Eine faule Frucht
Jorat, Quurisches Reich.
Zwei Tage nachdem Xaltorath einen Höllenmarsch in der Hauptstadt begonnen hatte
Bruder Qaun hielt mit krächzender Stimme inne.
»Vielleicht wäre Tee besser für deine Stimmbänder als Apfelwein«, sagte Janel.
Der Priester nickte. »Ihr habt recht. Ich werde in die Küche gehen und nachsehen.« Im Vorbeigehen nickte er Kihrin höflich zu.
Kihrin und Janel saßen eine Weile stumm da und starrten einander an.
»Ist das wirklich passiert?«, fragte Kihrin schließlich.
»Was? Dass Qaun in die Küche gegangen ist, um nach Tee zu suchen?« Sie stützte das Kinn in die Hand und grinste, als Kihrin die Augen verdrehte. »Ach, du meinst den Banditenüberfall.«
Kihrin erwiderte das Lächeln. »Nein, ich meine, ob du wirklich diesen Ast vom Baum gebrochen hast.«
»Ja. Ich kann mir denken, dass dieser Teil schwer zu glauben ist.«
Kihrin schob sein Upishiarral beiseite. »Was du mit der Eingangstür gemacht hast – ich könnte das nicht. Mein Freund Stern genauso wenig. Wir haben es beide erfolglos versucht, aber du hast sie zugemacht und verriegelt, als wäre sie aus Zuckerwatte.«
Janel hob eine Augenbraue. »Dann ist es wohl wirklich so passiert.«
»Warum erzählst du die Geschichte nicht selbst? Es ist ja schön, dass du deinen eigenen Chronisten hast, aber ich bezweifle, dass seine Schilderungen allzu objektiv sind.« 19
»Und wenn ich die Ereignisse schildern würde, wäre das anders? Zumindest hat er daran gedacht, unsere Reisen zu dokumentieren. Ich war zu abgelenkt.«
»Vielleicht würde ich die Geschichte einfach lieber von dir hören.«
Ihre Blicke begegneten sich erneut.
Janels Mund zuckte. »Eines würde ich gerne von dir wissen: Hengste oder Stuten?«
Kihrin blinzelte. »Was?«
Sie imitierte Kihrins Haltung und beugte sich näher heran. »Magst du lieber Hengste oder Stuten?«
»Über das Geschlecht meines Pferds habe ich noch nie nachgedacht …« Er hielt inne. »Aber du sprichst gar nicht von Pferden, oder?«
»Ganz und gar nicht«, bestätigte Janel. »Für Leute, die unsere Gebräuche nicht kennen, liegt in dieser Frage eine Falle verborgen.«
»Wie meinst du das?«
»Bei uns können die Worte Hengst und Stute sehr verschiedene Bedeutungen haben.« Sie fuhr mit dem Finger die Maserung der Tischplatte entlang. »Man muss den Kontext verstehen, sonst könnte man Ärger bekommen.«
»Und in welchem Kontext sprichst du im Moment?«
»Vom Geschlecht deiner Bettgenossen natürlich.« Ihre Augen blitzten schalkhaft. »Galoppierst du mit Hengsten? Oder lieber mit Stuten?« Sie zuckte die Achseln. »Manche mögen keines von beidem, aber ich glaube, zu denen gehörst du nicht.«
Kihrin kratzte sich am Kopf. »Nein, tue ich nicht. Stuten, würde ich sagen.« Er zögerte. »Und wo liegt die Falle verborgen?«
»Weil das der einzige Kontext ist, in dem Hengst, Stute und dergleichen sich auf das zwischen deinen Beinen bezieht. Wenn wir einen Menschen als Hengst oder Stute bezeichnen, meinen wir damit normalerweise seine Geschlechterrolle.«
Kihrin schaute sie verdutzt an. »Aber hast du das nicht vorher auch gemeint? Du bist eine Frau. Das ist es doch, was Stute bedeutet, oder?«
Ihr Mund zuckte. »Du setzt Geschlecht mit Geschlechterrolle gleich. Mein Geschlecht, mein Körper, ist weiblich. Aber das ist nicht meine Geschlechterrolle. Ich bin ein Hengst, und Hengste sind bei uns als Männer definiert. Du liegst also falsch: Ich bin ganz sicher keine Frau.«
