Ein nächtlicher Ausflug und eine Entdeckung
»Ich wollte mich bedanken. Wegen meines Wagens.« Katharina stand vor der Haustür und steckte mir mit verschmitztem Grinsen genau die bauchige Flasche Whiskey entgegen, die ich ihr schon einmal zurückgebracht hatte.
Ich wusste in dem Moment nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Es war kurz vor neun Uhr abends. Eigentlich war ich hundemüde. Erst vor knapp einer Stunde hatte ich die Praxis abgeschlossen. Das Auftauchen von Yvonne Kruse hatte meinen ganzen Terminplan durcheinandergeworfen. Immerhin hatte ich jetzt bereits geduscht und etwas im Magen – Fertigpizza, das übliche, wenn es schnell gehen sollte. In meiner verbeulten Jogginghose und dem beigefarbenen Schlabberpulli sah ich im Vergleich zu Katharina, die unter ihrem Mantel gewiss wieder eines ihrer schicken Kleider trug, wieder einmal aus wie Aschenputtel. Daran änderte auch das große Pflaster nichts, das auf ihrer Stirn klebte.
Der kalte Windstoß, der Katharinas Haar zerzauste und mir fast die Klinke aus der Hand riss, nahm mir die Entscheidung ab.
»Komm rein.«
In der verschlossenen Küche hörte ich Gustav auf Arco einreden, der seit dem Ertönen der Klingel bellte. Anscheinend hatte er mal wieder eine wachsamere Phase. Ich kam noch nicht einmal dazu, Katharina aus dem Mantel zu helfen, als auch schon die Küchentüre aufging und Hund und Herr im Hausflur standen. Während Arco aus seiner Neugierde keinen Hehl machte und Katharina von oben bis unten beschnupperte, versuchte mein Onkel sein jähes Auftauchen als Zufall zu verkaufen.
»So eine Überraschung«, sagte er, während er meiner Besucherin die Hand reichte und mich mit einem neugierigen Seitenblick bedachte. »Gerade habe ich mich gewundert, warum der Hund so bellt …«
»Der Hund bellt, weil Katharina geläutet hat«, stellte ich unwirsch klar. Das zweideutige Schmunzeln in seinem Gesicht, das auch sein Schnurrbart kaum verdecken konnte, ging mir auf die Nerven. »Und wie du siehst, habe ich ihr bereits geöffnet.«
Es war, als hätte ich gegen die Wand gesprochen. Mein Onkel strahlte Katharina an, als wäre ihm das Christkind persönlich erschienen. In deren Augen wiederum lag wieder dieses gewisse Funkeln, das mich immer dann in Rage brachte, wenn es nicht mir galt.
»Zufällig habe ich gestern eine Flasche Bordeaux im Keller entdeckt und dabei gleich an dich gedacht«, ließ Gustav nun auch noch verlauten, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Ich weiß ja, dass du einen guten Tropfen schätzt! – Wenn ihr mir einen kurzen Moment gebt, räume ich nur schnell den Tisch ab … oder ihr geht schon mal ins Wohnzimmer … Wenn du den Heizlüfter anstellst, Gesine, wird es auch ganz schnell warm!«
Da sich Gustav meist in der Wohnküche aufhielt, wurde das in meinen Augen ohnehin ungemütliche Wohnzimmer nur dann beheizt, wenn sich Besuch ankündigte.
»Danke, aber: nein , danke!«, erwiderte ich mit Nachdruck und schob Katharina sanft in Richtung Treppe. »Wir haben was zu besprechen.« Was, war mir selbst ein Rätsel, doch dass mein Onkel sie mit Alkohol abfüllte, sobald sie den Fuß über die Schwelle setzte, wollte ich zumindest diesmal verhindern.
In meinem Zimmer im Dachgeschoss stellte Katharina die Whiskeyflasche auf den Couchtisch und ließ ihren Blick von der Sofaecke über mein ungemachtes Bett bis hin zum offenen Kleiderschrank schweifen. Es war das erste Mal, dass sie hier war, und unwillkürlich fühlte ich mich an Hollys ersten Besuch erinnert. Während Holly mit großem Interesse meine Fotogalerie an der Wand betrachtet und Fragen, speziell zu meiner Familie, gestellt hatte, verlor Katharina kein Wort über die Bilder.
