Pizza, Blut und Alkohol
»Also, wenn du mich nicht mehr brauchst – ich geh dann«, ließ Gerlinde mich wissen. Im Mantel und mit einem dicken Schal um den Hals stand sie im Türrahmen des Behandlungszimmers. Was mich kurz stutzen ließ, war ihr Make-up. Es war definitiv das erste Mal, dass ich meine Sprechstundenhilfe mit Smokey Eyes sah. Offenbar hatte sie sich kurz, nachdem wir den letzten Patienten des Tages verabschiedet hatten, auf der Toilette ein wenig aufgehübscht.
»Hast du noch was vor?«
Meine Neugierde war größer als mein Respekt vor ihrer Privatsphäre.
Gerlinde errötete wie ein pubertierendes Schulmädchen.
»Ich bin verabredet«, teilte sie mir mit. »Mit Werner vom Labordienst. Wir … tja, wir mögen uns.« Sie schob ihren Worten ein verlegenes Lächeln hinterher, ehe sie auskunftsbereit fortfuhr: »Wir fahren nach Straubing ins Theater, danach essen. Es ist ewig her, dass ich so richtig ausgeführt wurde!«
»Ins Theater?«, wiederholte ich ungläubig. Mir Werner zwischen Damen im beigebraunen Kostümen und Herren mit Krawatte vorzustellen, fiel mir tatsächlich schwer. »War das seine Idee?«
»Nein, meine«, gab Gerlinde offen zu. Dann schien sie die Richtung meiner Frage zu begreifen. »Es ist nicht Shakespeare«, erklärte sie hastig. »Da gastiert zurzeit eine Comedy-Show; es soll lustig sein. – Glaubst du, das ist nicht ganz das Richtige?« Zwei steile Sorgenfalten bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie sah mich ängstlich und hoffnungsvoll zugleich an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Im Grunde hielt ich an ihrer Schwärmerei für Werner nichts für richtig. Für mich passte das nicht zusammen: auf der einen Seite meine gewissenhafte Sprechstundenhilfe, Mutter zweier Kinder, auf der anderen Seite ein Lebemensch, der am Wochenende auf Rockfestivals auftrat und seinen kargen Lebensunterhalt mit Botenfahrten verdiente.
»Das kann ich nicht beurteilen, dazu kenne ich Werner nicht gut genug«, erwiderte ich ausweichend. »Aber wenn er nicht gleich gegen deinen Vorschlag protestiert hat, wird es ihm wohl schon passen!«
Die Sorgenfalten glätteten sich.
Na bitte, Ziel erreicht. Vorerst zumindest. Ich sah mich jetzt schon Gerlindes stille Tränen trocknen, wenn sich dieses Verhältnis anders entwickelte als erhofft.
»Dir auch einen schönen Abend.« Sie winkte mir zu, dann verschwand sie aus meinem Gesichtsfeld.
Mein Blick fiel auf die Lokalzeitung. Onkel Gustav hatte sie mir mittags mit den Worten »Da steht alles über die Sekte und den Mord!« in der Praxis vorbeigebracht. Jetzt war es früher Abend, und ich hatte den Artikel immer noch nicht gelesen.
HAUSHÄLTERIN FÜR TOD VON JUNGER FRAU IM SCHLOSSPARK VERANTWORTLICH , titelte der AICHEN KURIER auf Seite eins, dazu ein kleiner Artikel mit den wichtigsten Fakten. Im Innenteil dann eine ganze Doppelseite mit Fotos von Schloss Dipolding. Als ich mich nun niederließ und den Text kurz überflog, staunte ich nicht schlecht: Plötzlich meldeten sich zahlreiche Dipoldinger zu Wort, die magere Frauen in grünen Capes am Hof Sklavenarbeit verrichten gesehen und geheime Zeremonien von außerhalb des umzäunten Grundstücks beobachtet haben wollten. Mich brachte das unweigerlich zu der Frage, was in meinen Mitmenschen vor sich ging. Hier am Dorf steckten die Leute ihre Nase bekanntlich in alles, was sie nichts anging. Die meisten waren wenig zimperlich, wenn es sich darum drehte, Klatsch und Tratsch zu verbreiten. Wenn aber wirklich Grund zur Besorgnis bestand, wie im vorliegenden Fall, tat erst einmal jeder so, als hätte er nichts gesehen und nichts gehört. Fünf Jahre lang hatte die Sekte gestrandete Frauen ohne Zukunftsperspektive mit ihren kruden Lehren in die Irre geführt und für sich schuften lassen, während die Führungsriege – wie es im Artikel hieß – ein Luxusleben mit Sauna und Whirlpool führte und in Himmelbetten schlief. Fünf Jahre lang hatten die Dorfbewohner das Treiben aus der Ferne verfolgt und hinter vorgehaltener Hand über die seltsamen Frauen getuschelt. Und fünf Jahre lang hatte es niemand für nötig gehalten, die Polizei darüber zu informieren, was auf dem Hof vor sich ging.
Ein Klopfen gegen die ohnehin offenstehende Tür zum Behandlungszimmer ließ mich aufsehen. Zu meiner Überraschung war es Katharina.
