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Die Gesetzlosen von Barsine
Jorat, Quurisches Reich.
Zwei Tage nachdem Kihrin D’Mon Xaltorath geopfert worden war
Als Kihrin in den Gastraum zurückkehrte, wurde er mit zahlreichen Fragen bombardiert – oder besser gesagt Janel. Die Gäste verlangten Antworten. Was war das für ein Lärm? Haben die Pferde sich erschreckt? Ging es ihnen gut? War das Wetter schlimmer geworden? Hatte jemand nach den Pferden gesehen? Wollten die Feuerblüter zu ihnen an die Bar kommen?
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Die letzte Frage schien absolut ernst gemeint.
»Der Sturm ist immer noch zu heftig, um nach draußen zu gehen«, erklärte Janel laut. »Versucht es erst gar nicht.«
Kihrin hob eine Augenbraue. Die Tür war von einer meterdicken Eisschicht versperrt. Und davor lauerte ein wütender Drache.
Was eben so passiert, wenn man in Jorat ein Wirtshaus besucht.
Kihrin sah keinen Sinn darin, die anderen Gäste wegen etwas in Panik zu versetzen, an dem sie ohnehin nichts ändern konnten. Er selbst konnte wahrscheinlich genauso wenig helfen, nicht einmal mit Urthaenriel, nur eines wusste er mit Sicherheit: Die Debatte übers Drachentöten war nun sehr viel weniger theoretisch geworden.
Aber wenn das da draußen der falsche Drache war, welcher war dann der richtige?
Als sich alle wieder ihren Getränken und Gesprächen zuwandten, kehrte Janel zu dem Vishai-Priester zurück und warf Kihrins Bündel auf einen Stuhl.
»Aeyan’arric ist draußen«, flüsterte sie Bruder Qaun zu. »Sie hat die Eingangstür mit einer Eisschicht blockiert.«
Kihrin nahm Platz und starrte seine Reisschale an. Er fragte sich, wie es um die Vorräte des Wirtshauses stand und wie lange sie ausreichen würden. Wie die Einheimischen es aufnähmen, wenn das Essen rationiert würde oder, schlimmer noch, ganz ausging.
Nein. Kihrin hatte nicht vor, sich von einem Drachen aufhalten zu lassen. Und Urthaenriels
hasserfüllter Gesang hatte ihm eindeutig gezeigt, dass hier mächtige Magie im Spiel war. Er war nicht sicher, ob Urthaenriel auf die Gegenwart von Magiern reagiert hatte oder auf die Nähe von einem oder mehreren Ecksteinen, doch gab ihm das Schwert auch jetzt ausreichend Hinweise, um zumindest eine Vermutung anzustellen: Urthaenriel wollte Qaun genauso töten wie den Drachen, Janel oder die alte Frau, die sich um die Pferde kümmerte.
Die Leute hier waren nicht so machtlos, wie sie schienen.
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»Aeyan’arric ist hier? Jetzt schon?« Qaun beugte sich nach vorn und senkte ebenfalls die Stimme. »Das ist viel zu früh nach dem letzten Kampf. Falls sie sich so schnell erholt hat …«
»Nicht falls
«, widersprach Janel. »Sie hat sich erholt. Ein unangenehmer Beweis dafür, wie schwer es ist, einen Drachen endgültig zu töten. Sie war nicht einmal zwei Tage lang tot. Und wir wissen nicht, ob die anderen Drachen sich schneller oder langsamer erholen als sie.«
Kihrin runzelte die Stirn. »Sie war tot? Wie das?«
Janel seufzte. Sie vergewisserte sich rasch, dass niemand zuhörte. »Ich habe sie erschlagen.« Dann fügte sie hinzu: »Um ehrlich zu sein, ich hatte tatkräftige Unterstützung.«
»Dann … wollen wir mal schauen, ob ich das richtig sehe: Du hast mich mit einer Mischung aus Bestechung und logischen Schlussfolgerungen hierhergelockt. Angeblich gibt es hier einen Drachen, Morios, der angeblich jeden Moment Atrine kurz und klein schlagen wird. Stattdessen hat Aeyan’arric – eine sehr reale Drachin – dich bis hierher verfolgt, weil du so unhöflich warst, sie vor zwei Tagen zu erschlagen.« Kihrin griff nach seiner Reisschale und einem Löffel. »Es hat also keinen Sinn, sich wegen des ersten Problems den Kopf zu zerbrechen, solange das zweite nicht gelöst ist. Habe ich irgendwas falsch verstanden?«
Janel schaute ihn finster an. »Nein.«
»Beantworte mir also eine Frage: Wenn dieser Morios auf dem Weg zu Jorats Hauptstadt ist, warum habt ihr euer Basislager nicht in Atrine aufgeschlagen und mich von dem Torwächter dorthin schicken lassen? Dann wären wir bereits am richtigen Ort. Ich habe keinen Wächter gesehen, als ich durch das Tor hier trat. Wenn er also nicht gerade seinen freien Tag hat und sich an der Theke ein Glas genehmigt, können wir von hier kein weiteres Tor öffnen. Warum mich hier anheuern – vorausgesetzt, ich stimme zu –,
wo wir noch zwei Monatsreisen von Atrine entfernt sind? Wie viel wäre von der Stadt noch übrig, wenn wir ankommen?«
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Janel und Qaun tauschten wieder einen Blick aus.