Als sie sich des Mantels entledigt hatte, schob sie den Stapel frischer Wäsche zur Seite, den ich noch immer auf dem Sofa liegen hatte, und ließ sich nieder.
»Bist du jetzt sogar auf deinen Onkel eifersüchtig? – Das ist wirklich lächerlich.«
Und schon waren wir wohl mitten im Thema – allerdings in einem, für das ich nach diesem Tag nicht wirklich Lust und Energie aufbringen wollte. Ich ließ mich neben sie in die Polster fallen und legte meinen Kopf auf die Rückenlehne des Sofas, die Augen gen Decke gerichtet.
»Ich dachte, du wolltest dich bei mir bedanken?«
»Du willst den Whiskey ja nicht«, kam als Antwort zurück, und ich wusste ein Mal mehr, was Diskussionen mit dieser Frau immer so verdammt mühsam machte. Sie hatte die Gabe, einem das Wort im Mund umzudrehen. Allmählich begann ich zu verstehen, wie es den Gärtners und anderen Bekannten, mit denen sie in Konflikt geriet, gehen musste. »Also erzähl mir lieber, was mit dieser Sekte und Hirscheck ist. Hat dein Freund Jörg herausgefunden, was es damit auf sich hat?«
Ich erzählte ihr, was Yvonne Kruse über Lumenaria berichtet hatte, und erfuhr zu meinem Erstaunen, dass Veleda Mayerhofer über Marion Schwaiger zu Lumenaria gekommen war.
»Mein juristischer Spürsinn sagt mir, dass es schwierig werden wird, Hirscheck etwas nachzuweisen«, schloss Katharina. »Was seine Beteiligung am Sektenleben angeht, meine ich. Zum Mord an dieser Schwaiger fehlen mir die Details.«
»Jörg hat sich an der Theorie festgebissen, dass die Hunde seiner Gattin auf sie angesetzt wurden und sie in den Tod gehetzt haben.«
»Das macht für mich keinen Sinn«, erwiderte Katharina, während sie gleichzeitig in ihrer Handtasche herumzukramen begann. »Warum sollten Hirscheck und seine Frau das Risiko eingehen, dass sie ausgerechnet auf ihrem Grundstück stirbt? – Die beiden mögen verblendet sein, aber sie sind aus meiner Sicht viel zu intelligent, um so ein stümperhaftes Verbrechen zu begehen. Außerdem wissen die, dass es nichts bringt, einer Toten nachträglich Alkohol einzuflößen. Ohne Herzaktion auch keine Peristaltik, und ohne Peristaltik keine Resorption. Das heißt, der Stoff bleibt im Magen und der Plan, die Frau als sturzbetrunken hinzustellen, ist zum Scheitern verurteilt.«
Auch wenn ich eine Fachfrau vor mir hatte, beeindruckten mich ihre Kenntnisse wieder einmal. Ich war ziemlich überzeugt, dass selbst Gerlinde mit ihrer medizinischen Grundausbildung an einer solchen Darlegung gescheitert wäre, und wollte Katharina gerade ein Kompliment machen, als ich die Zigarette in ihrem Mund und das bereits gezückte Feuerzeug entdeckte.
»Nein, nein, nein!« Ich nahm ihr die Zigarette ab. »Nicht in meinem Zimmer!«
»Gut, dann geh ich eben vor die Türe.« Sie erhob sich und griff nach ihrem Mantel. »Ich halte es ohne nicht länger aus.«
Die Vorstellung, dass Katharina Habler an der Hauptstraße vor unserem Haus stand und rauchte, gegenüber vom Schlafzimmer meiner ehemaligen Beinahe-Schwiegermutter, behagte mir genauso wenig wie die Vorstellung, dass sie meine Bude verqualmte. Nach hinten in den Hof wollte ich sie auch nicht unbedingt schicken. Das Außenlicht funktionierte im Moment nicht, und ich hatte Bedenken, dass sie im Dunkeln über den Treppenabsatz fiel oder über die leeren Bierkisten stolperte, die mein Onkel dort stapelte.