»Hast du Zeit für mich?«
»Natürlich.« Ich wies auf den freien Stuhl vor meinem Schreibtisch. »Hat Gerlinde etwa vorne nicht abgesperrt, oder wie kommst du hier rein?«
»Na, durch den Kamin bin ich nicht gekommen.« Katharina legte ihren Mantel über die Stuhllehne. Sie trug das flaschengrüne Kostüm, das ich schon einmal an ihr gesehen hatte und das so gut zu ihrer Augenfarbe passte.
Sie bemerkte die aufgeschlagene Zeitung.
»Die Haushälterin war es also? Wie das denn?«
»Sag bloß, du hast noch nichts drüber gehört oder gelesen. Ganz Aichendorf spricht darüber, und ein paar überregionale Medien sind wohl auch schon an der Geschichte. Zumindest haben ein paar meiner Patienten behauptet, dass es in der ganzen Gegend vor Journalisten nur noch so wimmelt …«
»Wann habe ich schon Kontakt mit irgendwelchen redseligen Aichendorfern?«, lautete ihre lakonische Erwiderung. »Außerdem war ich heute den ganzen Tag am Gericht in Regensburg. Zwei Scheidungen und eine Sorgerechtsverhandlung. Mir reicht’s.« Sie gähnte. »Das mit dem Zugfahren ist keine Dauerlösung. Ich brauche meinen Führerschein wieder!«
Ich schwieg. Dass ihr Atem leicht nach Alkohol roch, war mir nicht entgangen.
»Ich weiß, was du denkst.« Sie deutete mein Schweigen offensichtlich richtig. »Deshalb bin ich hier. Aber ehe wir zum Geschäftlichen kommen, erzähle mir das Ende der Geschichte da …« Sie machte eine fahrige Bewegung in Richtung der aufgeschlagenen Zeitung. »Ich bin zu faul, um mich durch dieses ungelenke Elaborat zu quälen!«
»Tja, DIE ZEIT hat sich des Themas noch nicht angenommen, da hast du recht«, schmunzelte ich. Mein Schmunzeln erlosch schlagartig, als sie eine Packung Zigaretten aus der Handtasche nahm und ihr Feuerzeug zückte.
»Kathi«, begann ich, doch sie fuhr genervt dazwischen.
»Gesine! Wenn ich keine rauchen darf, kann ich nicht bleiben.« Sie war bereits im Begriff, aufzustehen.
Ich sprang über meinen Schatten. Im Grunde konnte ich danach auch einfach das Fenster aufreißen.
»Setz dich wieder. Du musst nicht gleich durchdrehen beim kleinsten Anflug von Kritik.« Ich opferte eine meiner blechernen Nierenschalen als Aschenbecher, dann fasste ich meine Erkenntnisse über den Mord bei Schloss Dipolding und die Sekte zusammen: »Wie du richtig vermutet hast, ist Marion Schwaiger mit dem Hausmeister nach Schloss Dipolding gefahren – eigentlich wollte sie zum nächsten Bahnhof oder zur Polizei. Hirscheck selbst war in dieser Nacht wohl schon auf dem Weg zum Flughafen. Bei ihrem Streifzug durchs Schloss strandete sie in der Bibliothek und fiel erst einmal hungrig über die Überreste von dessen Abendessen her – Südtiroler Speck, Brot und Rotwein. Dabei wurde sie von der Peschner erwischt, die gerade ein nicht unerhebliches Beweisstück in einem der Schränke verstauen wollte: den purpurnen Mantel, in dem sich die Schlossherrin an Festtagen der Sekte präsentierte.«
»Lass mich raten: Die Schwaiger hat den Mantel sofort erkannt, die Peschner für die oberste Sektenführerin gehalten und ihr mit der Polizei gedroht!«
»Den Mantel hat sie erkannt«, bestätigte ich. »Durchgedreht ist allerdings die Peschner. Die hat wohl Panik bekommen, dass das Mädchen zur Polizei läuft und alles auffliegen lässt.«
»Kann mir vorstellen, dass Marion zu diesem Zeitpunkt vom heilbringenden Segen der Sekte sowieso nicht mehr ganz überzeugt war«, bemerkte Katharina süffisant und füllte meine Praxis weiter mit Rauch.
»Dem Artikel nach kam es zu einem Handgemenge. Marion Schwaiger konnte den Mantel an sich reißen und rannte damit davon – und der Peschner fiel daraufhin nichts Besseres ein, als ihr die Hunde nachzuschicken. Marion verlor die Orientierung, stürzte in den Teich, rettete sich ans Ufer … Die Peschner entdeckte sie. Und tat etwas ziemlich Dummes, was sie letztendlich auch überführte …«
»Sie flößte ihr den Wodka ein, obwohl das Mädchen sowieso schon tot war.«
»Richtig. Aber das hat sie nicht gecheckt.«
Die Antwort stammte nicht von mir. Jörg war unbemerkt in meine Praxis gekommen.
»Hallo, die Damen.« Er begrüßte mich mit zwei Wangenküssen und reichte Katharina die Hand.
»Wie ich sehe, ist Ihre Schnittverletzung schon fast wieder verheilt«, bemerkte er. »Und von der Platzwunde auf der Stirn ist auch nichts übrig geblieben.«
»Wie genau Sie eine Frau unter die Lupe nehmen.« Katharinas Erwiderung klang etwas spitz, doch sie schob ihren Worten ein amüsiertes Lächeln hinterher, das Jörg belustigt erwiderte.