»Ihr solltet mit diesen Blicken aufhören, wisst ihr?«, erklärte Kihrin. »Was auch immer ihr glaubt, mir verheimlichen zu müssen, sagt’s mir einfach. Ich habe eine Menge gesehen und erlebt. Mittlerweile bin ich Meister darin, das Unmögliche zu akzeptieren.«
»Das Zittern deiner Hände sagt mir etwas anderes«, entgegnete Janel. »Das ist eine ganz normale Reaktion, wenn man gerade von einer Drachin angegriffen wurde.«
Qaun räusperte sich. »Manchmal erscheint eine bestimmte Vorgehensweise unklug, wenn man sie aus dem Zusammenhang reißt. Würde mir zum Beispiel jemand erzählen, Ihr hättet angeblich Kaiser Sandus getötet …«
»Nur zum Beispiel?« Kihrins Augen verengten sich. »Ich habe den Kaiser angeblich
getötet?«
»Lass ihn zu Ende sprechen«, warf Janel ein.
»Danke. Erzählte mir also jemand so etwas, wäre ich bestürzt, aber nur, wenn ich die Begleitumstände nicht kennen würde. Tatsächlich hatte Gadrith der Krumme mithilfe des Schellensteins Besitz von Sandus’ Körper ergriffen. Ihr habt also nicht den Kaiser getötet, denn der war bereits tot. Versteht Ihr? Wenn wir Euch gegenüber also bestimmte Dinge behaupten, ohne dass Ihr den Kontext kennt, könntet Ihr falsche Schlussfolgerungen ziehen.«
Kihrin fixierte den Priester. »Woher hast du deine Informationen über mich?« Es beunruhigte ihn, wie viel die beiden wussten. Er musterte die Hände des Priesters. Dieser trug keinen Intaglio-Rubinring. Falls Qaun Mitglied der Greifen war, der Geheimgesellschaft des verstorbenen Kaisers, trug er es nicht öffentlich zur Schau.
»Auch hier ist der Kontext wichtig.« Qaun wandte sich an Janel. »Wir haben viel zu erklären.«
»Ja, das habt ihr«, bestätigte Kihrin. »Euer Glück, dass ich gerade nirgendwohin muss.«
Janels Miene verfinsterte sich. »Qaun, wir müssen uns auf Atrine konzentrieren. Morios kann jeden Moment aufwachen, und wenn das passiert, ist die Stadt schutzlos.«
»Soll ich nachsehen?«, fragte der Priester. »Verzeiht, natürlich
soll ich.«
Er zog einen eiförmigen braunen Stein aus seiner Robe. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein Achat, doch dann schien er sich vor Kihrins Augen in einen weit teureren Edelstein zu verwandeln. Seine Farben verdichteten sich, und die Mitte begann wie von einer inneren Flamme erleuchtet zu strahlen.
Urthaenriel schrie.
»Ist das …?« Kihrin leckte sich über die Lippen. »Das ist ein Eckstein, oder?«
»Das ist Weltenfeuer«, bestätigte Qaun. »Eines der acht göttlichen Artefakte. Jeder Eckstein verfügt über einzigartige Fähigkeiten, mit denen sein Besitzer …«
»Ich weiß, was ein Eckstein ist. Erst vor zwei Tagen habe ich einen davon zerstört.« Und dadurch sämtliche Dämonen dieser Welt befreit.
»Richtig. Den Schellenstein.« Qaun konzentrierte sich. »Einen kleinen Moment.«
Der Priester tat nichts Besonderes oder gar Spektakuläres. Er starrte einfach den Stein an, als bewunderte er seine Schönheit. Nach ein paar Sekunden steckte er ihn blinzelnd zurück in seine Robe.
»Er hat noch nicht angegriffen«, erklärte Qaun.
»Aber das wird er bald. Und dann müssen wir dort sein …« Janel sah, wie Kihrin die Augen verdrehte. »Du glaubst uns nicht.«
»Ihr habt mir immer noch nicht erklärt, warum wir nicht bereits in Atrine sind.«
»Ich habe meine Gründe.«
»Und die wären …?«
»Meine.« Janel funkelte ihn an.
Kihrin sah keinen Grund, Janel zu besänftigen. »Du verrätst mir keine Einzelheiten, und trotzdem erwartest du von mir, dass ich dir helfe. Warum sollte ich?«
Sie beugte sich ganz nahe an ihn heran. »Weil der Mann, dem ich vor zwei Tagen begegnet bin, kein verzogenes Balg war. Weil er mir ohne Zögern geholfen hat, obwohl er damit riskierte, für immer im Nachleben festzusitzen. Weil ich dachte, dieser Mann, der seine Seele riskiert hat, um jemandem zu helfen, dem er noch nie begegnet war …« Sie verzog verächtlich den Mund. »Ich dachte, dieser Mann würde eventuell sein Leben riskieren, um zweihundertfünfzigtausend weitere Leute zu retten, denen er noch nie begegnet ist.
Offensichtlich habe ich mich getäuscht.« Sie stand auf, während der Priester den Eindruck erweckte, als wollte er im Boden versinken.