»Ich habe eine bessere Idee: Lass uns einen Ausflug machen«, schlug ich vor, von einem plötzlichen Tatendrang ergriffen, der mich selbst überraschte. Seit ich von der Sekte und Jörgs Ermittlungen erzählt hatte, war meine Müdigkeit wie weggeblasen. »Jörg hat mir von dieser Ziegelei erzählt, vier oder fünf Kilometer von Dipolding entfernt, in der Nähe von der Stelle, wo dir die Hunde ins Auto gelaufen sind. Lass uns mal vorbeischauen. Mich würde interessieren, wie es da aussieht.«
»Jetzt? Mitten in der Nacht?« Katharina bedachte mich mit einem skeptischen Blick. »Na gut, von mir aus«, willigte sie dann ein. »Wenn ich dort zumindest rauchen kann …«
Was ich mir genau davon versprach, mitten in der Nacht bei kühlem Herbstwind und Vollmond nach einem Hof zu suchen, dessen Lage ich nur aus Jörgs Beschreibungen kannte, wusste ich selbst nicht genau. Vermutlich hatte mich wirklich seit Langem wieder die Abenteuerlust gepackt. Gleichzeitig suchte ich für mich nach einer plausiblen Erklärung, was Frauen wie Irma Pohl, die immer noch auf der Psychiatrie lag, und die tote Marion Schwaiger dazu bewogen haben mochte, sich auf eine Sekte einzulassen.
Wir verfuhren uns zweimal auf irgendwelchen Feldwegen, die irgendwo im Nirwana mündeten, ehe wir die Umrisse des Anwesens in der Dunkelheit erkannten. Das gewaltige Eisentor stand offen. Ich fuhr hindurch und parkte mitten im Hof.
»Eines muss man dir lassen: Du hast ein Händchen für außergewöhnliche Dates«, lautete Katharinas trockener Kommentar, als wir ausgestiegen waren. Während sie sich bereits eine Zigarette anzündete, zog ich meinen Schal weiter ins Gesicht und sah mich um. Das alte Haupthaus umgaben einige Nebengebäude. In rund hundert Metern Entfernung spiegelte sich der Mond in der Wasserfläche des ehemaligen Ziegelteichs. Einen Moment lang stellte ich mir vor, wie es hier wohl vor fünfzig, sechzig Jahren zugegangen sein mochte: Lastwägen, die mit Lehm und Ton aus der näheren Umgebung beladen in den Hof fuhren. Arbeiter, die das Material abluden und verarbeiteten. Brennöfen, die rund um die Uhr im Schichtbetrieb beheizt wurden und deren Rauch Tag und Nacht auf mehrere Kilometer Entfernung zu sehen gewesen war. Ziegel, die auf anderen Lastwagen abtransportiert wurden und bis heute die Dächer zahlreicher älterer Häuser in Aichendorf und Umgebung zierten.
Was so gar nicht in die Kulisse passte, waren der meterhohe Stacheldrahtzaun, der das gesamte Gelände umgab, und die Bewegungsmelder. Sie hatten sich nicht eingeschaltet – vermutlich war der Strom abgestellt. Im Licht meiner Autoscheinwerfer hatte ich die Installationen dennoch entdeckt.
»Das hat einen gewissen Gefängnisflair«, sprach Katharina meine Gedanken aus. »Suchen wir eigentlich etwas Bestimmtes, oder war dieser Ausflug nur eine billige Ausrede, weil du keinen Sex mit mir willst?«
»Ich wusste gar nicht, dass es diese Option für heute Abend gab«, scherzte ich ausweichend, während ich mich weiter umsah. Das Abwesen wirkte verwaist.
Katharina neben mir lachte leise und blies Rauch in die Luft.
»Stell dich nicht dumm«, sagte sie schließlich. »Und halte mich bitte nicht für so dämlich, dir deine Ausreden auch noch zu glauben.«
Ein Windstoß fegte über den Hof und wirbelte die Blätter auf, die von den großen Kastanienbäumen zwischen den Scheunen gefallen waren. Der Wind ließ uns beide frösteln, trieb mir aber auch einen markanten Geruch in die Nase: Ziege. Irgendwo hier musste ein Stall ein.
Meinem Geruchssinn folgend, ging ich hinüber zu dem kleineren der Nebengebäude. Ich konnte nur hoffen, dass die Polizei die Tiere gefunden und weggebracht hatte. Die Tür klemmte erst etwas, als ich am Türknopf zog, ließ sich dann aber öffnen.