Kihrins Augen wurden groß. »Du hast doch gerade gesagt, dass dein Körper weiblich ist.«
Sie seufzte. »Wer ich als Mann bin, hat nichts« – sie deutete auf ihren Körper – »damit zu tun. Ob mein Körper männlich, weiblich oder keines von beidem ist, spielt keine Rolle. Ich bin und bleibe ein Hengst.«
Kihrin blinzelte. »Du bist also … ein Mann.« Sein Blick schweifte über ihre Tunika, verweilte bei Janels Beinen und kehrte dann wieder zu ihrem Gesicht zurück. »Klar.«
Sie verdrehte die Augen. »Du setzt schon wieder Frau mit weiblich gleich. Ich kann es dir nicht verübeln, im Westen sind die Worte praktisch gleichbedeutend. Aber lass dir gesagt sein, hier nicht.« Sie blickte an ihrer Brust hinab und zupfte am Kragen ihrer Tunika. »Bei uns beschreibt man mit Hengst und Stute die Geschlechterrolle einer Person, und nach dieser Definition bin ich ein Mann. Aber beim körperlichen Geschlecht ist das anders. Was das Äußere betrifft« – sie blickte noch einmal an sich hinab – »gefalle ich höchstwahrscheinlich jemandem, der weibliche Partner bevorzugt. Somit bin ich ein weiblicher Mann.« Sie lächelte. »Siehst du die Falle jetzt?«
Kihrin schüttelte den Kopf. Wenn jemand, Janel zum Beispiel, wie eine Frau aussah, wie sollte er sich dann ihr gegenüber verhalten, wenn sie sich selbst als … Mann bezeichnete? Und wie sollte er den Unterschied erkennen? Kihrin war immer davon ausgegangen, dass das zwischen den Beinen ganz entscheidend für die Unterscheidung zwischen Mann und Frau war.
Janels Meinung nach war das nicht der Fall, und offensichtlich auch nicht in den Augen anderer Jorater. O ja, jetzt sah Kihrin die Falle. Er war nur nicht sicher, ob er verstanden hatte, wie genau sie funktionierte. Geschweige denn, wie er sie umgehen konnte.
Wie lange brauchte Bruder Qaun überhaupt, um sich einen Tee zu besorgen? »Ähm … Ich glaube, ich brauche ein bisschen Zeit, um mich an diese Vorstellung zu gewöhnen. Soll ich dich jetzt als er anreden oder …?«
»Sie« , antwortete Janel. »Wir versuchen, den Rest Quurs nicht allzu sehr zu verwirren.« 20
»Scheint nicht besonders gut zu funktionieren.« Kihrin sammelte sich einen Moment lang. »Und … wie ist das bei dir?«
»Ich? Ich bin kein bisschen verwirrt, was diese Dinge betrifft.«
»Nein, ich meine, magst du lieber … Hengste oder Stuten?«
Janel schaute ihn mit nach oben gezogenen Augenbrauen an. »Warum sollte ich mich auf eine Hälfte der Herde beschränken?«
Kihrin war froh, dass er noch nicht von dem Apfelwein getrunken hatte. »Genau, warum solltest du …« Er erwiderte ihr Lächeln. Er mochte ihre direkte Art. Janels Schamlosigkeit gefiel ihm. Und obwohl ihm durchaus bewusst war, dass sie ihre ganz persönlichen Ziele verfolgte, brauchte sie seinen Blick nur eine Sekunde zu lange zu erwidern, um ihn genau das wieder vergessen zu lassen. Er wusste, dass das nicht klug war. Überhaupt nicht klug.
Er griff trotzdem nach ihrer Hand.
Bruder Qaun stellte ein Tablett mit Teekanne und Tassen auf den Tisch.
Kihrin zog seine Hand wieder weg. »Sie haben also Tee. Toll.«
»Ja, nicht wahr?«, bestätigte Qaun. »Ich bin hocherfreut.«
»Bruder Qaun, soll ich für eine Weile übernehmen?«, warf Janel ein. »Dann kannst du deine Stimme schonen.«
»Seid Ihr sicher?« Er hielt ihr sein Büchlein hin.
»Das ist nicht nötig«, entgegnete Janel. »Ich erzähle die Geschichte lieber auf meine Art.«
Der empörte Blick, den Qaun ihr daraufhin zuwarf, brachte Kihrin beinahe zum Lachen.