Kihrin fasste Janel am Arm. Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, legte nahe, dass er jeden Moment seine Hand verlieren könnte – und gleich darauf sein Leben.
»Es tut mir leid«, sagte er und hielt ihren Blick fest. In ihren roten Augen schimmerten orange und gelbe Flecken – also gehörte sie nicht
zum Haus D’Talus. »Ich habe mich danebenbenommen. Aber du musst verstehen, dass du mich nicht gerade um eine Kleinigkeit bittest. Außerdem erwartest du, dass ich deine Geschichte einfach so glaube. Da würde jeder skeptisch reagieren. Ein bisschen mehr wirst du mir schon verraten müssen.«
Janel musterte ihn eindringlich, bevor sie sich wieder setzte. »Ich kann nicht nach Atrine. Sobald Xun, der Herzog von Jorat, merkt, dass ich noch lebe, lässt er mich sofort hinrichten. Ich kann Atrine nur betreten, wenn etwas anderes ihn so sehr ablenkt, dass er es gar nicht mitbekommt. Morios zum Beispiel.«
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Kihrin starrte sie an. »Warum will Herzog Xun dich hinrichten lassen?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Wir haben jede Menge Zeit«, erwiderte Kihrin. »Ich meine …« Er deutete in Richtung des Ausgangs. »Solange die Eiskönigin da draußen dieses Spielchen nicht satt hat, werden wir wohl nirgendwo hingehen. Außer wir erschlagen sie.«
Bruder Qaun horchte auf. »Eine hervorragende Idee.«
»Was? Das Spielchen oder das Erschlagen?«
»Qaun …«, begann Janel.
»Schimpft nicht mit mir. Er hat recht, wir sollten es ihm sagen.« Der Priester lächelte Kihrin an. »Außerdem wäre es wichtig, dass Ihr erfahrt, warum wir Euch brauchen.«
»Das weiß ich bereits«, entgegnete Kihrin. Wegen Urthaenriel. Wenn die beiden schon einen Drachen erschlagen hatten, war die Wiederholung nicht das Problem. Das Problem war, dass der Drache auch tot blieb
. Und dafür, so glaubten sie, brauchten sie Urthaenriel.
Qaun wühlte in seiner Büchertasche und blickte auf. »Hm, das bezweifle ich.«
»Wo soll ich anfangen?«, fragte Janel. »Vielleicht mit Herzog Kaen?«
Bruder Qaun zog ein kleines, sorgsam gebundenes Buch aus der Tasche. »Ich fürchte, wir müssen noch weiter in der Zeit zurückgehen. Bis über die Gründung von Atrine hinaus und zu den Ereignissen von Barsine.« Er tippte mit dem Daumen auf den Buchdeckel. »Zum Glück habe ich alles aufgeschrieben.«
»Barsine, ist das ein Ort oder eine Person?«, erkundigte sich Kihrin.
Janel lächelte matt. »Das kommt drauf an. Beginne schon mal, Qaun. Ich hole uns inzwischen noch eine Runde Getränke. Und noch etwas Upishiarral.«
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Kihrin blickte ihr nach, während sie zur Theke ging. Janel sagte etwas zu der Schankkellnerin, die daraufhin ihr Handtuch hinwarf und die Arme vor der Brust verschränkte. Ein paar Sekunden später verschwanden sie gemeinsam durch eine Hintertür.
In der Zwischenzeit schlug Bruder Qaun sein Büchlein auf und begann, daraus vorzulesen. »Die Berichte über die Rebellion, ihre Ursachen, über ihre Erfolge und Misserfolge sind zahlreich. Bruder Qaun war sicher, dass die historischen Abhandlungen zu dem Thema seiner Schilderung gewiss weit überlegen …«
»Stopp. Ich habe eine Frage«, unterbrach Kihrin.
Bruder Qaun hielt inne. »Nur eine?«
»Das kann ich nicht versprechen«, antwortete Kihrin trocken. »Eine Rebellion? Welche Rebellion? Ich dachte, es geht um einen Drachen.«
»Um den Kontext«, entgegnete Qaun. »Habt Geduld. Etwas anderes wird Euch auch kaum übrig bleiben, solange gewisse drachenbedingte Probleme nicht gelöst sind.«
»Schon gut, schon gut. Geht es um kürzliche Ereignisse? Um Herzog Kaens Auflehnung gegen den Rest des Reichs?« Janel und Qaun hatten den Herzog schon einmal erwähnt. Kihrins Freund, Jarith Milligreest, war wegen Kaens nicht erklärter Rebellion beunruhigt gewesen, und sein Vater, General Qoran Milligreest, ebenso. Vater und Sohn hatten Kaen genau beobachtet und nur auf eine Gelegenheit gewartet, das Heer zu entsenden.
Was Kihrin daran erinnerte, dass Jarith vor zwei Tagen im Zuge des Höllenmarschs in der Hauptstadt das Leben gelassen hatte.
Er seufzte.
