Patientin, Zeugin und Journalistin
»Warum dauert das denn so lange?«, nörgelte Yvonne Kruse. Ihr Tonfall bestätigte mir, was ich von vornherein geahnt hatte: Hier saß ein verwöhntes Töchterchen aus wohlhabendem Elternhaus, das die ambitionierten Erwartungen des Vaters nicht ganz hatte erfüllen können und deshalb nach Schlupflöchern suchte, um ihn doch noch von sich zu überzeugen. »Wir sind doch jetzt fertig, da kann ich wohl nach Hause gehen!«
Ich hatte sie im ersten Behandlungszimmer zurückgelassen, während ich im zweiten andere Patienten behandelte. Doch allmählich näherte sich ihre Geduld dem Ende.
Ich warf einen Blick auf die Uhr. Zehn Minuten noch, wenn Jörg pünktlich sein konnte.
»Frau Kruse, Sie werden verstehen, dass ich mich als Ärztin absichern muss!«, erwiderte ich mit ernster Miene. »Gerade bei untergewichtigen Personen wie Ihnen möchte ich abwarten, ob unmittelbar nach der Impfung Nebenwirkungen auftreten. Die Gefahr ist gegenüber Normalgewichtigen leider erhöht.«
»Das hätten Sie mir schon vor der Impfung sagen müssen!«
Die Patientin bedachte mich mit einem bitterbösen Blick, der an mir abprallte.
»Bitte bleiben Sie noch einen Moment liegen; ich lasse Sie wissen,
wann Sie nach Hause fahren dürfen«, sagte ich und begab mich wieder nach nebenan. Per Telefon informierte ich Gerlinde im Flüsterton darüber, dass sie die beiden Frauen weiterhin im Auge behalten sollte und auf keinen Fall aus der Praxis entkommen lassen durfte – eine Anweisungen, die bei ihr Fragen aufwarf, doch die Erklärung musste warten. Yvonne und Chiara sollten sich in Sicherheit wiegen.
Ehe ich den nächsten Patienten aufrief, öffnete ich das Fenster. Angesichts der diversen Düfte, die meine Patienten in die Praxis schleppten, war Stoßlüften leider auch an einem Regentag im November unentbehrlich.
Mein Blick fiel auf den Patientenparkplatz schräg gegenüber. Zwischen all den grauen, dunklen Autos leuchtete mir ein kleiner Fiat in auffälligem Feuerrot entgegen – das Fahrzeug, dem ich nach Katharinas Unfall auf dem Nachhausweg begegnet war! Viele feuerrote Autos dieses Typs gab es in der Gegend wohl kaum, schon gar nicht mit italienischem Kennzeichen. Für mich war damit glasklar: Yvonne Kruse war auf der Flucht gewesen und hatte, nachdem die sie die Hunde losgeworden war, von irgendwo ihre Freundin Chiara angerufen – die sie dann aufsammelte.
Warum aber war sie nicht zur Polizei gegangen? Wenn sie gefangengehalten worden war und entkam, wäre das dann nicht der allererste Schritt? Oder träumte diese Frau immer noch vom großen Durchbruch als investigative Journalistin, weshalb sie ihre Informationen zunächst zurückhalten wollte?
Yvonne Kruse heulte, tobte und drohte mir abwechselnd mit ihrem Vater, der mich medial plattmachen würde (sic!), weil ich mit meinem Anruf bei der Polizei angeblich das Arztgeheimnis gebrochen hätte, und ihrem Star-Anwalt. Immer wenn dieses Stichwort fiel, tauschten Jörg und ich einen kurzen Blick und mussten uns sehr zusammenreißen, um nicht zumindest zu schmunzeln. Denn sollte der wohlhabende Papa sich nicht einschalten, würde sie wohl nur auf einen Pflichtverteidiger
zurückgreifen können. Diesen zu verständigen, gab es jedoch keine Veranlassung, wie Jörg der aufgebrachten jungen Frau wiederholt klarzumachen versuchte.