Der Priester fing sich wieder und goss sich eine Tasse Tee ein. »Würde es Euch etwas ausmachen, wenn ich Eure Schilderungen aufzeichne?«
Janel blinzelte ihn an. »Wenn du was tust?«
Qaun griff in seinen Beutel und holte ein weiteres Büchlein hervor. »Das ist ein Zauber, den ich« – er räusperte sich kurz – »in meinem alten Kloster gelernt habe. Damit lassen sich Gespräche für historische Abhandlungen aufzeichnen. Das Ganze ist sehr subtil, Ihr werdet es nicht einmal merken.«
»Moment.« Kihrin beugte sich vor. »Du kennst einen Zauber, der alles aufzeichnet, was wir sagen? Ich auch.« Surdyeh, sein Stiefvater, hatte einen ganz ähnlichen Trick beherrscht.
»Tatsächlich? Ach, ein sehr nützlicher Zauber, findet Ihr nicht? Ich kann Euch gar nicht sagen, wie oft er mich schon vor einem Schreibkrampf bewahrt hat …«
Kihrin kniff die Augen zusammen. »Du trägst nicht zufällig einen Rubinring, oder?«
Qaun bedachte ihn mit einem eigenartigen Blick. »Was für eine seltsame Frage. Das würde ich niemals tun. Vishai-Priester leben in Bescheidenheit.«
Kihrin riss sich zusammen. »Natürlich. Verzeih.« 21
»Nun«, begann Janel. »Mir macht es jedenfalls nichts aus, wenn du meine Schilderungen aufzeichnest. Wie wär’s, wenn ich einfach anfange?« Sie tat es, ohne auf Qauns Antwort zu warten.
Janels Schilderung. Provinz Barsine, Jorat, Quur.
Nachdem ich der Banditin das Bein gebrochen hatte, warf ich den Ast weg und trat zurück, um Bruder Qaun Platz zu machen. Arasgon beschnupperte mich, um sich zu versichern, dass ich keine ernsthaften Verletzungen davongetragen hatte, und das nicht ohne Grund: Ich spürte die Prellungen an meinem Kiefer und den Rippen jetzt schon.
Die Frau trat zu wie Khorsal persönlich.
Ihre Begleiter legten ihre Waffen neben der Feuerstelle ab als Zeichen, dass sie sich ergaben. Ich beachtete sie kaum, zählte aber, wie viele es waren: mit ihrer Anführerin insgesamt acht. Trotz meiner Apathie schnappte ich ein paar Namen auf. Die Frau mit dem weißen Streifen im Gesicht hieß Kay, jemand anderes Vidan, auch wenn ich nicht ganz sicher war, wer. Närrin, die ich war, betrachtete ich sie lediglich als Geldquelle.
Das Glück war uns hold, denn in Mereina, der Provinzhauptstadt von Barsine, würde bald ein Turnier stattfinden, bei dem der hiesige Baron seine Aufwartung machen musste. Wir würden also nicht lange auf unsere Belohnung zu warten brauchen.
Bruder Qaun war fassungslos gewesen, als wir das erste Mal Köder-den-Banditen spielten. Er verstand einfach nicht, warum sie nicht flohen oder kämpften, sobald ihr Anführer besiegt war. Ich versuchte, es ihm zu erklären …
Die Sache war die, dass in unserer Welt alles von zwei grundlegenden Konzepten bestimmt wird: Das eine heißt Idorrá – die Macht und Stärke derer, die andere beschützen –, das andere ist Thudajé und bezeichnet die Ehre, die daraus erwächst, sich einem Überlegenen zu unterwerfen. Um den Unterschied zwischen beidem aufzuzeigen, veranstalten wir Prüfungen, Wettbewerbe und Duelle. Das sorgt für gute Führung und einen starken Zusammenhalt. Eine Niederlage hat nichts Unehrenhaftes. Dafür, dass der Unterlegene Thudajé zeigt, bekommt er Sympathie und Vergebung. Somit war es nur selbstverständlich, dass die Banditen sich ergaben, und genauso selbstverständlich, dass wir sie gut behandelten.
Jemand, der ein starkes Idorrá hat, kann gar nicht anders. Wer seine Kraft dafür verwendet, andere zu unterjochen, ist nichts weiter als ein Tyrann und brutaler Unterdrücker. Auch dafür gibt es in unserer Sprache ein Wort: Thorra.