Es roch intensiv nach Mist, aber zumindest nicht nach Tod. Im Schein der Mini-Taschenlampe, die an meinem Schlüsselbund hing, erkannte ich einen leeren Verschlag und Reste von Heu.
»Igitt, das ist ja widerlich«, kam es von Katharina, die mir in den Stall gefolgt war. »Jetzt bin ich mit meinen Pradastiefeln in Ziegenscheiße gestiegen! Und das alles nur, weil du lieber auf verlassenen Bauernhöfen herumstakst, als mit mir ins Bett zu gehen! – Irgendetwas stimmt mit dir nicht!«
Ihre Empörung war so echt, dass ich lachen musste. Sie lachte auch, und ich fühlte mich ihr in dieser Minute stärker verbunden als je zuvor. Trotzdem gab es aus meiner Sicht so einiges, was gegen eine weitere heiße Nacht mit ihr sprach. Doch das würde sie nicht verstehen. Das wusste ich jetzt schon, weshalb ich ein Gespräch darüber lieber aufschob.
Wir traten wieder hinaus in den Hof. Katharina zündete sich die nächste Zigarette an, wonach sie den Stummel der vorausgegangenen einfach nur zu Boden warf. Der Wind wehte ihn dem halboffenen Scheunentor zu.
»Hey! Willst du das Gehöft abfackeln? In der Scheune ist sicher Heu und Stroh. Das brennt lichterloh, wenn …«
»Psst! Da war was!« Katharinas Fingernägel bohrten sich in meine Schulter.
»Blödsinn!« Ich sah mich um. Die Kulisse hatte sich nicht verändert. Außer Katharinas schnellen Atem hörte ich nichts.
»Da ist n…«, setzte ich an, doch in diesem Moment vernahm ich es auch: erst ein Rascheln, dann ein Scheppern. Es kam aus der Scheune.
Tapfer, aber mit klopfendem Herzen schob ich das quietschende Tor auf und leuchtete hinein. Zwei grün funkelnde Augen leuchteten aus einiger Entfernung zurück. Ich streckte die Taschenlampe vor mich wie ein Schwert. Nach einer beiderseitigen Schrecksekunde huschte das Wesen hinter ein paar aufgeschichtete Heuballen. Dabei warf es einen Blecheimer um.
Katharina stieß einen gellenden Schrei aus, der das Scheppern des Eimers fast übertönte und mir mehr Schrecken einjagte als die Ziege, die jetzt auf den Heuballen weiter links stand, uns erstaunt ansah und ein heiseres Meckern von sich gab.
Ich atmete tief durch und schob das quietschende Scheunentor wieder zu. Dann zückte ich mein Smartphone.
»Fünfeinhalb Kilometer sind es von hier nach Schloss Dipolding, wenn man die Straße entlang geht. Und knapp drei, wenn man querfeldein über die Felder läuft.« Geotagging war etwas Wunderbares, wie ich gerade feststellte. »Letzteres traue ich dieser Marion aber nicht zu. Sie war schwach, unterernährt und berauscht … Genauer gesagt, ich traue ihr überhaupt keinen Fußmarsch zu.«
»Lass uns heimfahren und was trinken. Mir ist kalt, und ich habe nur noch vier Kippen übrig!«
»Trotzdem ist sie von hier zum Schloss gelangt«, spann ich den Faden weiter, Katharinas Einwand ignorierend. »Nur wie?«
»Es wird sie halt jemand mitgenommen haben. Per Anhalter.« Katharina klang ungeduldig, zündete sich aber trotzdem ihre Zigarette an. »Sie ist zur Straße gelaufen, da kam ein Auto …«
»Die Szene hatten wir schon«, rief ich ihr in Erinnerung. »Weit kam diejenige nicht, die das letzte Mal von hier floh. Ihre Flucht wurde bemerkt, und wenn du die Hunde nicht so zielsicher erlegt hättest …«
Katharina war so gütig, mir ein Zwinkern zu schenken.
»Für was ein paar Drinks zu viel doch gut sind. Ich habe ein Menschenleben gerettet, in gewisser Weise.«
»Jetzt übertreib mal nicht!«, holte ich sie zurück auf den Boden der Tatsachen.