»Abgesehen davon scheinen Sie einen großen Coup gelandet zu haben.« Die Anwältin wies auf den Artikel. »Sie haben eine kriminelle Sekte auffliegen lassen und eine Mörderin gefasst. Wenn das kein Höhepunkt in Ihrer Provinzkarriere ist!«
Jörg blinzelte irritiert. Ich sah ihm das nach. »Seit ihr Katharina mit dem Führerschein die letzte Fluchtmöglichkeit vom Dorf genommen habt, sieht sie in allem nur noch das Provinzielle«, erläuterte ich bereitwillig. »Provinzjournalismus, Provinzpolizei, Provinzärztin … unsere verkannte Star-Anwältin wünscht sich ein Umfeld, das ihrem IQ gewachsen ist.«
Katharina schmunzelte nur. Dass sie zumindest hin und wieder über sich selbst lachen konnte, war mir neu. Ich hatte insgeheim mit zickigen Widerworten gerechnet.
»Ob ich Frau Doktor Hablers Intellekt gewachsen bin, bezweifle ich zwar, aber ich könnte euch in die beste Pizzeria ausführen, die Aichendorf bieten kann«, schlug Jörg vor. »Da Luigi . – Also, Mädels, was ist?«
»Gehen wir!« Katharina traf die Entscheidung für uns beide. »Gesine kriegt noch Zustände, wenn ich weiterhin ihre Praxis vollqualme!«
Dem wollte ich nicht widersprechen.
»… und jedenfalls habe ich nach dieser Horrorwoche das ganze Wochenende nur geschlafen«, schloss Jörg seine Version der Vorkommnisse rund um Lumenaria und die Tote im Park. »Na ja, fast. Bei der Pressekonferenz war ich natürlich schon dabei.«
»Natürlich. Wer will sich den Ruhm schon entgehen lassen, nach all der Arbeit?«, zog Katharina ihn auf.
Jörg und sie waren nach den zweieinhalb Flaschen Wein, die wir inzwischen gemeinsam geleert hatten, beim Du angelangt. Der Aschenbecher quoll beinahe über. Die leeren Pizzateller hatte Luigi schon vor rund eineinhalb Stunden abserviert.
»Und was ist mit der Hirscheck-Lahn?«, hakte ich nach, während ich die Hand übers Weinglas legte, um Jörg, der mir erneut nachschenken wollte, zu zeigen, dass ich genug hatte. Katharina ließ sich ihres bereitwillig füllen. Ich war an diesem Abend zu guter Stimmung, um dies zu kommentieren.
»Die sitzt irgendwo in Südamerika und hat sich damit sämtlichen Anschuldigungen und Gerichtsprozessen entzogen. Aber dass sie der Kopf von Lumenaria ist, steht außer Frage.«
»Südamerika! Das wär was für mich. Da kräht niemand nach meinem Führerschein! Was, Jörg?«, kicherte Katharina.
»Au ja, ich komm mit! Aber keine Sorge, Katharina, ich verrate den Latinos nicht, dass dein Lappen weg ist«, kicherte Jörg zurück.
»Was heißt hier Lappen? Ich trage nur edelste Stoffe!«
»Ich verstehe allerdings immer noch nicht, was die Peschner umtrieb«, durchbrach ich das Geplänkel der beiden. »Sie hatte ja nichts weiter mit der Sekte am Hut, und ob die Schwaiger die Hirscheck-Lahn anzeigt, hätte ihr doch eigentlich vollkommen egal sein können!«
»Hirscheck-Lahn hat sich die Haushälterin auf übelste Weise hörig gemacht.« Auch Jörg wurde wieder ernst. »Sie ließ sie bei ihren Séancen assistieren. Martina Peschner fühlte sich dadurch geehrt und erlebte Dinge, von denen sie vor Dienstantritt in Dipolding nicht einmal gehört hatte. Ihre Herrin konnte mit Geistern sprechen – unter anderem mit dem von Frau Peschners verstorbener Tochter.«
»Sprechende Geister? Kann ich perfekt nachvollziehen. So geht es mir auch immer, wenn ich zu viel Gras geraucht habe«, bemerkte Katharina.
»Nur mit dem Unterschied, dass die Peschner nichts geraucht hat. Die hielt das alles für echt! Dieses störende Mädchen davon abzuhalten, mit dem Mantel zur Polizei zu rennen und über das angebliche Lichtwesen auszupacken, schien ihr der einzige Weg, um an der Seite der Schlossherrin bleiben zu können.«
»Beinahe wäre die Schuld an Marion Schwaigers Tod ihrer geliebten Madame in die Schuhe geschoben worden«, stellte ich süffisant fest. »Der Schuss wäre dann echt nach hinten losgegangen! Die Hirscheck-Lahn im Gefängnis und die Peschner auf freiem Fuß, aber ohne Job …«
»Und vor allem ohne Séancen!«, vollendete Jörg den Satz.
Mich beschäftigte noch ein anderer Aspekt.
