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Die Gerechtigkeit des Barons
Jorat, Quurisches Reich.
Zwei Tage nach Kaiser Sandus’ Tod
»Moment«, sagte Kihrin. »Feuerblüter sprechen? Die Pferde in dem Stall können sprechen
?« Er deutete in die entsprechende Richtung.
Kihrin hatte schon immer so zu Skandal gesprochen, als könnte sie ihn verstehen. Als kleiner Junge hatte er es mit einer Katze namens Prinzessin genauso gemacht. Menschen behandelten ihre Schoßtiere nun einmal gerne wie Familienmitglieder. Was aber nicht bedeutete, dass die Tiere auch eine Antwort gaben.
»O nein«, stöhnte Bruder Qaun. »Nun habt Ihr es gesagt.«
»Was gesagt?«
»Sie sind keine Pferde«, erklärte Janel. »Feuerblüter sind vollwertige Bürger mit allen Rechten.«
Kihrins Augen wurden tellergroß. »Wissen sie das auch in Quur?«
Janel stellte ihre Tasse geräuschvoll ab. »Als Atrin Kandor Jorat von Khorsal befreite, verlieh er beiden Völkern, die der Gottkönig versklavt hatte, volle Bürgerrechte: den Menschen genauso wie den Feuerblütern. Einen Feuerblüter ein Pferd zu nennen, ist, als würde man einen Menschen als Tier bezeichnen. Und ja, sie können sprechen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Dass ihr sie nicht versteht, ist nicht ihre Schuld.«
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»Das wirft ein ganz neues Licht auf Darzins Zuchtversuche mit Skandal.« Kihrin verzog das Gesicht. »Ein ziemlich unangenehmes.« Auch wenn es nichts an den Taten seines Bruders geändert hätte. Kihrin wäre nicht überrascht gewesen, wenn Darzin über die rechtliche Gleichstellung von Feuerblütern genau Bescheid gewusst und trotzdem versucht hätte, Skandal decken zu lassen. Das hätte ihm ähnlich gesehen.
»Du nennst Hamarratus Skandal?
« Janels Tonfall klang, als wäre Kihrin soeben in einem Test durchgefallen.
»Ist das …? Moment. Wie kommst du darauf, dass Skandal Hamarratus heißt?« Kihrin fiel wieder ein, dass Stern gegenüber der
Stallmeisterin den gleichen Namen erwähnt hatte.
»Sie hat es mir im Stall gesagt«, antwortete Janel. »Sie können sprechen, schon vergessen?«
Kihrin dachte an die Geräusche, die die Pferde – oder besser gesagt: Feuerblüter – von sich gegeben hatten, als die Drachin angriff. Er hatte sie für ganz gewöhnliche Pferdelaute gehalten. Sturm. Großer Drache. Viel Gefahr. Aber sprechen?
Vielleicht.
»Ich weiß, was für ein Schock das für Euch ist«, sagte Bruder Qaun. »Glaubt mir, ich kann es Euch nachfühlen.«
»Stern meint, der Name Skandal gefällt ihr«, erwiderte Kihrin. »Ich werde sie weiter so nennen.«
»In Ordnung«, erwiderte Janel. »Solange es ihre Entscheidung ist und nicht ein Kosename, den du einer Sklavin gegeben hast.«
Kihrins Augen verengten sich. »Sie ist keine Sklavin.«
»Das will ich auch nicht hoffen.«
Bruder Qaun blickte zwischen den beiden hin und her. »Soll ich wieder lesen, Graf? Dann könnt Ihr inzwischen essen.«
Janel zog ihre Schale zu sich heran. »Ja, tu das.«
Qauns Schilderung. Mereina in der Provinz Barsine, Jorat, Quur.
Um die Belohnung für die Ergreifung der Banditen einzukassieren, mussten sie nach Mereina, der Provinzhauptstadt von Barsine. Es war keine angenehme Reise. Die Soldaten johlten, witzelten und prahlten ohne Unterlass, als hätten sie
die Banditen gefangen genommen. Die Banditen selbst boten einen traurigen Anblick.
Bruder Qaun verglich sie unwillkürlich mit den anderen Gesetzesbrechern, die sie bisher dingfest gemacht hatten. Diese hatten ihre Lage hingenommen, als wäre alles nur ein Spiel, was ihn damals einigermaßen überraschte. Im Rest Quurs wurde Wegelagerei mit Versklavung bestraft, doch hier in Jorat nahmen die gefassten Männer und Frauen die Angelegenheit denkbar gelassen. Sie waren Banditen, die sich ihren Lebensunterhalt gewaltsam verdienten, und ihre Gefangennahme schien für sie nur ein weiterer Teil des Spiels – sie hatten verloren, der Graf hatte gewonnen. Gut gespielt.
Ninavis und ihre Bande schienen die Angelegenheit anders zu betrachten.