»Entschuldige. Bitte fahr fort.«
»Fein.« Qaun suchte nach der Zeile, bei der er stehen geblieben war. »
Also
… Qaun war der festen Überzeugung, dass die Rebellion in Jorat begann, und zwar mit einem Überfall. Die ganze Angelegenheit war von Anfang an problematisch gewesen. Beispielsweise zögerten die Gesetzlosen, ihrem Ruf gerecht zu werden – Bruder Qaun wusste, dass sie in den Bäumen lauerten. Er spürte ihre Blicke schon seit Stunden und fragte sich, worauf sie noch warteten …«
Der Priester blickte stirnrunzelnd auf. »Ja?«
»In der dritten Person?«, fragte Kihrin. »Warum? Wenn du dabei warst … warum erzählst du dann nicht aus deiner Perspektive?«
»Das ist eine Chronik«, protestierte der Priester. »Ich bin Chronist. Eine Chronik schreibt man nicht in der ersten Person wie ein Tagebuch.«
»Ich bin noch niemandem begegnet, der von sich selbst in der dritten Person sprach und vertrauenswürdig gewesen wäre. Ich kannte mal eine Mimikerin …«
Janel kam mit einem Tablett Apfelwein, hiesigem Bier und mehreren Schalen Upishiarral darauf zurück. »Hier.«
»Gab es Probleme mit der Kellnerin?«, erkundigte sich Kihrin.
»Hm? Nein, überhaupt nicht.« Janel setzte sich seufzend und nahm sich einen Becher Apfelwein.
Kihrin schaute zur Theke hinüber. Die Kellnerin war wieder zurückgekommen und steckte mit der Stallmeisterin die Köpfe zusammen. Sie tuschelten.
»Er unterbricht mich andauernd.« Bruder Qaun schaute Janel Hilfe suchend an. »Könnte ich jetzt bitte fortfahren?«
Janel berührte Kihrins Hand. »Ihr werdet nicht gut miteinander auskommen, wenn du ihn nicht vorlesen lässt.«
Kihrin ließ den kleinen Mann vorlesen.
Qauns Schilderung. Provinz Barsine in Jorat, Quur.
Die anderen Banditen hatten nie so lange gezögert.
In der Tat ließen sie sich so lange Zeit, dass Stute Dorna schon witzelte, ob sie sie zum Frühstück ans Lagerfeuer einladen sollten.
Schließlich kam eine maskierte Gestalt auf die Lichtung geschlendert. Bruder Qaun versuchte, sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen: Er hatte nicht mit einer Frau gerechnet. Andererseits waren seine Erwartungen in Jorat schon des Öfteren enttäuscht worden.
»Endlich«, murmelte Dorna. Bruder Qaun stieß ihr den Ellbogen in die Rippen. Offensichtlich waren die Banditen in diesem Teil Jorats eher schüchtern und mussten erst aus ihrem Versteck gelockt werden.
»Wo sind die Wachen?«, fragte die Banditin und sah sich um. Keine unvernünftige Frage, wenn man jemanden überfallen wollte.
Stute Dorna schnaubte und kratzte die Reste Klebreis aus ihrer gusseisernen Pfanne.
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Die Dritte in der Runde saß still und gelassen am Feuer. Sie lieferte den Verzweifelten jeden Grund, den man sich für einen Überfall vorstellen konnte: Um den Hals trug sie eine Kette mit einem Juwelenring daran, ihre Reittunika war mit Gold bestickt, in ihrem Laevos steckten Haarnadeln aus Jade.
»Wachen? Warum?«, fragte Janel und nippte an ihrem Tee. »Suchst du Arbeit?«
Die Banditin verdrehte die Augen und ließ ihren Blick weiter über die Lichtung schweifen, als vermutete sie, dass sich unter den ausgelegten Bettrollen Soldaten versteckt hielten. Ihr Blick blieb einen Moment lang an dem erlegten Hirsch hängen, der kopfüber von einem Ast hing.
Bruder Qaun wusste, was ihr gerade durch den Kopf ging: Sie waren nur zu dritt, und keiner aus ihrer Gruppe wirkte kräftig genug, um einen Hirschkadaver so aufzuhängen – geschweige denn, seine Begleiter zu verteidigen. Dorna sah aus, als wäre sie älter als so mancher Berg, und Bruder Qaun war deutlich anzusehen, dass er körperliche Anstrengungen nicht gewohnt war. Und die Adlige in der Runde, Janel, wirkte eher wie ein Kind als wie eine Erwachsene. Ihre aus der Ferne reichlich harmlos erscheinenden Pferde grasten auf der benachbarten Wiese. Kein Hinweis weit und breit auf eine Eskorte, die eine adlige Joratin vor denen beschützte, denen das Schicksal nicht so viel Glück in die Wiege gelegt hatte.
Leicht verdientes Geld.
»Es wäre zu einfach«, murmelte die Banditin. »Du stammst aus zu gutem Haus, um keine Beschützer zu haben.«
Diese Einschätzung macht sie schon mal schlauer als die letzten vier
, überlegte Bruder Qaun.
Die List erinnerte ihn jedes Mal an die Salo-Schlangen im manolischen Dschungel. Qaun hatte Quur noch nie verlassen und daher selbst noch keine gesehen, aber Vater Zajhera hatte ihm die
Geschöpfe beschrieben: Sie jagten, indem sie mit ihrem Schwanz ein verwundetes Tier imitierten. Jeder Räuber, der sich auf den verlockenden Appetithappen stürzte, endete unweigerlich selbst als Hauptgang.