Ich wusste, dass Qaun mich nicht verstand. Im Westen, jenseits der Berge, handhabte man solche Dinge anders als hier.
Im Westen wird alles anders gehandhabt, glaube ich.
Doch diesmal schien einer der Banditen weniger Thudajé zu haben als die anderen. Er trug sein Haar zu einem Laevos geschnitten, jener Frisur, die aussieht wie eine Pferdemähne und mit der wir uns als Adlige zu erkennen geben. Es war derselbe, der auf meine Niederlage gewettet und verloren hatte. Während alle anderen voll und ganz auf ihre Anführerin und Bruder Qaun konzentriert waren, starrte er nur mich an.
»Ich kenne Euch«, sagte er. »Ihr seid Janel Danorak, die Enkelin des Grafen von Tolamer.«
Na wunderbar. Er hatte mich erkannt.
Ich verfluchte mein Pech und hob das Kinn. »Du irrst«, sagte ich.
Verwirrung trat auf sein hübsches Gesicht. Er hatte dunkelgraue Haut und einen weißen Laevos, der früher einmal gut gepflegt gewesen zu sein schien. Auf mich wirkte der Kerl wie jemand, der an Luxus gewöhnt war und sich nun in den Wäldern vor seinen Feinden versteckte.
Mehr oder weniger wie ich selbst, sozusagen.
»Ach ja?« Er blinzelte überrascht.
»Ja. Ich war einmal seine Enkelin. Jetzt bin ich selbst der Graf von Tolamer.« Ich zwang mich, seinen Blick zu erwidern. »Woher weißt du, wer ich bin? Ich war schon seit Jahren nicht mehr in dieser Provinz und hätte nicht erwartet, dass jemand mich wiedererkennt.«
Er grinste schief. »Wir waren damals beide noch Kinder. Ihr habt Tamin immer dazu gebracht, mit Euch und Eurem Feuerblüter zu spielen. Ihr seid auf Bäume geklettert und habt Schlammburgen gebaut und kamt jedes Mal vollkommen verdreckt zurückgeritten. Das wart doch Ihr damals, oder? Ihr seid Janel Danorak.«
»Mein Familienname lautet Theranon. Gehörst du zu den Leuten des Barons?«
»Früher einmal.« Ein schmerzhafter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Seid Ihr jetzt Danorak oder nicht?«
Bis zu diesem Moment hatte der Rest der Bande sich aufgeregt über die Verletzung der Anführerin unterhalten, doch nach dieser Frage erstarben die Gespräche. Alle Blicke wandten sich mir zu.
Ich seufzte. »Ich bin nur jemand, der in einen Höllenmarsch geraten ist.«
Er kicherte. »Und bescheiden noch dazu.«
»Nein, bin ich nicht …« Den Rest des Satzes verkniff ich mir. Mein gesamtes Leben lang war mir eingeschärft worden, niemandem zu verraten, was wirklich passiert war, als die Dämonen im Kanton Lonezh gewütet hatten. Und deshalb korrigierte ich die Leute nie, wenn sie die Schrecken meiner Kindheit zu einem Mythos hochstilisierten.
Für alle, die sich nicht so gut mit der joratischen Geschichte auskennen: Danorak war ein Feuerblüter, der innerhalb einer Woche ganz Jorat durchquerte – von Nord nach Süd und Ost nach West, ohne Pause, ohne Essen, ja sogar ohne Wasser. Er warnte die Menschen und anderen Feuerblüter, sich in Sicherheit zu bringen, da Kaiser Kandor dabei war, die Endlose Schlucht zu überfluten, um unseren tyrannischen Gottkönig aus seinem Versteck zu treiben und ihn zu töten.
Als Danorak alle gerettet hatte, brach er vor Erschöpfung tot zusammen.
Zum Lonezh-Höllenmarsch war es gekommen, weil eine Hexe in Marakor einen Dämon herbeigerufen hatte, den sie nicht beherrschen konnte – mit den erwartbaren Konsequenzen: Der Höllenmarsch endete erst, als ein großer Teil Jorats und der gesamte Kanton Lonezh entvölkert waren.
Danach fingen die Leute an, mich Danorak zu nennen. Es hieß, ich sei tagelang gerannt, die Dämonen immer dicht auf meinen Fersen, um Kaiser Sandus zu warnen. Eigentlich war der Spitzname ein Ehrentitel, doch mich erinnerte er jeden Tag meines Lebens daran, dass mein Ruf auf einer Lüge gründete.