»Aber könnte es nicht sein, dass diese Marion bereits von hier aus mit jemandem mitgefahren ist? Sich irgendwie in ein Auto schmuggelte, das zufällig zum Schloss fuhr?«
Ich dachte an den VW-Bus, den die Frau und der Mann in dem von mir belauschten Gespräch bei Light & Fire erwähnt hatten. Wer hatte ihn gefahren, und was hatte der Fahrer hier am Hof gewollt?
»Komm, lass uns gehen.« Katharina hakte sich bei mir ein und wollte mich in Richtung Auto ziehen, doch ich war zu tief in meinen Überlegungen versunken.
»Aber wie hat sie das angestellt, dass sie jemand von hier mitnimmt … dass sie überhaupt unentdeckt entkommt?«
Ich sah die junge Frau vor mir, so blass und ausgemergelt, wie ich sie von Jörgs Foto in Erinnerung behalten hatte.
»Na, wie wohl?«, kam es ungeduldig von Katharina, die an meinem Arm zerrte. »Hier wird es ja sicher auch Lieferanten gegeben haben! So ganz autark haben die bestimmt nicht gewirtschaftet! Ergo hat jemand Lebensmittel gebracht. Für so viele Frauen schafft man das kaum im PKW her, es sei denn, man fährt jeden Tag einkaufen!«
Da war etwas dran.
»Angenommen, deine Theorie stimmt. – Wieso aber sollte irgendein Lieferant eine dieser Frauen mir nichts, dir nichts mitnehmen und nach Dipolding kutschieren? Der will Lumenaria ja weiter beliefern, er macht das wohl kaum umsonst! Und so dumm kann keiner sein, als dass er glaubt, die Frauen könnten hier nach Belieben ein- und ausgehen.«
»Weil sie ihm was geboten hat«, kam es sachlich von Katharina. »Sex. Geld hatte sie keines.«
Von den Ejakulatsspuren in der Unterhose der Toten und den minimalen vaginalen Verletzungen, die von der Gerichtsmedizin festgestellt worden waren, hatte ich ihr bisher nichts erzählt. Katharinas Schlussfolgerung war ein Geniestreich!
»Nicht übel«, gab ich zu. »Aber Marion Schwaiger war abgemagert, kahlgeschoren, verwirrt … wer denkt denn daran, eine Frau in diesem Zustand flachzulegen?«
Katharinas Lachen vermischte sich mit dem Pfeifen des nun stärker werdenden Winds.
»Ach, Gesine, du kennst die Männer nicht!«, sagte sie und bestätigte mir einmal mehr, was schon immer bei ihren Aussagen durchgeklungen hatte: dass sie zwar mit Männern schlief, aber insgesamt keine hohe Meinung von ihnen hatte. Ich konnte nur vermuten, dass das mit Annas Erzeuger zusammenhing, der sie schwanger sitzen gelassen hatte.
»Also. Ich sage dir, wie es war, und dann fahren wir endlich!« Katharina lockerte zum Glück endlich ihren Klammergriff. »Der Typ fährt hier rein, mit einem Bus oder Klein-LKW. Marion hat die Schnauze voll vom Sektenleben und erkennt, dass sie hier nur für irgendeinen Folterwahn missbraucht wird. Sie ist über Hirscheck hierhergekommen, wie die meisten anderen auch, also will sie genau den zur Rede stellen. Außerdem will sie bei ihm Beweise für ihre Theorie finden. Sie weiß, wo er wohnt, woher auch immer. Während die letzten Lebensmittel ausgeladen werden, versteckt sie sich im Wagen. Als er das Gelände verlassen hat, tippt sie dem Fahrer auf die Schulter und bittet ihn, sie zu Hirscheck nach Dipolding zu bringen.«
Katharina bedachte meinen zweifelnden Gesichtsausdruck mit einem verächtlichen Seitenblick. »Wach auf, Gesine! Die Ziegelei gehört Hirscheck, sagtest du! Irgendwer musste dieser Sekte Geld zukommen lassen, Heizmaterial und den übrigen Klimbim zahlen! Vom Vertrieb dieser Tropfen allein war das unmöglich; die haben ja nicht im großen Stil damit gehandelt! – Der Fahrer hat diese Marion also dahin gebracht, wohin sie wollte, aber da er ein triebgesteuertes Dreckschwein ist, hat er eine Gegenleistung verlangt: Sex. Gesagt, getan, in Dipolding hat er sie abgeladen; vermutlich war ihm das Mädchen dann egal, er hatte ja, was er wollte.«
Meine Gedanken galoppierten. Ich sah Hirscheck vor mir. Seine Frau. Die Peschner. Den …
»Zu suchen wäre damit nach einem Typen, der einen relativ simplen Job hat und gewohnt ist, Anordnungen zu befolgen«, unterbrach Katharina. »Das Ausfahren von Lebensmitteln erledigt er möglicherweise nur nebenbei. Seine Hauptarbeit ist eine andere. Es ist jemand, der in der Regel pragmatisch Aufgaben abhakt, ohne sich Gedanken zu machen, jemand, der im Grunde keinen Ärger will, dem aber ziemlich egal ist, ob der Hirscheck Probleme kriegt. – So, und wer fällt dir dazu ein?«
»Der Hausmeister. Oskar Gschwandtner.« Ich war erschlagen von ihrem Profiling-Versuch, aber auch beeindruckt. Jörg hätte seine helle Freude an ihr gehabt. »Aber der war zur Tatzeit angeblich bei seiner Freundin in Regensburg«, wandte ich dann ein.