»Warum ist Hirscheck eigentlich nicht gemeinsam mit seiner Frau nach Guatemala geflüchtet?«
»Weil er weiter international Vorträge halten und Despoten beraten will«, kam Katharina Jörg zuvor. »Wenn er aufgrund eines deutschen Haftbefehls in Guatemala festsitzt, kann er das nicht mehr: Also stellt er sich lieber einem Gerichtsverfahren, das vermutlich mit Freispruch enden wird.«
»Mit Freispruch?«, wiederholte ich ungläubig. »Aber …«
»Dass er irgendwem eine Anordnung gab, die Frauen einzusperren, ist ihm tatsächlich nicht nachzuweisen. Auch dafür, dass er seine Experimente mit den Lumenaria -Anhängerinnen machte oder machen wollte, gibt es nicht wirklich einen Beweis«, klärte mich Jörg auf. »Brigitte Weiß und ihre Crew standen mit Hirscheck nie direkt in Kontakt, nur mit seiner Frau.«
»Entschuldigung.« Luigi stand mit der Rechnung vor unserem Tisch. »Leider, wir schließen jetzt …«
Tatsächlich waren wir inzwischen die letzten Gäste. Als wir gezahlt hatten, servierte er uns noch je einen Grappa. Ich schob meinen zur Seite – mir war nicht danach – mit dem Ergebnis, dass Jörg nicht nur den seinen herunterkippte. Andererseits war ich insgeheim froh, dass Katharina den Schnaps nicht in die Hände – oder besser gesagt, in die Kehle – bekommen hatte.
Als Jörg noch auf die Toilette verschwunden und ich mit ihr allein vor der Garderobe stand, erinnerte ich mich an das, was sie mir zu Beginn des Abends in meiner Praxis gesagt hatte.
»Du wolltest noch was von mir … irgendwas Geschäftliches?«
»Richtig.« Katharina ließ sich von mir in den Mantel helfen. »Ich will meinen Führerschein wieder!«
»Ich fürchte, da bin ich die falsche Ansprechpart…«
»Nein, bist du nicht.« Sie zog sich ihre Handschuhe an. »Du weißt so gut wie ich, dass meine Leberwerte dafür einwandfrei sein müssen. Die werden mich auf Leber, Herz und Nieren prüfen, bis ich den Lappen wiederkriege. Und dafür brauche ich dich.« Sie senkte die Stimme, wirkte einen Moment lang niedergeschlagen. »Ich will weg von dem Zeug«, raunte sie. »Aber ich schaffe es nicht alleine.«
»Komm morgen früh zur Blutabnahme«, bot ich ihr an. »Das ist Schritt Nummer eins.«
»Und Schritt Nummer zwei?« Sie beäugte mich unsicher.
»Eine Entziehungskur.«
»Vergiss es! In irgendeine Anstalt oder in ein Krankenhaus gehe ich sicher nicht, das kannst du vergessen, ich lass mich doch nicht …«
Im selben Moment kam Jörg von der Toilette zurück.
»Gehen wir«, sagte er, und ich merkte sowohl an seinem Tonfall wie auch an der unsensiblen Art, mit der er unser Gespräch torpedierte, dass der Alkohol auch bei ihm seine Wirkung zeigte. »Ich kann doch bei dir pennen, Gesi, oder? – Heimfahren geht jetzt nicht mehr.«
»Klar«, antwortete Katharina, noch ehe ich etwas erwidern konnte. »Gesine kommt sowieso mit zu mir.«
Nicht nur die Tatsache, dass sie über mich verfügte, sondern auch, wie harsch sie auf meinen Hinweis mit dem notwendigen Entzug reagiert hatte, stieß mir sauer auf. Und dann gab es ja auch noch die Erinnerung an jenen Nachmittag, an dem sie mich hatte wissen lassen, dass sie nicht daran dachte, ihr Sexualverhalten in irgendeiner Weise zu ändern … Auf Gefühlszirkus hatte sie nach eigener Aussage ja keine Lust.
Nun, ich hatte in anderer Hinsicht keine Lust.
»Jörg und ich gehen zu mir«, beschied ich knapp. »Gute Nacht.«
Sie wandte sich wortlos ab und verschwand in der Dunkelheit.
»Das Sofa ist super … super ungemütlich«, nörgelte Jörg wenig später, kaum dass ich es mir im Bett bequem und die Lampe ausgeknipst hatte. »Da kriegt man ja Kreuz…schmerzen!«
Seine Aussprache klang verwaschen. Der Wein, von dem er und Katharina den Großteil vernichtet hatten, sowie der doppelte Grappa entfalteten ihre volle Wirkung.
Ich reagierte nicht auf seine Jammerei, hauptsächlich deshalb, weil ich in Gedanken noch bei Katharina war. Ich bedauerte unseren unschönen Abschied nach diesem heiteren Abend. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass diese Frau mir immer rätselhafter wurde. Im Grunde sollten häufigere Treffen das Gegenteil bewirken. Doch aus Katharina wurde ich immer weniger schlau. Die toughe Anwältin, die mit brillanten Analysen glänzte und stets einen schnippischen oder schlagfertigen Kommentar auf den Lippen hatte, war sie für mich jedenfalls nicht mehr. Ich hielt sie weiter für hochintelligent, doch die Art, wie sie sich selbst schädigte, gepaart mit ihrer nur in schwachen Momenten vorhandenen Einsicht, ließ mich allmählich an ihrem Verstand zweifeln.
»Gesinchen? Die Couch – ist unbequem. Hab ich – hicks – schon gesagt, oder?« Nun bekam Jörg auch noch Schluckauf. Als wolle er seine Worte bestätigen, drehte er sich so schwungvoll um, dass mein Sofa ächzte und knarrte.