Niemand kann vor einem Dämon davonlaufen, schon gar nicht ein achtjähriges Mädchen.
Ich wollte nicht über den Höllenmarsch sprechen, also wandte ich mich an Bruder Qaun, der immer noch die Bandenführerin verarztete. »Wird sie laufen können?«
»Frag mich gefälligst selbst«, sagte die Frau und versuchte, sich aufzusetzen.
»Nicht«, schimpfte Bruder Qaun. »Ich habe dein Bein noch nicht fertig gerichtet.«
»Wenn du mich noch einmal anfasst, zeige ich dir, wie hart ich mit meinem anderen Bein zutreten kann.«
»Aber ich muss …« Der Priester schaute mich Hilfe suchend an. »Graf, könntet Ihr der Frau bitte erklären, dass ich ihr nur helfen will?«
»Meine Beine begaffen, das will er.«
Dorna lachte. »Bestimmt nicht. Unser Priester ist ein Wallach, und das durch und durch.« Ihr Grinsen wurde breiter. »Aber deine Beine sind hübsch, ich schau gerne hin.«
Qaun schloss die Augen und flüsterte ein Gebet.
»Wie heißt du?«, fragte ich die Bandenführerin.
Sie schniefte und schaute weg.
Ich zog ihr die Maske vom Gesicht. Sie versuchte, meine Hand wegzuschlagen, doch ihre Kräfte ließen sie im Stich. Ohne die Tücher vorm Gesicht sah sie aus wie eine Joratin: dunkelbraun mit einem roten Spritzer, der die linke Wange und ihre Stirn bedeckte. Ihre Haare waren schwarz und glatt. Ich schätzte, dass sie in etwa doppelt so alt war wie ich.
Aber sie war keine Joratin.
Trotzdem hatte sie ihre Mitbanditen dazu gebracht, ihr Thudajé zu erweisen. Vielleicht hatten sie ihre wahre Abstammung nicht erkannt.
Oder sie konnte einfach zu gut treten.
»Das ist Ninavis«, erklärte der Kerl mit dem Laevos. »Wir nennen sie Ninavis. Sie war Jägerin, bevor der Baron die Wälder hier zu seinem Eigentum erklärte. Seine Soldaten haben unter Androhung der Todesstrafe ganze Dorfgemeinschaften vertrieben. Familien, die seit Generationen von der Jagd lebten, wurden nun zu Wilderern gemacht.«
»Was soll das, Kalazan?«, schimpfte Ninavis. »Warum läufst du nicht gleich zum Baron und verrätst ihm meinen Namen?«
»Sie darf ihn ruhig wissen«, entgegnete Kalazan. »Sie ist die, auf die wir gewartet haben. Siehst du das nicht, Ninavis?« Er wandte sich wieder an mich. »Mein Name ist Kalazan. Der Große heißt Dango und der mit dem vernarbten Gesicht Gerber. Das hier sind Kay Hará und Jem Nakijan, gleich neben ihnen stehen Vidan und Gan …«
»Gan, die Müllerstochter«, unterbrach die Frau, von der er gesprochen hatte. Sie war jung und schön und trug einen prächtigen Laevos. Wenn sie eine Müllerstochter war, dann war ich die Königin von Alt-Zaibur. »Ninavis hat recht, du hättest ihr unsere Namen nicht verraten sollen.«
»Aber sie ist es, Gan.« Kalazan gestikulierte aufgeregt. »Seit Monaten schlagen wir uns mehr schlecht als recht in diesen Wäldern durch, während der Baron und sein verfluchter Hauptmann auf der Suche nach der geweissagten Bedrohung, dem besessenen Kind, Dorf um Dorf niederbrennen. Was, wenn sie diejenige ist? Was, wenn sie von Anfang an nach Danorak gesucht haben? In der Prophezeiung steht nichts davon, dass es jemand von hier sein muss.«
Ich spürte einen Kloß im Hals. Eine kribbelnde Furcht erfasste mich vom Scheitel bis zu den Zehen, und ich musste die Fäuste ballen, sonst hätte ich Kalazan am Kragen gepackt und geschüttelt.
»Wovon redest du?«, bellte ich. »Du gibst mir besser eine klare Antwort, denn ich hasse Prophezeiungen.«
Doch wir bekamen keine Gelegenheit, das Gespräch zu Ende zu führen.