»Hallo? Gesine? Hörst du mir zu?« Sie schaute mich ungläubig an. »Ich spreche von dem Mann, der die Schwaiger nach Dipolding gebracht hat! Wer sie später in Todesfurcht versetzt und ihr post mortem Alkohol eingeflößt hat, kann ich nicht sagen! Und jetzt gehen wir, weil …« Sie brach abrupt ab und griff wieder nach meinem Arm. Diesmal hörte ich es auch: Ein seltsames Heulen. War es der Wind?
»Das sind nicht die Ziegen«, kam es mir überflüssigerweise über die Lippen, während Katharina sich schon wieder an mich klammerte, als wäre ich persönlich für ihre körperliche Unversehrtheit zuständig.
»Das habe ich vorhin schon gehört! Genau das!«, flüsterte sie. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Ich konnte es kaum fassen: die Frau, die sonst nie um einen flapsigen Spruch verlegen war, hatte Angst!
Wir lauschten beide in die Dunkelheit.
»Hil… Hilfeee …«
Die Rufe waren nun klar und deutlich zu vernehmen. Eine Frauenstimme, die sich völlig verausgabte, um gehört zu werden. Ich löste mich aus Katharinas Umklammerung und machte ein paar Schritte auf das Gebäude zu.
»Hallo?«, rief ich so laut ich konnte. »Ist da wer?«
»Hallo … Hallo …« Das verzweifelte Rufen ging in Schluchzen über. Es dauerte etwas, bis ich orten konnte, woher es kam: Die Geräusche drangen aus einem schmalen Spalt zwischen Boden und Hausmauer nach oben, einer Art Kellerfenster. Ich legte mich flach auf den Kies und versuchte, durch die verschmutzte Scheibe irgendetwas zu erkennen.
»Hallo?« Ich klopfte gegen das Glas. »Können Sie mich sehen?« Da eine Antwort ausblieb, leuchtete ich mit der Taschenlampe dagegen. »Sehen Sie dieses Licht?«
Ein verzweifeltes Wimmern drang zu mir herauf. Zumindest konnte ich nun sicher sein, dass es aus dem Keller kam.
Ich fischte mein Handy aus der Jackentasche. Mit klammen Fingern wählte ich Jörgs Nummer. Ein Stein fiel mir vom Herzen, als er nach dem zweiten Läuten abhob.
»Komm auf diesen Hof von Lumenaria !«, sagte ich anstelle einer Begrüßung. »Bring Verstärkung mit und verständige die Rettung. Ich habe hier jemanden entdeckt!«
»Was …«, begann er, doch ich ließ ihm keine Zeit für Fragen. Ich wollte nach der Frau sehen, die dringend Hilfe brauchte.
»Komm! Sofort!«, wiederholte ich mit Nachdruck, dann legte ich auf. Ich musste irgendwie in dieses Haus! Mein Blick fiel auf das nächstgelegene Parterrefenster.
Katharina sah mir fassungslos dabei zu, wie ich einen Wacker vom Boden aufnahm und ins Glas schmiss.
»Das ist Einbruch«, wies sie mich zurecht. Ich verzichtete auf jeglichen Kommentar, während ich mich vorsichtig auf die Fensterbank hievte und durch die zertrümmerte Scheibe stieg.