»Das ist doch nur ein Informationsgespräch«, erklärte er ihr zum wiederholten Mal, während sie zitterte, als ginge es um ihr Leben. »Sie sind eben eine wichtige Zeugin!«
Ich bewunderte ihn um die Geduld, die er an den Tag legte. Andererseits war ich der Kruse fast schon ein bisschen dankbar für ihr hysterisches Geheul und Luftschnappen. Auf diese Weise konnte ich Jörgs erster Einvernahme ganz offiziell beiwohnen. Er bestand auf eine Ärztin im Raum. Da nutzte der Protest der blonden Diva herzlich wenig.
Irgendwann gab sie den Widerstand auf und saß nur noch wie ein Häufchen Elend auf meiner Untersuchungsliege. Beinahe tat sie mir leid. Ich reichte ihr einen Plastikbecher mit Wasser, für den sie sich sogar artig bedankte.
»Wenn meine Eltern davon erfahren, werde ich enterbt«, grollte sie schließlich mit Grabesstimme. »Die denken, ich arbeite auf einem Kreuzfahrtschiff.«
»Das wissen wir bereits.« Jörg saß ihr mit gekreuzten Beinen gegenüber und hielt seinen Drehstuhl in Schwung. »Wie haben Sie das denn eigentlich hinbekommen, mit den Postkarten?«
»Ach, die.« Yvonne lächelte nun, wenngleich auch sehr zaghaft. »Eine Freundin von mir arbeitet tatsächlich auf einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik. Vor Jahren habe ich diese Reise mit meinen Eltern unternommen und Postkarten gesammelt. Die habe ich einfach mit nichtssagenden Texten beschriftet und Lisa geschickt, die sie dann vor Ort aufgibt.«
»Ganz schön clever«, lobte Jörg, und für einen kurzen Moment lang strahlten Yvonnes Augen wie die eines Kindes. »Aber warum eigentlich der Aufwand? – Ihr Vater müsste doch stolz sein auf so viel Eigeninitiative. Ich meine, dass Sie investigativ recherchieren und dann einen Artikel schreiben wollten.«
»Für den zählen nur Ergebnisse. Und solange ich ihm die nicht liefern kann, ist er auch nicht stolz auf mich.«
»Aber warum ist das so wichtig?«, warf ich ein. »Ich meine, dass
er stolz auf Sie ist. Sie sind dreißig. Da sollte man doch über so etwas hinaus sein.«
»Sie haben ja keine Ahnung, wie das ist!« Yvonne fuhr wieder ihre Krallen aus, und ich erntete von Jörg einen strafenden Blick. »Bei Ihnen ist sicher immer alles blendend gelaufen, aber bei mir nie! Ich musste zweimal zum Abi antreten, weil mein Mathelehrer mich nicht leiden konnte! Und an keiner Journalistenschule kam ich durch den Aufnahmetest! Das Praktikum beim STERN
habe ich damals auch nur bekommen, weil mein Vater seine Beziehungen spielen ließ! Und dann habe ich etwas komplett Sinnloses studiert …« Ihre Tränen begannen wieder zu laufen. »Journalistik! Das braucht kein Mensch, geschweige denn, dass das von irgendeinem Chefredakteur anerkannt wird! Ich bin einfach zu nichts zu gebrauchen!« Sie schlug sich voller Verzweiflung beide Hände gegen die Stirn und schluchzte laut.
»Also, ich finde Sie wirklich ziemlich gerissen – und auch mutig.« Jörg sandte ihr ein aufmunterndes Lächeln entgegen, das sie dankbar erwiderte.
Okay, sie reagierte eindeutig auf Männer. Ich sollte mich da also wohl besser heraushalten.
»Soweit ich das aus den Erzählungen Ihrer Freundin Chiara verstanden habe, ist es Ihnen immerhin gelungen, sich in diese Sekte einzuschmuggeln«, fuhr er fort. »Das war sicher nicht so einfach. Ich kann mir vorstellen, dass die Frauen dort ziemlich skeptisch gegenüber potenziellen Neuaufnahmen sind. Und dass man sich irgendwie beweisen muss.«
»Na ja … es war eigentlich nicht so schwer.« Yvonne schien allmählich zu Jörg Vertrauen zu fassen. »Es gibt da einen Mann, einen Autor und Wissenschaftler. Ich hatte Psychologie als Nebenfach und kannte ein paar seiner Schriften über Verhaltenskontrolle – die allerdings wissenschaftlich sehr umstritten sind. Er hat auch einen Roman geschrieben, Future One
. Ein total abgedrehter Schinken.« Sie schüttelte sich, als würde sie allein bei dem Gedanken an die Handlung frösteln. »Es geht um eine Kommune von Frauen, die von Kameras überwacht werden und an eine höhere Macht glauben, die in ihre Gedanken eindringen kann.