Arasgons Sinne sind weit schärfer als die eines Menschen. »Graf, wir sind nicht allein!«, rief er, und im nächsten Moment ritten drei Dutzend Soldaten in braun-goldenen Uniformen – den Farben von Barsine – auf die Lichtung.
Sie kamen von der windabgewandten Seite, und jeder von ihnen hatte eine Armbrust.
Genauer gesagt, hielt jeder von ihnen eine Armbrust auf einen von uns gerichtet.
Ein paar der Banditen liefen zu ihren Waffen, in den Wald oder flohen in die spärliche Deckung, die die Wurzeln ihnen boten. Ninavis konnte ihnen aus naheliegenden Gründen nicht folgen. Auch Kalazan blieb; mir fiel allerdings auf, dass er und Gan ihre Kapuzen überzogen, um ihren Laevos zu verbergen.
»Wen haben wir denn da?«, fragte der Kommandant und trabte heran. »Bleibt, wo ihr seid. Keiner rührt sich von der Stelle!«
»Ah, endlich«, sagte Arasgon und ging ihm entgegen. »Wir haben diese Streuner gefangen genommen. Ihr könnt uns helfen, sie zu einem Herdenmeister zu bringen.«
Der Kommandant ignorierte ihn. »Ihr antwortet nicht? Wer ist euer Anführer? Sprecht!«
Arasgon schaute mich blinzelnd an. Ich wusste, was ihm gerade durch den Kopf ging: Die Neuankömmlinge mochten aussehen wie Jorater, aber kein Einheimischer würde es wagen, einen Feuerblüter einfach zu übergehen.
Außer er verstand ihre Sprache nicht.
Ausgeschlossen. Vor langer Zeit hatte Gottkönig Khorsal die Jorater als Hüter seiner Lieblinge, der Feuerblüter, auserkoren. Als die Feuerblüter sich dann den Menschen anschlossen, um Khorsal zu stürzen, wurde diese Verbindung nur noch stärker. Jedes Kind in Jorat lernte die Sprache unserer vierbeinigen Verwandten.
Aber dieser Hauptmann hatte Arasgon nicht verstanden. Also war er entweder geistig minderbemittelt, oder er stammte genauso wenig aus Jorat wie Ninavis.
Auf Letzteres hätte ich einiges gewettet.
Ich trat vor. »Ich bin die Anführerin. Ich bin Graf Tolamer und auf dem Weg nach Mereina, um dem Baron von Barsine einen Besuch abzustatten.«
Er musterte mich skeptisch. Ich sah nicht aus wie eine Bäuerin – mein Laevos war gut gepflegt und meine Kleidung zwar abgetragen, aber edel. Meine äußere Erscheinung konnte reine Maskerade sein, aber mein Idorrá nicht. Mein Auftreten war eindeutig das eines Grafen.
»Ach ja? Wo ist Eure Eskorte?«, fragte der Hauptmann.
Ich hörte, wie sich ein Stöhnen aus Ninavis’ Kehle löste, und setzte ein freundliches Lächeln auf. »Ich bin in Begleitung eines Feuerblüters. Wozu brauche ich da noch eine Eskorte?«
Mein Gesprächspartner drehte sich halb herum und erkannte Arasgon endlich als das, was er war. Dieser trabte kopfschüttelnd zu den Banditen, die verunsichert dicht beieinander standen.
»Ich bin Hauptmann Dedreugh«, sagte der Kommandant und stieg ab. »Wir sind auf der Jagd nach Gesetzlosen, die seit beinahe einem Jahr die Dörfer entlang des Flusses plündern und niederbrennen. Die Beschreibung scheint mir recht gut auf diesen Haufen hier zu passen. Wenn Ihr also verzeihen würdet« – er winkte seine Männer heran – »übernehmen wir ab hier.«
Die Hälfte seiner Soldaten steckte die Armbrüste weg und stieg mit gezogenen Schwertern ab. Ihre Gesichter beunruhigten mich. Aus den Augen dieser Männer leuchtete nicht gerechter Zorn, sondern der nackte Hunger eines jagenden Raubtiers. Ich sah, wie einer von ihnen die am Boden liegende Ninavis beäugte und sich über die Lippen leckte. 22 Sein Blick besagte nichts Gutes. Glühende Wut stieg in mir auf, und ich musste mich mit aller Macht beherrschen.