Dass sie einerseits auf ihrem Balkon Marihuana pflanzte und sich mit ein paar Promille zuviel hinter das Steuer setzte, andererseits nun die Juristin raushängen ließ, ging mir auf die Nerven.
»Gesine … warte!«
Ich bekam keine Gelegenheit, mich in dem Raum, in dem ich stand, umzusehen. Katharinas Stimme vor dem Fenster zeugte von heller Panik.
»Was ist denn, um Himmels willen?«
Katharina wirkte blass; vermutlich lag es am Mondlicht.
»Du willst mich doch hier nicht alleine lassen?« Ängstlich sah sie sich nach allen Richtungen um. Ich begriff endgültig, dass Frau Doktor Habler nicht die richtige Person für derartige Unternehmungen war. Ihre Nerven lagen blank.
»Du kannst mich gerne begleiten«, bot ich an, erntete aber nur ein Naserümpfen. »Oder du setzt dich ins Auto und wartest, bis die Polizei kommt.«
Vermutlich war das ohnehin die bessere Idee. Was, wenn mir irgendetwas passierte? – Ich wusste ja selbst nicht, was mich da unten erwartete. Wenn Katharina draußen blieb, konnte sie Jörg und seinen Kollegen zumindest sofort erklären, wo ich abgeblieben war!
»Wenn ich in … sagen wir … zehn Minuten nicht wieder erscheine, dann stimmt da unten irgendetwas nicht«, fügte ich vorsichtshalber hinzu. »Jörg muss bald hier sein. Und du weißt ja, wie die Zentralverriegelung funktioniert, oder?«
Ich konnte mich eines leisen Spottes nicht erwehren. Prompt bekam ich die Retourkutsche.
»Ob deine tschechische Billigkiste über solche technischen Raffinessen verfügt, bezweifle ich.«
Ich warf ihr trotzdem meinen Schlüsselbund zu. Eine schlagfertige Erwiderung würde ich mir später überlegen.
Einen Lichtschalter gab es, doch auch hier natürlich keinen Strom. Zum Glück gewöhnten sich meine Augen schnell daran, dass es im Haus noch dunkler war als draußen.
Ich erkannte, dass der Raum groß war und voller Tische und Stühle. Offenbar der Speisesaal. Weiter hinten gab es eine Theke mit angrenzender Küche. Als ich meinen Weg fortsetzte, knarrte der Holzboden unter meinen Füßen.
Zu behaupten, dass ich keine Angst hatte, nachts durch verlassene Gebäude zu schleichen, wäre eine aalglatte Lüge gewesen. Eilig schaltete ich die Taschenlampe am Handy ein. Zittrig flog das Licht über die Wände. Mein Herz klopfte und meine Hände waren nass vor Schweiß, als ich den Gang betrat.
Ich tastete mich bis zur Kellertüre.
»Hallo?«, rief ich. Es kam keine Antwort. Ich beugte mich vor und lauschte angestrengt. Ein kleiner schwarzer Schatten schoss über den Boden, entsetzt fuhr ich zurück. Als mein Ellenbogen hart an die Wand schlug und das Handy scheppernd die Kellertreppe hinabfiel, wurde es dunkel um mich.
Sekundenlang stand ich starr vor Schreck und hörte nichts als mein pochendes Herz. Dann rief ich mich zur Vernunft. Ich hatte nun noch einen Grund mehr, in diesen Keller zu steigen!
Vorsichtig setzte ich den Fuß auf die erste Stufe, während ich mich mit den Händen an der rauen, feuchten Ziegelwand abstützte. Es roch modrig. Stufe um Stufe stieg ich die Stiege nach unten, hinab in absolute Dunkelheit.
Als die Treppe endlich endete, war die Haut an meinen Fingern wund vom Tasten. Ich schwitzte in meiner Jacke, obwohl es so kalt war, dass ich meinen Atem sehen konnte.
»Hallo?! Wo sind Sie?«
Ich riss die Ohren auf, hörte aber nur meinen eigenen Herzschlag. Plötzlich spürte ich Zugluft. Der Knall, der folgte, ließ mich zusammenzucken. Fünf, sechs Sekunden verharrte ich in Schockstarre, ehe ich begriff, was geschehen war: Die Kellertüre war zugefallen. Ich war gefangen.