Seufzend gab ich mich geschlagen. »Herrgott, dann komm schon her! Aber wehe, du schnarchst!«
Ich rutschte auf die rechte Seite und machte ihm Platz. Dankbar rollte er sich mit dem Bettzeug, das ich ihm zuvor auf dem Sofa bereitgelegt hatte, neben mich. Er roch nach Alkohol und Knoblauch. Ich drehte ihm den Rücken zu.
»Ge… hicks …sine. Ich … bin echt … neidisch auf dich!«
»Auf mein weiches Bett oder darauf, dass ich mich mit dem Wein besser im Griff hatte?«
»Neeein, ehrlich.« Jörg klang im benebelten Zustand wie ein etwas zu anhängliches Kind. Zu allem Überfluss rutschte er jetzt so nahe an mich heran, dass ich seinen warmen Atem am Rücken spüren konnte. »Weil … hicks … du hast es echt gut. Die Katharina ist total in dich verschossen. Also da … könnte ich glatt neidisch werden!«
Ich lachte auf. »Seit wann stehst du auf Frauen?«, erwiderte ich voller Sarkasmus. Der Mann hatte eindeutig zu viel erwischt.
»Hmm …« Jetzt schmatzte er auch noch genüsslich. »Ich, also wenn der Frank wollen würde … überhaupt wollen … hicks, wäre ich schon bereit!«
Im ersten Moment glaubte ich mich verhört zu haben.
»Frank? Welcher Frank denn?«
»Na, der Fraa-aaank«, kam es gedehnt zurück, und sogar der Schluckauf blieb jetzt aus. »Furtner. Mein Kollege. Der ist doch … sssüß.«
Ich sah den Mann vor mir: jung, blond, etwas blass. Nett, hilfsbereit. Mehr wusste ich über ihn nicht sagen.
»Ist der nicht hetero?«
»Ja, genau … Das ist ja das Probleeem«, nölte Jörg jetzt an meinem Rücken. »Der will dich … äh … mich nicht, und die Katharina will dich schon!«
Mein Digitalwecker zeigte weit nach Mitternacht. Ich besaß grundsätzlich wenig Nerven für Gespräche über mein Beziehungsleben oder gar seines, aber um diese Uhrzeit noch weniger.
»Jörg.« Ich drehte mich zu ihm um. »Ich hab morgen früh Blutabnahme in der Praxis. Also schlaf jetzt bitte, okay?!«
»Okay, okay.«
Gerade hatte ich mich wieder in meine Ursprungsposition gelegt und das Licht gelöscht, als sich die Stimme hinter mir erneut zu Wort meldete: »Ich … ich mach mit Sascha Schluss. Wir sehen uns … zuuuu selten.«
Ich sagte nichts mehr. Ich dachte an Holly und mich, an meinen Betrug. Irgendwie roch das, was Jörg da von sich gab, nicht nur nach Alkohol, sondern auch nach dem Ende einer Beziehung, von der ich geglaubt hatte, sie sei für ewig. Aber anscheinend galt genauso wie bei mir der dumme Satz: Nix ist fix.
Als Jörg einsah, dass ich zu keinem Kommentar bereit war, murmelte er »Schlaf schööön!«, dann drehte er sich schwungvoll um, was mein Bett ein Ächzen entlockte. Sekunden später hörte ich ihn neben mir leise schnarchen.
Am nächsten Morgen beim Kaffee tat er so, als könnte er sich seit dem zweiten Grappa an nichts erinnern. Vielleicht war das die Wahrheit.
Wir standen schon an der Haustür, als sein Handy läutete. Er nahm den Anruf an, während er mir zum Abschied noch einen schnellen Kuss auf die Wange drückte. Während er sich mit dem Handy am Ohr entfernte, hörte ich an seinem Tonfall, dass es Sascha war, mit dem er telefonierte.
Bisher hatte ich es irgendwie süß gefunden, wie die beiden miteinander säuselten. Diesmal wurde mir bereits übel, als ich Jörg »Hallo, mein Hase« hauchen hörte. Ich hatte es eilig, in meine Praxis zu kommen, und war umso erstaunter, als ich die erste Patientin entdeckte, die zur Blutabnahme erschienen war.
Es handelte sich um niemand anderen als Katharina Habler.
Am Donnerstagabend kam sie zur Befundbesprechung. Auf ihre Bitte hin hatte ich ihr einen Termin außerhalb meiner Sprechstunde eingeräumt und auch Gerlinde bereits nach Hause geschickt.
»Es muss ja nicht der ganze Ort von meinen Problemen wissen«, hatte sie gesagt, und ich hatte darauf verzichtet, sie an ihre alkoholbedingten Ausfälle während gewisser Gemeinderatssitzungen und auf öffentlichen Dorffesten wie dem Italienischen Abend zu erinnern. Katharina war eine Verdrängungsweltmeisterin. Und vielleicht war das auch besser so, denn immer dann, wenn sie der Realitätsschock traf, führte das bekanntlich nur dazu, dass sie weinte und noch mehr trank.
»Und? Wie schlimm ist es?«
Sie schlug die Beine übereinander. Ihr ohnehin nur knapp bis zum Knie reichender schwarzer Rock rutschte nach oben und gab den Blick auf einen mit Spitzenborte verzierten Strumpfhalter frei. Es sah unglaublich sexy aus. Ich schluckte trocken und musste mich gewaltsam daran erinnern, dass ich hier als Ärztin saß.