Ich legte Hauptmann Dedreugh eine Hand auf den ledernen Brustharnisch.
»Ich habe diese Leute gefangen genommen, Dedreugh«, erklärte ich. »Ich habe sie unterworfen und ihr Thudajé an mein Idorrá gebunden. Sie stehen unter meinem Schutz, bis ich sie dem Baron übergeben habe. Dem Baron persönlich.«
Der Situation wohnte eine gewisse Ironie inne. Dedreughs Vorschlag war mein ursprünglicher Plan gewesen, der Sinn meiner Falle. Bei allen anderen Gelegenheiten hatte ich die gefangenen Banditen an die örtlichen Machthaber übergeben, ohne auch nur ihre Namen zu erfahren. Es war nie meine Absicht gewesen, die Verantwortung für sie zu übernehmen. Ich wollte nicht Adoptivmutter für Tunichtgute spielen, sondern meine seit dem eiligen Aufbruch aus Tolamer leere Kasse füllen.
Jede noch so kleine Provinz zahlte eine Belohnung für dingfest gemachte Räuber. Ich hatte sie ohne jedes Aufheben ausliefern und dafür ein paar Münzen kassieren wollen.
Und nun stand ich hier und stellte sie unter den Schutz meines Idorrá, als wären sie irgendwie wichtiger als alle vorherigen Lumpensammler, Verbrecher und Wegelagerer. Was machte diese Gruppe so besonders? Lag es daran, dass ich die Beherrschung verloren und ihrer Anführerin das Bein gebrochen hatte? Ich wusste es nicht.
Vielleicht gefiel mir Dedreughs Gang einfach nicht.
»Hauptmann!«, rief einer der Soldaten. »Der da hinten, er ist es!«
Dedreugh versuchte, mich wegzuschieben, und hielt erstaunt inne, weil er es nicht konnte. Die nach wie vor aufgesessenen Soldaten brachten ihre Armbrüste in Anschlag. Und meine Banditen – großer Khored, sie waren jetzt tatsächlich meine Banditen – würden niemals ihre Bogen erreichen, bevor die Soldaten abdrückten.
Hauptmann Dedreugh war eine einschüchternde Erscheinung. Er überragte mich um mehr als einen Kopf, seine hellgraue Haut war am Haaransatz von dunklen Flecken gesprenkelt wie das Fell eines Jaguars, und seine Augen hatten die Farbe von Eis. Durchaus hübsch, aber irgendwie haftete ihm ein Geruch an, der mir nicht gefiel, ein Fäulnisgestank, den kein noch so heißes Bad abwaschen konnte.
»Aus dem Weg«, blaffte er in barscher Missachtung jeder Etikette und fügte dann erst hinzu: »Graf. Diese Gesetzlosen werden wegen Verrats und Hexerei gesucht. Wenn Ihr Euch schützend vor sie stellt, macht Ihr Euch der gleichen Vergehen schuldig.«
»Falls diese Leute Verbrechen begangen haben, werden sie dafür bezahlen, Hauptmann. Nichtsdestotrotz stehen sie im Moment unter meinem Idorrá. Also bringen wir sie nach Mereina, wo ihnen der Prozess gemacht werden wird, wie es sich gehört.«
»Frau …«
»Frau?« Ich schaute ihn fragend an.
Der Hauptmann runzelte die Stirn. »Ihr habt in dieser Angelegenheit nichts zu sagen. Seid froh, dass ich mich bereit erkläre, Euch in die Stadt zu eskortieren.« Er beugte sich zu mir herunter, bis unsere Nasenspitzen sich beinahe berührten. »Es war ein langer und harter Winter. Auf dem Weg dorthin könnte alles Mögliche passieren.«
Ich fixierte ihn kalt. »Ach tatsächlich?«
»Wenn Ihr nett zu mir seid, sorge ich dafür, dass Ihr sicher ankommt …«
Ein Gurgeln drang aus seiner Kehle, als ich meine Finger um seinen Hals legte.
Ich lüge nicht: Am liebsten hätte ich zugedrückt, bis meine Fingerspitzen sich berührten.