Seine Dienstherrin, Janel Theranon, der Graf von Tolamer, wirkte genauso harmlos wie ein Salo-Schwanz.
Qauns Blick wanderte zu den Bäumen. Das Laub dort raschelte, Äste knackten. »Graf«, sagte er, »sie ist nicht allein.«
»Das hoffe ich doch, Bruder Qaun«, erwiderte Janel. Sie stellte betont sorgfältig ihre Teetasse ab und musterte die Wegelagerin. »Suchen deine Begleiter auch nach Arbeit?«, fragte sie mit einem Lächeln.
»Kommt drauf an. Wie gut bezahlt Ihr?«, rief ein Mann zwischen den Bäumen hervor. Andere, ebenso unsichtbare Gestalten lachten, und die Banditin seufzte.
Sie trug eine grün-braun gemusterte Ledertunika. Ihre Gesichtsmaske bestand aus zwei kunstvoll bestickten Stoffstreifen, die in der Mitte einen Sehschlitz freiließen. Die Haut um das eine Auge herum war braun, die um das andere weinrot. Aus ihrem Rucksack ragte ein Bogen, in einer Hand hielt sie eine Sichel.
Wahrscheinlich eine Bäuerin, die sich aufs Rauben verlegt hatte. Anscheinend ein weitverbreitetes Phänomen in dieser Gegend, wenn man die Zahl der Überfälle bedachte, die sie auf dem Weg von Tolamer hierher erlebt hatten. Die Sache hatte aber auch einen Vorteil: Die meisten Burgherren in Jorat zahlten eine Belohnung für gefangen genommene Banditen.
Ein einträglicher Verdienst, wenn einem die Gefahr nichts ausmachte.
Bruder Qaun machte sie durchaus etwas aus, aber er war nicht in der Position, Janel vorzuschreiben, wie sie ihr Säckel zu füllen hatte.
Die Wegelagerin drehte sich zu den Bäumen um. »Ruhe dahinten!«
Janels Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Sei nicht so streng mit ihnen. Kein Pferd kommt schon mit Sattel zur Welt.«
»Wie wahr«, räumte die Banditin ein, dann straffte sie sich plötzlich, als wollte sie sich nicht von der Freundlichkeit ihres Opfers einlullen lassen. »Hör zu. Wir folgen euch schon, seit ihr den Fluss überquert habt. Und die ganze Zeit fragen wir uns, was so eine hübsche Mähne wie du hier draußen zu suchen hat. Sollen wir dir vielleicht
abkaufen, dass du als Begleiter nur diese alte Stute und den fetten Wallach mitgebracht hast?«
Bruder Qaun streckte die Brust vor. »Jetzt aber mal langsam …«
»Sie hat eine gute Beobachtungsgabe, nicht?«, kommentierte Dorna und stand mit der Pfanne in der Hand auf. »Ich bin alt, und du hast noch nie in deinem Leben einen zweiten Nachtisch verschmäht.«
»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, fragte Qaun mit gerunzelter Stirn.
Das Geplänkel wurde jäh von einem Pfeifen unterbrochen, und Bruder Qaun sprang auf – weniger aus Wachsamkeit als schlichtweg vor Schreck. Ein Pfeil bohrte sich in Dornas Pfanne und riss sie ihr aus der Hand.
Alle hielten inne.
Janel presste die Lippen zusammen. Mit einem Mal sah sie gar nicht mehr amüsiert aus.
»Aua!«, rief Dorna entrüstet. »Was soll das? Ich war noch nicht mal mit dem Abschrubben fertig!«
Bruder Qauns Herz schlug so schnell, dass er schon fürchtete, es könnte sich in einen Hasen verwandeln und davonspringen. Die letzten Wegelagerer, denen sie begegnet waren, hatten Mistgabeln und lange Messer dabeigehabt – also Nahkampfwaffen, was Janel in die Hände spielte. Sie sah so hilflos aus, dass die Wölfe ihr stets zu nahe kamen.
Pfeil und Bogen waren etwas anderes. Gegen Pfeile war sie nicht gefeit.
Qaun und Dorna auch nicht.
Die Wegelagerin umklammerte die Sichel in ihrer Hand fester. »Wir sind nicht zu deiner Unterhaltung da, alte Schachtel. Raus mit euren Wertsachen. Jetzt.« Sie deutete auf Janels Familienschwert, das mit Gürtel und Scheide an einem dicken Ast hing. »Wem gehört das?«
Janel neigte den Kopf. »Mir.«
»Pferdemist.« Die Banditin lachte. »Ich will verdammt sein, wenn du es auch nur anheben kannst. Wo ist deine Eskorte? Beim Pinkeln im Wald vielleicht?«
Bruder Qaun schaute zu den Bäumen hinüber. Die Blätter raschelten. Der eine Teil der Bande schien gerade die Position zu wechseln, der andere ungeduldig zu werden. Wer auch immer den
Pfeil abgeschossen hatte, war entweder ein hervorragender Schütze oder von Taja gesegnet. Falls sie aber noch mehr Bogen hatten und als Nächstes eine ganze Salve abfeuerten …
Er vermutete, dass der Graf sich der Gefahr bewusst war, doch in Janels Augen stand ein Leuchten, als machte ihr das Geplänkel Spaß.
