konnte. Eines aber stimmte: Kathleen war nicht auserwählt worden, platzte daher vor Neid und verbreitete böse Geschichten, von denen sie sich nicht weiter beirren lassen sollte.
Und wenn Gunlod ihr da draußen vor der Tür etwas verpasst hatte, dann hätte sie das sicher auch verdient.