Ihr ganzes Leben wird bestimmt von Zwängen, absurden Regeln und Ängsten. Mal werden sie belohnt, dann wieder bestraft. – Jedenfalls, ich habe diesen Mann angeschrieben, seinen Roman in den höchsten Tönen gelobt und ihm ein Treffen vorgeschlagen, weil ich noch so viele Fragen an ihn hätte. Na ja … und er hat eingewilligt.«
Ich erkannte an Jörgs Gesichtsausdruck, dass er hochgradig alarmiert war.
»Haben Sie sich als Journalistin zu erkennen gegeben?«
»Nein! Das hätte doch meine Pläne torpediert. Da wäre er sicher skeptisch geworden. Ich habe mich als Fan ausgegeben … als Studentin, die sich für sein Genie begeistert.« Sie verzog das Gesicht. »Bei manchen Männern reicht wirklich wenig, um ihren Verstand auszuhebeln. Blonde Locken, 75 D und naive Schwärmerei. Der hat mir wirklich alles abgenommen!«
Jörg hob amüsiert die Augenbrauen – was Yvonne Kruse völlig falsch deutete. »Ich sah früher besser aus. Also, ehe ich da lebte …«
»Sie sehen immer noch sehr gut aus.« Jörg verstand sich wirklich darauf, die Frau aus der Reserve zu locken. »Aber wie sind Sie eigentlich auf Hirschecks Verbindung zu Lumenaria
gekommen?«
Yvonne Kruse riss schockiert ihre Augen auf.
»Sie wissen, von was für einer Organisation ich spreche?!«
»Klar. So dumm ist die Polizei auch nicht.« Jörg entlockte ihr mit seiner flapsigen Bemerkung ein weiteres Lächeln, das sich noch vertiefte, als er hinzufügte: »Wie ich anfangs schon sagte, Sie sind eine wichtige Zeugin, Frau Kruse, und Ihre Aussage ist für uns immens wertvoll.«
»Ach so. Ich dachte … ich dachte, dass …« Nervös fuhr sie sich mit der Hand durch ihr Haar. »Also. Gut. Tut mir leid wegen vorhin … ich dachte, das mit der Zeugin sagen Sie nur so.« Wieder stockte sie. Jörgs Lid zuckte, was mir verriet, dass ihn das Gestammel genauso ungeduldig machte wie mich. Endlich fuhr sie fort: »Einer meiner Ex-Freunde hat eine Cousine. Clara. Nur ein paar Jahre älter als ich, aber irgendwie … ist ihr Leben vorbei, verstehen Sie? – Sie ist manisch-depressiv und muss rund um die Uhr beaufsichtigt werden, damit sie sich nichts antut. In ihren depressiven Phasen liegt sie nur im Bett und dämmert dahin, in den manischen spricht sie immer von
einem Lichtwesen und von Erleuchteten, die einen Fluch über sie verhängen würden, wenn sie sie verriet. Niemand nahm sie ernst. Aber irgendetwas brachte mich dazu, ihr zuzuhören, ihr Fragen zu stellen … Anfangs hatte sie Angst, mir davon zu erzählen. Es sei doch alles geheim, die Erleuchteten würden alles sehen … so ein Zeug kam von ihr. Aber langsam vertraute sie mir, und ich begriff, dass das, was sie da erzählte, nicht ihrer Phantasie entsprang. Es gab diese komischen Gestalten, und sie nannten sich …«
»Magische Zunft
«, vollendete Jörg ihren Satz.