Er vermutete, dass genau das der Fall war.
Bruder Qaun machte ein Zeichen in Richtung der Morgensonne und fragte sich, was er getan hatte, um Vater Zajhera gegen sich aufzubringen. War dieser Auftrag womöglich so etwas wie eine Strafe?
»Da du so überzeugt zu sein scheinst, dass ich eine Eskorte habe«, begann Janel. »Es gibt da dieses Sprichwort, dass man an der Farbe des Fells erkennt, wie schnell ein Pferd laufen kann. Möglicherweise gilt hier das Gleiche.« Sie stand auf, wischte sich die Frühstückskrümel von der bestickten Tunika und verneigte sich. »Ich biete dir einen Handel an.«
»Du glaubst, du bist in der Position, einen Handel vorzuschlagen?«
Bruder Qaun fing Dornas Blick auf. Sie nickte unmerklich in Richtung eines großen Kampferbaums mit dicken Wurzeln, die perfekte Deckung boten. Janel war eine gute Kämpferin, aber er und Dorna brauchten ein sicheres Versteck.
Graf Janel winkte ab. »Du bist die Herdenführerin, und du machst dir zu Recht Sorgen wegen meiner Eskorte. Du möchtest schließlich nicht, dass deine Leute zu Schaden kommen. Also schlage ich einen Kompromiss vor, ein Duell. Ich kämpfe gegen jeden deiner Begleiter – auch gegen dich, wenn du willst –, und das mit jeder Waffe, die du
auswählst. Gewinnst du, gebe ich dir alles, was ich besitze. Du hast mein Wort darauf.«
Bruder Qaun wartete mit angehaltenem Atem, ob die Anführerin den Köder schlucken und sich auf den wehrlosen, zuckenden Schwanz stürzen würde …
»Du musst mich entweder für eine Närrin oder einen Schwächling halten«, entgegnete die Banditin, »aber ich bin keines von beidem.«
»Nein, du bist eine Diebin.« Es war nicht als Beleidigung gemeint. Janel lächelte wie ein Kind, das mit seiner neuen besten Freundin spielt.
Die Aussicht, gegen eine andere Frau zu kämpfen, schien sie sehr zu freuen. Nur wenige Frauen in Jorat wandten sich der Wegelagerei zu. Alle Banden, denen sie bisher begegnet
waren, hatten ausschließlich aus Männern bestanden.
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Die Bandenführerin stemmte eine Hand in die Hüfte. »Du gehst mir allmählich auf die Nerven, Mädchen.«
Janel lachte herzhaft. »Wenn du mich nicht gerade überfallen würdest, könnte mir das glatt leidtun.«
»Jetzt will ich auch dein Schwert haben.«
»Hättest du es mir gelassen, wenn ich netter gewesen wäre?«
»Und diesen schicken Ring da.« Sie deutete auf Janels Halskette.
Das Familienschwert der Theranons und den Siegelring des Kantons Tolamer. Bruder Qaun musste ein Stöhnen unterdrücken. Aber wenigstens hatte die Möchtegern-Räuberin noch nicht abgelehnt.
»Und die Abmachung?«, drängte der Graf. »Willst du die auch haben?«
Die Bandenführerin ging eine Weile auf und ab, schließlich deutete sie auf das Schwert. »O ja. Kämpfe gegen mich, aber nicht damit. Der Ast, an dem das Schwert hängt, ist deine Waffe.«
Bruder Qaun musste unwillkürlich blinzeln. Die auserkorene »Waffe« war an der dünnsten Stelle immer noch so dick wie Janels Arm. Sie würde eine Axt brauchen, um sie von dem Baum loszuschlagen.
Sie hatten keine Axt.
Die Anführerin sah Qauns Gesichtsausdruck und Janels nach oben gezogene Augenbrauen. »Und jetzt Schluss mit den Spielchen, Kleine. Legt alle eure Wertsachen in die Mitte des Lagerplatzes und schätzt euch glücklich, dass wir keine Verwendung für eure Pferde haben.«
Etwas im Wald regte sich. Das Geräusch von galoppierenden Hufen drang heran.
Die Banditin schien zu glauben, dass es sich um die gefürchtete Eskorte handelte, die nun zurückkehrte, um ihre Herrin zu beschützen. »Verteilt euch!«, befahl sie. »Bereit zum Kampf!«
Während die Banditen sich auf die vermeintliche Verstärkung konzentrierten, griff Janel Theranon, vierundzwanzigster Graf von Tolamer, nach dem Ast und riss ihn vom Baum. Das Krachen von splitterndem Holz hallte über die Lichtung.
»Ich akzeptiere deine Bedingungen«, sagte Janel. »Fangen wir an.«
Es wurde still auf der Lichtung, als die Bandenführerin ihren Fehler bemerkte. Sie tat Bruder Qaun beinahe leid. Wer würde Janel schon für gefährlich halten? Sie sah so hilflos aus wie ein kleines Mädchen.
Der zuckende, wehrlose Wurm war wohl doch keine leicht erbeutete Mahlzeit.