»Ich bin der Graf von Tolamer«, erklärte ich. »Ich bin ein Hengst, keine Stute, und ich bitte dich nicht um Erlaubnis, sondern ich erteile dir einen Befehl.«
Obwohl er so viel größer war als ich, hob ich ihn eine Handbreit vom Boden und hielt ihn so, dass er den Armbrustschützen die Sicht auf mich nahm und damit die Möglichkeit, ordentlich zu zielen.
»Graf …?«, sagte Dorna. »Ich unterbreche Eure Tändelei ja nur ungern, aber Ihr solltet mal nach Euren Kindern sehen …«
Ich schaute zu ihnen hinüber. Die Soldaten streckten Dorna, Qaun und sogar Arasgon ihre Schwerter entgegen – auch wenn ihre angespannten Mienen nahelegten, dass ihnen nicht wohl dabei war, den riesenhaften Feuerblüter zu bedrohen.
»Sag deinen Leuten, sie sollen sich zurückziehen«, wies ich Dedreugh an. »Sonst werden sie Zeuge, wie ich dir den Unterkiefer herausreiße und dich mit deiner eigenen Zunge ersticke. 23 So spricht man nicht mit einem Grafen. Genauso wenig wie man die Waffen gegen Leute erhebt, die unter meinem Schutz stehen. Hast du das verstanden?« Ich hörte nur ein weiteres Gurgeln. »Ein Blinzeln als Ja genügt.«
Er versuchte, meine Finger aufzubiegen, blinzelte aber und rang keuchend nach Atem, nachdem ich ihn losgelassen hatte. »Senkt die Waffen«, krächzte er seinen Männern zu.
Danach drehte er sich wutentbrannt zu mir um. »Gebt mir Euer Wort, dass Ihr mir helft, diese Verbrecher auszuliefern, oder Euer Adelstitel wird Euch nicht retten.«
Ich fragte mich, wie der Baron von Barsine seine Leute behandelte. Ich hatte ihn als einen harten Hengst in Erinnerung, der eher zur Peitsche als zur Karotte griff. Wenn Dedreughs Benehmen mir eines verriet, dann dass er im Lauf der Jahre noch schlimmer geworden war. »Du bist offensichtlich verwirrt, Hauptmann. Ein Graf steht über einem Baron. Außerdem habe ich bereits angeboten, sie auszuliefern, oder etwa nicht?«
Er machte mit funkelnden Augen einen Schritt zurück. Sein Thudajé war schlecht entwickelt. Ich hatte mein Idorrá eindeutig bewiesen, doch er reagierte mit Groll anstatt mit ehrenhafter Unterwerfung. Er war ein Thorra, ein Unterdrücker, der glaubte, überlegene Körperkraft wäre gleichbedeutend mit dem Recht, über andere zu herrschen. Ich sah die Drohung in seinem Blick: Nimm dich in Acht, sonst lasse ich dich bei der ersten Gelegenheit für diese Demütigung bezahlen.
Ich kniff die Augen zusammen. Unser System funktionierte seit fünfhundert Jahren. Es funktionierte, weil die Leute den Sinn dahinter begriffen.
Indem Dedreugh versuchte, mir sein Idorrá aufzuzwingen, erniedrigte er sich nur selbst. Außerdem war so ein Verhalten vollkommen inakzeptabel, nachdem ich ihn bereits unterworfen hatte. Aber Leute, die Idorrá und Thudajé mit männlich und weiblich verwechselten, hatte es schon immer gegeben.
Fremde machten diesen Fehler häufig.
Und ich könnte mich kaum Graf nennen, wenn ich mich von einem Bürgerlichen so behandeln ließe.
Ich hob den erlegten Hirsch vom Ast herunter und pfiff nach Dornas Pferd, Taschenbeißer, sowie Bruder Qauns Wallach, Wolke. »Stute Dorna, Bruder Qaun, helft mir, unsere Freunde zu fesseln, während diese Männer unser Lager abbrechen. Ninavis, du reitest auf Arasgon. Ich sattle die Pferde. Und ihr anderen macht inzwischen keinen Ärger.«
Das Lächeln auf Kalazans Gesicht überraschte mich. Ich dachte an die Prophezeiung, von der er gesprochen hatte, an das besessene Kind. Er hatte keine Angst. Natürlich nicht, denn die Heldin, die sie alle von Hauptmann Dedreugh und seinen Soldaten befreien würde, war endlich gekommen.
Ich war nicht sicher, ob mir diese Prophezeiung gefiel.