»Woher …«
»Wie gesagt, wir von der Polizei tun auch unsere Arbeit. – Aber bitte, erzählen Sie weiter.«
»Sie waren in Hessen aktiv, zogen dann aber anscheinend weiter. Übrigens just zu dem Zeitpunkt, als Clara damals wieder aufgetaucht ist.« Yvonne hielt kurz inne, fuhr sich erneut durchs Haar. »Irgendwann nannte sie mir Hirschecks Namen. Er hätte ihr das Tor zur Spiritualität geöffnet. Ich begann zu recherchieren – und hatte spätestens nach dem Lesen seines Romans den sicheren Riecher. Das würde meine große Story!«
»Und dann haben Sie den Mann getroffen und – zack – hat er den Kontakt zu Lumenaria
hergestellt? Warum sollte er das tun?«, wunderte sich Jörg. »Was hat er als Verhaltenspsychologe denn überhaupt mit so einer Sekte am Hut?«
Yvonne sah ihn mit großen Augen an.
»Verstehen Sie das wirklich noch nicht? Hirscheck selbst hat mit Esoterik und Co. nicht das Geringste am Hut. Für ihn ist die Sekte Mittel zum Zweck; was er will, sind seine qualitativen Einzelfall-Studien. Lumenaria
ermöglicht sie ihm. Die Räume dort sind mit Kameras ausgestattet; ich bin sicher, er hat uns die ganze Zeit beobachtet. Gleichzeitig sind die sogenannten Erleuchteten dadurch immer bestens informiert, was die Lernenden treiben, und nutzen dieses Wissen bei Bedarf aus.«
»Aber Sie wissen schon, dass seine Frau ein Medium ist? Mit Geistern spricht?«
Yvonnes überraschtes Gesicht sprach Bände.
»Gesine?« Gerlinde streckte den Kopf zur Tür hinein. »Da sitzen
noch fünf Leute im Wartezimmer …«
Ich unterdrückte ein Seufzen. Meine Lust, mich um meine Patienten zu kümmern, tendierte gegenwärtig gegen Null. Allerdings verdiente ich mein Geld nicht dadurch, dass ich die Ermittlungen der niederbayerischen Polizei begleitete.
»Fünf Minuten noch!«, versicherte ich meiner guten Seele.
Gerlinde verzog missbilligend das Gesicht, ehe sie die Türe wieder schloss.
»Wo genau liegt der Hof, auf dem Sie die letzten Monate verbracht haben? Haben Sie einen Ortsnamen, können Sie ihn geographisch lokalisieren?«, erkundigte sich Jörg.
»Nein, ich … da ist jetzt wahrscheinlich sowieso niemand mehr anzutreffen. Ich sagte ja schon: Die haben alles zusammengepackt.« Yvonne stockte. War ihr etwa nicht daran gelegen, dass die Polizei das Lumenaria
-Hauptquartier fand? – Beinahe erweckte es den Eindruck. »Es ist eine ehemalige Ziegelei«, gab sie schließlich preis. »Mit einem Teich, an einem Waldrand. Mehr weiß ich nicht. Ich wurde in einem Bus hingebracht, mitten in der Nacht. Bei meiner Flucht rannte ich einfach davon. Da war kein einziges Haus in der Nähe, und es dauerte, bis ich zu einer größeren Straße kam. Es liegt sehr entrisch.«
»Frau Kruse. Sie werden uns auf das Polizeipräsidium begleiten müssen. Wir haben noch viele Fragen. Und wir bitten Sie auch gleich, uns beim Erstellen von Phantombildern zu helfen, damit nach den Sektenführerinnen gefahndet werden kann.«
»Weil sie Frauen gefangen halten, manipulieren und unter Drogen setzen?« Yvonne Kruse blinzelte. »Das können Sie sich sparen. Damit werden Sie vor Gericht nicht durchkommen. Die Frauen haben einen Vertrag mit Lumenaria
geschlossen, in dem sie erklären, dass sie sich darauf freiwillig einlassen und die Rahmenbedingungen akzeptieren. Man sagt ihnen, dass sie jederzeit gehen können. Und letztendlich könnten sie das ja auch. Der Hof, auf dem ich mit ihnen lebte, ist zwar mit Stacheldraht umzäunt und es gab auch Bewegungsmelder, aber wie Sie sehen, ist es mir gelungen, zu entkommen. Es ist nicht so schwierig, wenn man Schrammen in Kauf nimmt.«
»Erstaunlich, dass Sie das so darstellen«, schaltete ich mich ein. »Wo Sie doch von Hunden gejagt wurden …«
»Ja, die Hunde.« Yvonne betrachtete nachdenklich ihre Zehenspitzen. »Das ist seltsam. Die hatte ich noch nie zuvor gesehen. Aber in dieser Nacht waren sie plötzlich da. Gut jedenfalls, dass die Hunde daran glauben mussten und nicht ich.«
»Wieso sind Sie eigentlich ausgerechnet in jener Nacht weggelaufen, wo Sie doch monatelang undercover dort gelebt haben? Gab es etwa Probleme?«
»Probleme?« Yvonne lachte bitter. »So könnte man es auch nennen! – Möglicherweise waren ja Ihre Ermittlungen schuld, die wohl nicht dezent genug abliefen. Jedenfalls haben sie plötzlich alles zusammengepackt und die Frauen weggebracht!«
»Weggebracht?«, wiederholte Jörg.