Die Luft roch nach grünem Harz, altem Lagerfeuerrauch und heraufziehendem Regen, als die Banditen aus dem Wald kamen. Es waren genauso viele Frauen wie Männer, was Qaun erstaunte, aber die Frauen sahen auch nicht freundlicher aus als die männlichen Bandenmitglieder.
»Was soll das?«, fuhr die Anführerin auf. »Bei den Acht, warum verlasst ihr eure Deckung? Zurück in die Bäume mit euch!«
Bruder Qaun war ebenfalls verwirrt. Er verstand nicht, warum sie aus ihren Verstecken kamen, anstatt das Feuer zu eröffnen, solange sie noch Gelegenheit dazu hatten. Er und Stute Dorna waren noch nicht in Deckung gegangen. Vollkommen ungeschützt standen sie auf der Lichtung.
Die Banditen gaben nicht nur ihre Verstecke auf, sie legten auch ihre Waffen weg und hängten sich ihre Bogen über die Schulter.
Der größte von ihnen, ein riesiger Kerl mit schwarz gesprenkelter grauer Haut, deutete missbilligend auf Janel. »Sie hat dich herausgefordert, und du hast akzeptiert.« Seine Miene deutete an, dass die Antwort offensichtlich war.
Eine der Frauen zupfte ihn am Ärmel. »Fünf Chancen, dass die schicke Mähne beim ersten Treffer zu Boden geht.«
Dorna straffte sich. »Ah, das gefällt mir. Ich setze zehn Throne, dass der Graf eurer Anführerin den Hintern versohlt.« Sie tippte Bruder Qaun auf die Schulter. »Du musst mir zehn Throne leihen, Priester.«
»Nein!«, protestierte Bruder Qaun.
»Wenn man Geld machen will, muss man nun mal Geld in die Hand nehmen«, entgegnete Dorna.
»Ihr Trottel!«, rief die Bandenführerin. »Das habe ich doch nicht ernst gemeint!«
Der große Kerl verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir sind hier in Jorat.«
»Hier macht man keine Witze über solche Dinge«, bestätigte eine Frau mit einem weißen Streifen in der Mitte ihres Gesichts.
»Seid ihr wirklich so blöd?«, fragte die Anführerin verzweifelt.
Janel wedelte lachend mit dem Ast. »Du bist nicht von hier, oder?«
In diesem Moment kam Arasgon auf die Lichtung getrabt.
In einem gewissen Sinn hatte die Anführerin doch recht gehabt: Arasgon konnte man durchaus als Janels Eskorte bezeichnen. Seit ihrer Kindheit war er ihr treuer Begleiter. Seine bloße Gegenwart war so einschüchternd, dass Janel ihn angewiesen hatte, sich vom Lager fernzuhalten, damit er die Banditen nicht abschreckte. Dabei trug Arasgon weder Rüstung noch Waffen, und er war auch kein Mensch.
Die Schulterhöhe des Feuerblüters betrug achtzehn Handbreit, sein Fell war schwarz wie das eines Zobels, Mähne und Schweif blutrot – in Jorat nannte man diese Färbung
vom Feuer geküsst
. Doch damit endete jede Ähnlichkeit mit seinen vierbeinigen Verwandten auch schon. An seinen Beinen prangten rote Tigerstreifen, und seine Augen waren genauso rot wie die seiner Herrin Janel. Er wäre ein wirklich prächtig anzuschauendes Pferd gewesen, doch Feuerblüter waren keine Pferde, wie sie jedem sogleich ins Gedächtnis riefen, der so dumm war, sie als solche zu bezeichnen, und sich in Reichweite ihrer Hufe befand.
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Arasgon machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus einem Wiehern und einer wohlüberlegten Äußerung klang. Bruder Qaun wusste, dass es sich um Worte handelte, um eine echte Sprache, auch wenn er sie zu seinem großen Verdruss nicht verstand.
»Keine Sorge«, sagte Janel mit einem Blick in Richtung des Feuerblüters. »Das wird ein Kinderspie …«
In diesem Moment trat die Anführerin ihr gegen den Kopf.
Drei Mal.
Die Banditen jubelten. Hätten sie welche gehabt, hätten sie ihre Krüge und Wimpel geschwenkt. Und warum auch nicht? Der Graf mochte einen Feuerblüter an seiner Seite haben, aber sie waren um ein Vielfaches in der Überzahl. Das hier war für sie kein Überfall, sondern Unterhaltung.
Dass ihre Anführerin gerade gegen eine Frau kämpfte, die einen armdicken Ast vom Baum brechen konnte, war schnell vergessen.
Janel taumelte so stark, dass Bruder Qaun schon befürchtete, der Kampf wäre bereits zu Ende. Die Frau, die auf genau diesen Ausgang gewettet hatte, jubelte ebenfalls.
Doch Janel schüttelte ihre Benommenheit ab und fixierte die Angreiferin mit ihren roten Augen. »Ah, wir haben schon angefangen? Mein Fehler.« Sie wischte sich das Blut vom Mund und setzte ein strahlendes Lächeln auf.
Die Banditin erstarrte. »Wie kann es sein, dass du noch stehst? Ihn habe ich mit diesem Tritt bewusstlos geschlagen.« Sie deutete auf den großen Kerl, der die Wetten angenommen hatte.