»GGT, GOT und GTP sind erwartungsgemäß erhöht, ebenso der CDT-Wert. Es könnte schlimmer sein, aber dass du zu viel säufst, ist für jeden Amtsarzt offensichtlich.«
»Ich nehme an, diese G-irgendwas sind meine Leberwerte«, schlussfolgerte sie sachlich. »Wie kriege ich das weg?«
»Indem du ab sofort auf Alkohol verzichtest, wie denn sonst?«
Sie schnitt ein missmutiges Gesicht. »Ich meine: kurzfristig«, sagte sie dann mit Nachdruck. »Schau, ich werd das nicht lange durchhalten. Ich bin so. Wie gesagt: Es gibt für mich keinen Grund, nicht zu trinken. Keinen richtigen, meine ich. Ich will meinen Führerschein wieder, das ist alles.«
Ich sah sie nur an, ließ ihre Worte auf mich wirken.
»Ich werde immer wieder rückfällig«, fuhr sie fort. »Ich mag den Alkohol, er mag mich. So einfach ist das. Wenn ich in meine Wohnung komme, wartet Mister Whiskey auf mich, nicht Mister Right. Auch keine Miss Right. Also bleiben ich und Mister Whiskey übrig. Wir leben gut miteinander, seit Jahren. Nur ist da jetzt eben dieses Führerschein-Problem.«
Sie schob ihren Worten ein Lächeln hinterher, an das sie nach meinem Ermessen selbst nicht ganz glaubte.
»Gesine, was ich von dir will, ist, dass wir meine Werte bis zur Überprüfung durch den Amtsarzt auf ein Niveau kriegen, wo der Typ sagt: Hussa, Frau Doktor Habler, hier ist ihr Lappen, ich sehe, Sie sind trocken! – Mehr will ich nicht. Kein Entzug, kein Krankenhaus!«
»Trockenwerden durch weitersaufen! Hört sich ganz toll an.« Ich musste mich sehr bemühen, mir meine Fassungslosigkeit nicht anmerken zu lassen. »Du hast dir echt wirklich viel Gedanken über dich und deine Situation gemacht, das muss man dir lassen.«
Sie nickte. Ein leiser Triumph lag in ihrem Blick.
»Nur: Diese Werte normalisieren sich nicht binnen einer Woche«, verpasste ich ihr dann den ernüchternden Verbalschlag. »Gamma-GT und das mittlere korpuskuläre Volumen deiner roten Blutkörperchen, um einen weiteren Wert ins Spiel zu bringen, sind beispielsweise noch bis zu drei Monate nach dem letzten Intermezzo mit Mr. Whiskey erhöht. Und abgesehen von der Leber leiden auch andere Organe durch deine übermäßige Trinkerei: Du hast ein zu hohes Cholesterin, dein Harnsäurespiegel ist erhöht und dein Stoffwechsel ist auch in anderer Hinsicht aus dem Gleichgewicht. Kurz gesagt: Du solltest deine innige Beziehung mit Mister Whiskey beenden. Der Typ tut dir nicht gut.«
Sie lächelte schwach.
»Angeblich bin ich also vollkommen krank«, schloss sie. »Wenn das so ist, warum spüre ich dann nichts? – Abgesehen davon, dass ich manchmal einen Kater habe, geht’s mir blendend!«
»Noch«, erwiderte ich nüchtern. »Aber spätestens in zehn Jahren wirst du Probleme mit deiner Schilddrüse kriegen, unter Bluthochdruck leiden oder eine Herzkrankheit entwickeln. Dein Risiko für Schlaganfall wird nach oben schnellen. Und du bist prädestiniert dafür, Bauchspeicheldrüsenkrebs zu entwickeln – eine der schlimmsten Krebsarten, da kaum behandelbar.«
»Na ja, sterben muss jeder mal.«
Allmählich fiel es mir schwer, sie nicht einfach an den Schultern zu packen und zu schütteln, bis Verstand und Gewissen sich zurückmeldeten. »Ja, stimmt«, pflichtete ich ihr stattdessen bei, da ich wusste, dass ich mit einer harschen Reaktion nur Öl in schwelendes Feuer goss. »Sterben muss jeder mal. – Nur: bei manchen geht’s schnell, bei anderen langsam. Wenn du erst mal als Pflegefall ans Bett gefesselt bist, ist deine Beziehung mit Mister Whiskey ohnehin zu Ende. Also könntest du auch gleich mit ihm Schluss machen, oder?«
»Du machst das echt gut.« Sie atmete tief durch. »Ich weiß, warum du mir das erzählst: Du willst mir Angst machen. Du willst, dass ich zu trinken aufhöre. Für immer.«
»Das solltest du selber wollen«, erwiderte ich. »Wenn nur ich das will, bringt es dir gar nichts!«
»Ich weiß.« Sie seufzte. »Ich weiß, wirklich. Aber ich will es nicht.«
»Letztens sagtest du was anderes«, erinnerte ich sie. »Nämlich, dass du mit dem Rauchen und dem Trinken aufhören willst, weil Anna dich dann nicht mehr so widerlich findet.«
»Anna …! Anna wird mich immer widerlich finden. Insofern ist sowieso alles sinnlos.«
Dieses Thema wieder. Wir drehten uns im Kreis.