»Ja, wie damals in Hessen. Wie mit Clara, nehme ich an. Sie entledigen sich der Frauen, wenn sie sie nicht mehr brauchen.« Yvonne atmete tief durch. »Sie pumpen sie mit Drogen voll und setzen sie aus – an Bahnhöfen, vielleicht mit einem Ticket, vielleicht auch ohne.«
»Das klingt, als handele es sich um willenlose Wesen«, warf Jörg ein. »Sie können aber doch sprechen und sich wehren.«
Yonne lachte bitter.
»Das sind Sie ja auch … willenlos, meine ich! Sie sind einer Gehirnwäsche unterzogen worden, glauben daran, dass sich ihr Wunschtraum erfüllt!« Wieder lachte sie, diesmal etwas herzhafter. »Da inhalieren diese Frauen jahrelang jeden Blödsinn, den diese vier Oberpriesterinnen ihnen eingeredet haben, lernen brav alles auswendig, haben kaum einen anderen Gesprächsstoff als ihre Erleuchtung – und dann werden sie plötzlich ausgesetzt wie räudige Hunde! Werden in eine Welt zurückgestoßen, von der sie nur noch Schlechtes denken … die Welt der Unwissenden
nennen sie sie, eine Welt voller Feinde. Sie haben sich von ihren Verwandten und Freunden entfremdet, falls sie überhaupt welche hatten, sind entkräftet und häufig unter Drogen … Die ganzen Tees, die es ständig zu trinken gab – da war oft irgendetwas drin, was einen ganz benommen machte. Manche wirkten danach wie im Delirium.
Besonders bei den Festen, die die sogenannten Erleuchteten mit uns feierten, waren alle irgendwie berauscht.«
»Sie nicht?«
Yvonne hob die Schultern.
»Ein-, zweimal habe ich auch davon getrunken, da ging es nicht anders. Die meiste Zeit habe ich nur so getan und das Zeug weggekippt. – Aber ja, die setzen die Frauen eindeutig unter Drogen, um ihnen Illusionen vorzugaukeln und sie gefügig zu machen! Einmal dachten sogar alle, sie seien durch die Luft geflogen, können Sie sich das vorstellen?«
Sie lachte und schüttelte dabei den Kopf, als könnte sie ihren eigenen Worten nicht glauben.
»Was mich noch interessieren würde: Sagt Ihnen Light & Fire
etwas? Oder eine Sabine Erdlinger?«
»Sabine wer?« Yvonne runzelte die Stirn. »Ach ja. Der Name ist mal gefallen. Eine der Frauen hat Light & Fire
erwähnt. Sie hat dort Selbstfindungsseminare gemacht. Eine Sabine hat ihr da angeblich von Lumenaria
erzählt.«
Wieder streckte Gerlinde den Kopf zur Tür herein. »Deine Patienten werden allmählich ziemlich sauer, Gesine! – Soll ich sie heimschicken, oder was?«
Ich seufzte gequält.
»Gleich …«, setzte ich an, doch Gerlinde blieb hart.