»Ich bin für meine Sturheit bekannt«, erwiderte Janel und ließ den Ast niederfahren.
Ihre Gegnerin rettete sich mit einem Sprung zur Seite, und die Banditin, die eben noch gejubelt hatte, überreichte ihrem Kumpan murrend fünf Chancen.
Janel setzte nach. Diesmal duckte ihre Gegnerin sich unter dem Schlag weg und holte Janel mit einem Fußfeger von den Beinen. Um ein Haar wäre sie in die Feuerstelle gefallen. Die Bandenführerin sprang vor und trat mit einer Stampfbewegung nach Janels Kopf. Janel rollte sich zur Seite und stützte sich beim Aufstehen mit einer Hand in den glühenden Kohlen ab.
Entsetzte Stille machte sich breit.
Janels rechter Handschuh brannte. Sie klemmte sich den Ast unter die Achsel und zog seufzend das brennende Leder von ihren Fingern. Die pechschwarze Haut darunter bildete einen scharfen Kontrast zu ihrem zimtroten Gesicht. Soweit Bruder Qaun es erkennen konnte, hatte sie nicht einmal Brandblasen an den Fingern.
»Das waren meine Lieblingshandschuhe«, protestierte der Graf.
»Ach, Fohlen«, warf Stute Dorna ein. »Das waren Eure einzigen
Handschuhe.«
»Das habe ich doch gesagt«, bestätigte Janel. Sie ließ den Ast kreisen wie einen Knüppel und deutete auf ihre Gegnerin. »Ich habe dich unterschätzt, Diebin.«
»Geht mir genauso.« Ein Hauch von Sorge stahl sich in das Lachen der Bandenführerin. »Du bist verflucht stark und zäher als ein Ochse. Aber mit diesem Ast kannst du nicht gewinnen.«
»Sei froh, dass du dich nicht für das Schwert entschieden hast.«
»Zuerst musst du mich überhaupt einmal treffen«, entgegnete die Banditin mit leicht nervösem Unterton. »Ich bin schneller als der Wind.«
»Das stimmt«, flüsterte der Hüne Dorna zu. »Sie ist unsere beste Kämpferin.« Er schlug
sich auf die Brust. »Und ich habe bei Turnieren gekämpft.«
Janel grinste ihre Gegnerin an. »Mehr als einen Treffer brauche ich auch nicht.«
Bruder Qaun merkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Zu jedem Herrschaftsgebiet Quurs gab es ein entsprechendes Klischee: Khorvescher galten als hervorragende Soldaten, Kirper brüsteten sich mit ihren Zauberkünsten, die Yorer waren Barbaren und die Jorater Pferdenarren …
Er wünschte nur, jemand hätte ihm verraten, dass sie außerdem ganz versessen aufs Kämpfen
waren.
Janel und die Bandenführerin umkreisten einander und suchten nach einer Lücke. Die Banditin griff nie mit ihrer Sichel an, aber sie legte sie auch nicht weg. Jedes Mal, wenn Janel zuschlug, wich sie aus oder wehrte den Schlag ab. Jedes Mal war es Janel, die einen Schlag oder Tritt abbekam.
Am Ende würde die Diebin den Grafen zermürben.
»Nicht schlecht«, kommentierte die Gesetzlose, nachdem Janel das x-te Mal vorbeigeschlagen hatte. »Eine Schande, dass niemand dich je ausgebildet hat.«
Janel stürzte mit dem Ast vor, die Diebin wehrte ab, machte einen Schritt zur Seite und trat sie …
Sagen wir: ins Hinterteil.
Janel hörte auf herumzuspielen, oder vielleicht verlor sie auch einfach nur die Geduld. Als sie das nächste Mal angriff, versuchte sie erst gar nicht, dem Konter auszuweichen. Der Graf hatte sich in pure Entschlossenheit verwandelt. Die Diebin schlug mit aller Härte zu, doch Janel schnaubte nur und kniff die Augen zusammen. Dann richtete sie sich auf und warf den Ast in die Luft, der sich drehte wie ein Rad.
Sie schien unbewaffnet, schutzlos …
Die Banditin ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen und griff an.
Janel reagierte blitzschnell und sprang zur Seite. Fing den Ast auf und schlug ihrer Gegnerin damit die Sichel aus der Hand. Dann drehte sie ihn herum und ließ ihn auf das gestreckte Bein ihrer Gegnerin herabsausen.
Ein lautes Krachen zerriss die Luft, gefolgt von einem Schmerzensschrei.
Das Bein der Anführerin bog sich in eine Richtung durch, wie ein gesundes Bein es
niemals tun würde. Sie sank schluchzend zu Boden.
Janel warf den Ast weg.
»O nein«, stöhnte sie. »Das wollte ich nicht …« Blinzelnd machte sie einen Schritt zurück. »Bruder Qaun! Ich brauche deine Hilfe!«
Er rannte los. »Bin gleich da. Ich muss nur meinen Beutel holen …«
Der Hüne betrachtete die Szene stirnrunzelnd und verschränkte die Arme vor der Brust. »So habe ich mir das ganz und gar nicht vorgestellt.«
Stute Dorna, die direkt neben ihm stand, streckte die Hand aus, um ihren Gewinn einzusammeln.