»Kathi, bitte hör auf zu trinken.« Ich trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Die sachliche, distanzierte Ärztin zu geben, war mir nicht länger möglich. »Hör auf zu trinken und klär die Situation mit deiner Tochter.«
»Da gibt es nichts zu klären.« Katharina starrte mit leerem Blick auf meinen Schreibtisch. »Es ist alles gesagt. Sie liebt ihre Adoptiveltern, die Gärtners, und findet mich abstoßend. Wir haben nichts gemeinsam.«
»Weißt du, das sehe ich völlig anders.«
Ich ließ mich auf der Schreibtischkante direkt vor ihr nieder. Unsere Beine berührten sich. »Immer wenn ich mit Anna zu tun habe, denke ich automatisch an dich. Sie ist genauso stur, genauso hartnäckig, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Aber sie ist auch genauso entschlossen, intelligent und zielorientiert. Und wenn ich dich hier so erlebe, macht mir das alles in allem Angst. Weil ich dann sehe, wie es Anna mal gehen wird, in zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, falls das Leben nicht so nett zu ihr gewesen sein sollte. Dass sie dann auch zur bequemsten Lösung greift … und vielleicht irgendein Mister Whiskey des Weges kommt, mit dem sie eine langfristige Beziehung eingeht.«
Katharina sagte nichts. Ich ließ ihr Zeit, meine Worte auf sich wirken zu lassen. Ich meinte jedes davon ernst. Ein Kind, dem vorgelebt wurde, dass es bei Schicksalsschlägen nicht aufstehen musste, blieb ebenfalls liegen.
»Wenn sie dagegen erleben würde, dass man den Dingen auch die Stirn bieten kann, wäre das sicher ein Pluspunkt für ihre weitere Entwicklung«, fuhr ich nach einer Weile fort.
»Die Gärtners leben ihr das sowieso vor.« Katharina sah mich ernst an. »Was ich tue, ist unerheblich, sie orientiert sich nicht an mir.«
»Sie hat deine Gene, und sie ist dir jetzt schon ähnlicher, als sie Tamara Gärtner jemals sein wird!«, widersprach ich. »Kathi – wenn du nicht für dich selber vom Alkohol loskommen willst, dann tu es für Anna! Zeig ihr, was es bedeutet, stark zu sein!«
»Ich weiß nicht.« Katharina fuhr sich verschämt über die Augen. »Ich kann das nicht. Ich schaffe das nicht. Ich kann ja nicht mal mit dem Rauchen aufhören!«
»Bisher hast du noch zu keiner Zigarette gegriffen. Und das, obwohl du schon zehn Minuten hier sitzt.«
»Ich habe vorhin einen Nikotinkaugummi gekaut. Damit du dich nicht wieder aufregst, weil ich in deinem Behandlungszimmer qualme.«
»So ist es auch mit dem Alkoholentzug. Du musst ihn nicht ohne Hilfsmittel durchstehen. In einer Entzugsklinik bekommst du alle Hilfe, die du brauchst.«
Wieder schwieg sie eine Weile. Ich rechnete schon nicht mehr mit einer Antwort, als sie fragte: »Angenommen, ich würde das machen. Wie lange wäre ich dann in dieser Klinik?«
»Die körperliche Abhängigkeit hat sich in der Regel nach ein- bis eineinhalb Wochen erledigt. Was den Rest betrifft: drei, vier Monate werden die dich mindestens dabehalten.«
Sie gab ein undefinierbares Geräusch von sich.
»Vier Monate«, sagte sie dann. »Ich bin selbstständig! Wie soll das laufen? – Meine Mandanten gehen auf die Barrikaden, springen ab … dann bin ich existenziell ruiniert! Und das vermutlich für so einen Psychokram, der eh nichts bringt! Ich hasse Psychologen! Habe ich das schon mal erwähnt?«
»Hirscheck mochtest du«, erinnerte ich sie unsanft. »Von dessen Frau wolltest du dich sogar mittels Parapsychologie heilen lassen!«
»Ja – ein Fehler, das sehe ich jetzt ein.«
Erneutes, minutenlanges Schweigen folgte. Ich starrte auf ihre Schenkel und die Spitze, dachte unwillkürlich daran, wie gut sich ihre Haut anfühlte, und kam mir zugleich schäbig vor, weil ich die Frau, die hier mit ihrer Gesundheit und ihrer Zukunft rang, am liebsten nur aufs Bett werfen und mich mit ihr vergnügen wollte.
»Könntest du das in die Wege leiten? Mit dem Entzug, meine ich.«
Katharinas Frage beförderte mich abrupt aus meiner lüsternen Gedankenwelt in die Realität zurück.
»Ja, sicher. Wenn ich deine Zusage habe …«
Sie nickte.
»Dann tu’s«, erklärte sie entschlossen. »Ich versuche es. Ein letztes Mal. Wenn es dann nicht klappt, werde ich mein Leben mit Mister Whiskey zu Ende leben, und ich will dann nichts mehr dazu hören, klar?«
Ich schwieg, weil ich ihr dieses Versprechen weder geben wollte noch konnte, und rief stattdessen am Computer die Liste der Entzugskliniken auf.