»Nein, sofort!«, wies sie mich unerbittlich an und rührte sich nicht von der Stelle. Sosehr ich sie in diesem Augenblick verwünschte, so dankbar war ich ihr grundsätzlich. Dass mein Praxisbetrieb in der Regel funktionierte wie am Schnürchen, war ihr Verdienst, nicht meiner.
»Frau Doktor Hofmann, danke soweit.« Jörg erhob sich und wandte sich an Yvonne Kruse. »Und jetzt fahren wir beide ins Präsidium und setzen unser Gespräch fort.«
»Wie? Was? Warum denn?« Yvonnes Stirne legte sich in Falten. »Ich habe alles gesagt, was ich weiß! Ich kann Ihnen alles aufschreiben, was ich über das Sektenleben und diese Frauen weiß. Ich habe auf meinem Handy auch Fotos, aber die sind leider von miserabler Qualität. Ich konnte nur ohne Blitz fotografieren, musste
vorsichtig sein. Die Gesichter erkennt man kaum. Und für die Phantombilder kann ich doch morgen vorbeischauen, oder?« Sie richtete ihre Augen hoffnungsvoll auf Jörg. »Ich bin müde und erschöpft, dazu hungrig ohne Ende. Ich habe monatelang unter Extrembedingungen gelebt!«
»Frau Kruse. Sagt Ihnen der Name Marion Schwaiger was?«
»Ähm … ich weiß nicht.«
Yvonne sah mich unsicher an, so als erwarte sie von mir irgendeine Hilfestellung. Ich hatte das Gefühl, dass sie ganz genau wusste, von wem die Rede war.
Jörg hielt ihr ein Foto unter die Nase.
»Kennen Sie diese Frau?«
»Nicht direkt.« Yvonne ließ sich wieder auf die Untersuchungsliege sinken. Sie wirkte noch blasser als zuvor. Besorgt trat ich neben sie. »Ich meine, ich habe von ihr gehört … sie nur einmal kurz gesehen. Ehe sie weggebracht wurde.«
»Sie wurde auch weggebracht? Haben Sie das beobachtet?«
»Ähm … na ja.« Yvonne sah wieder zu mir, während Gerlinde, die immer noch auf der Türschwelle stand, sich mit einem kräftigen Räuspern in Erinnerung rief. Sowohl Jörg als auch ich ignorierten es. »Man hat uns gesagt, sie habe die Ausbildung abgebrochen und sei weggegangen …« Yvonne presste die Lippen aufeinander. Ein paar Sekunden lang erfüllte ihr Schweigen den Raum. Sogar Gerlinde war jetzt wohl klar, dass wir gerade an einem entscheidenden Punkt angekommen waren.
»Ich konnte doch nichts tun!«, brachte Yvonne hervor. »Als ich sie das erste und letzte Mal gesehen habe, war sie total abgemagert und sah krank aus. Und irgendwie, als wäre sie nicht ganz da! – Ich war mir nicht mal sicher, dass die Frau, die sie aus dem Keller holten, diese Marion ist! Vorher hatte ich nur ihren Namen gehört. Sie wurde von den anderen bewundert, weil sie auserwählt war und irgendwelche geheimen Studien betreiben durfte! Und dann sah ich vor ein paar Wochen, wie sie sie aus dem Keller holten … kahl rasiert, klapperdürr, sie sah schrecklich aus! Sie brachten sie in den Speisesaal … mehr weiß ich nicht. Ich hörte sie wimmern. Rauch kam unter der Tür hervor, und da waren diese komischen Sprechgesänge.
Ich habe mich verdrückt, um nicht entdeckt zu werden; mehr kann ich dazu also nicht sagen! In der Nacht gab es dann plötzlich einen großen Aufruhr; die Lichter im Hof gingen an und am nächsten Tag hieß es, sie hätte die Ausbildung abgebrochen.« Yvonne verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich nehme an, sie ist inzwischen irgendwo aufgetaucht, verwirrt und neben der Rolle?«
Jörg sah sie ernst an. »Marion Schwaiger ist tot, Frau Kruse. Ihre Leiche wurde auf dem Grundstück von Professor Hirscheck gefunden.«
Yvonne Kruse starrte ihn sekundenlang an. Dann sackte sie in sich zusammen.