»Ich schreibe dir eine Überweisung. Die muss von deinem zuständigen Rentenversicherungsträger genehmigt werden, dann gibt es in der Regel noch eine kleine Wartefrist – sobald ein Platz frei ist, bekommst du Bescheid.«
»Wartefrist?«, wiederholte sie. »Das auch noch!«
»Sieh es positiv: Zumindest kannst du noch ein paar aktuelle Fälle abschließen.«
Sie nickte, während ich das entsprechende Formular ausfüllte.
»Kommst du noch mit zu mir?«, erkundigte sie sich dann, als ich es ihr in die Hand drückte.
Jajajaja, schrie mein lüsterner Körper. Doch mein Verstand erstickte seine Schreie mit brutaler Gewalt.
»Ich kann das nicht, wie du dir das vorstellst, Katharina. Ich bin nicht wie diese Männer, die bei dir ein- und ausgehen und die nichts von dir wollen außer Sex. Ich will alles. Oder nichts.«
Sie sah mich kurz an, wieder mit diesem für mich neuen, unsicheren Lächeln im Gesicht. »Und was wäre das: alles?«
»Eine Beziehung«, erklärte ich ohne Umschweife. »Exklusivität, was den Sex angeht. Ich will nicht teilen. Ich will jemanden an meiner Seite, mit dem ich darüber hinaus auch einen gewissen Teil meiner Freizeit verbringen kann … eine, die nicht nur mit mir schläft und mich nach einem Espresso vor die Tür setzt, sondern eine, die mit mir Zukunftspläne macht, mich zu Freunden begleitet oder einfach nur dumme Serien mit mir anschaut, um zu entspannen.«
»Ich hasse Serien. Ich habe nicht mal einen Fernseher, ist dir das nicht aufgefallen?« Sie bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick. »Und was das andere betrifft: Es tut mir leid. Ich bin dazu nicht fähig. Ich wäre es gern«, sie schluckte. »Weil ich dich mag. Aber ich kann es nicht. Und es wäre unfair, dir das Gegenteil vorzugaukeln.«
Ich nickte. Im Grunde hatte ich nichts anderes erwartet. Nur – damit, dass sie so schonungslos ehrlich war, hatte ich nicht gerechnet.
Als wir uns diesmal umarmten, kam es mir wie ein Abschied für immer vor, obgleich ich tief in meinem Inneren wusste, dass dem sicher nicht so war. In einem Dorf wie diesem war es unmöglich, sich dauerhaft aus dem Weg zu gehen.
Trotzdem fühlte ich unendliche Traurigkeit in mir, als ich später den Heimweg antrat. Ich war froh, dass Onkel Gustav an diesem Abend beim Karten spielen war. Mit ihm in der Küche zu sitzen und über Belanglosigkeiten zu plaudern, hätte ich kaum verkraftet.
Stattdessen rief ich – seit Wochen zum ersten Mal – Tabea an. Meine Schwester wirkte nach dieser Phase der Abstinenz seit Langem wirklich erfreut über mein Lebenszeichen. Ich berichtete ihr von Lumenaria und dem Mordfall, zu dessen Aufklärung ich einen kleinen Teil beigetragen hatte.
»Hab ich es mir doch gedacht, dass so etwas im Busch ist«, stellte sie fest. »Dass du wieder mal Jörg unterstützt, ganz informell. Na, zumindest hat dich das aus deiner Lethargie gerissen! Du hörst dich jedenfalls wieder frischer und lebendiger an!«
»Frischer? Lebendiger? Wie meinst du das?«
»So, wie ich es sage. Du warst über Monate wie scheintot. Ich habe mich vor jedem Telefonat mit dir gefürchtet!«
»Waaas?«, quiekte ich entsetzt, während ich gleichzeitig begriff, weshalb Tabea nur noch jedes zweite, dritte Mal erreichbar gewesen war. Sie hatte einfach nicht abgehoben! Das war die Wahrheit, blank und schonungslos.
»Du hast nur noch gejammert wegen Holly«, hielt mir Tabea nun vor. »Außerdem war es für mich schwersterträglich, dass du dieser Anwältin immer die Schuld an deiner gescheiterten Beziehung gegeben hast!«
Ich stöhnte gequält. Trotzdem ließ ich mich dazu hinreißen, ihr von Katharina und mir zu erzählen. Tabea sah darin nichts als eine Bestätigung.
»Bleib cool und stress dich nicht so«, riet sie mir an. »Lass die Dinge auf dich zukommen, Gesine. Sie scheint dich zu mögen, also genieß es und lebe dein Leben, ohne dich an einer Idee festzubeißen, die nichts mit der Realität zu tun hat!«
»Du meinst allen Ernstes, ich soll einfach so akzeptieren, dass diese Frau mit dem halben Dorf schläft, und mich geduldig in die Schlange der vor ihrer Schlafzimmertür Wartenden einreihen?«
»Tut sie das denn?«, erkundigte sich Tabea, ehrlich interessiert. Ich konnte darauf keine eindeutige Antwort geben. Im Grunde wusste ich von dem, was Katharina inzwischen trieb, wenn ich ihr den Rücken zukehrte – nichts. Alles, auf was ich mich stützte, waren Gerüchte.
Andere ließen sich Lichtwesen einreden. Und ich? Schenkte jedem Dorftratsch Glauben.
Mit dieser überraschenden Erkenntnis stieg ich unter die Dusche.