Die Stille, die die Banditen und den Grafen umgab, war schwer und undurchdringlich. Janel blickte sich ständig mit zusammengekniffenen Augen um, als erwartete sie jeden Moment einen Hinterhalt. Mit jedem Schritt in Richtung ihres Ziels wurde die Anspannung in der Gruppe größer.
Als sie die Bäume verließen, kam das Schloss von Mereina in Sicht. Im ersten Moment erkannte Qaun es nicht einmal. Er merkte erst, dass es sich bei dem Bauwerk nicht um einen Wachturm oder ein Lagerhaus handelte, als die Soldaten abbogen und direkt darauf zuhielten.
Der Gerechtigkeit halber muss hinzugefügt werden, dass man es kaum als Schloss bezeichnen konnte.
Das plumpe, rechteckige Gebäude stammte aus grauer Vorzeit, als das umliegende Land noch nicht zum quurischen Reich gehörte. Ursprünglich eine Grenzfeste, hatte man es schließlich zum Regierungssitz umfunktioniert. Es als Schloss zu bezeichnen, war in etwa so, als würde man die sanften Hügel in Qauns Heimat Eamithon mit den Drachenspitzen vergleichen.
Die »Stadt« unterhalb des Schlosshügels sah anders aus als die aus Tonziegeln, Holz und Stein erbauten Ansiedlungen in Westquur. Anstatt von Häusern war das Tal von Lauben mit kleinen Gärten gesäumt. Überall wehten Flaggen und Banner. Bei starkem Wind, ja selbst bei schwachem, wurde Barsine zu einem Meer aus flatternden Stoffbahnen. Sie waren hübsch anzusehen, boten aber keinerlei Schutz vor den Stürmen, für die Jorat berüchtigt war.
Pferde und Elefanten liefen durch die Straßen. Rothunde – eine Hunderasse, die Füchsen zum Verwechseln ähnlich sah – streiften durch die Gärten und Straßen.
Die einzigen Bauten, die Häusern zumindest ähnelten, befanden sich oben am Fuß des Schlosses: Hunderte joratische Zelte, Azhock genannt. Sie bestanden aus Stoffbahnen und Tierhäuten, die über einen Holzrahmen gespannt waren, und sie waren groß genug als Wohnstatt für Menschen und Pferde zugleich. In diesen vorübergehenden Unterkünften wohnten die Turnierbesucher: Kaufleute, Händler, Bauern und nicht zuletzt die Teilnehmer.
Die gefangen genommenen Banditen gingen vor Bruder Qaun und Dorna her, Ninavis ritt ein Stück abseits auf Arasgon. Graf Janel war ebenfalls nicht weit. Sie weigerte sich, mit Hauptmann Dedreugh oder seinen Soldaten zu reiten, hatte aber nichts dagegen,
dass sie den Hirschkadaver transportierten, den sie dem Baron als Gastgeschenk überreichen wollte. Bruder Qaun hegte den Verdacht, dass Janel die Gefangenen bewachte, damit niemand sie belästigte. Er wusste, wie unbedarft er in diesen Dingen war, aber selbst ihm war nicht entgangen, wie die männlichen Soldaten die Banditinnen beäugten.
In Jorat gab es ein Wort dafür: Thorra.
In der wörtlichen Übersetzung bedeutet es »Hengst, den man nicht mit anderen Pferden allein lassen kann.«
Es ist nicht als Kompliment gemeint.
Auf dem Weg zum Schloss kamen sie am Festplatz vorbei. Mehrere Bewohner des ansonsten vollkommen ruhigen Lagers streckten den Kopf unter der Zeltklappe hervor und verschwanden dann wieder.
Ein Mädchen mit silbern gesprenkelter schwarzer Haut und krausem Haar rannte von Zelt zu Zelt und verbreitete die Nachricht von ihrer Ankunft. Sekunden später trat ein großer Mann mit ebenso fleckiger Haut aus einem Azhock und wischte sich die Hände an einem Tuch ab, während er die Gruppe beobachtete. Seiner Schürze und dem muskulösen Körperbau nach zu urteilen war er Schmied. Sie spürten seinen stummen Zorn noch, als sie längst vorbeigeritten waren.
Der Hass des Schmieds war nicht gegen Bruder Qaun, Dorna, Janel oder die Banditen gerichtet, sondern gegen die Soldaten. Ein junger Mann in Fellkleidung, der gerade seinem Jagdadler die Lederhaube wieder aufsetzen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. Er schien drauf und dran, seinen Vogel auf die Soldaten zu hetzen, doch ein anderer Jäger legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.
Barsines Bewohner erkannten die Banditen als das, was sie waren, hegten aber keinen Groll gegen sie. Sie
waren nicht der Feind, sondern die Soldaten. Die ganze Stadt beobachtete sie, als wären sie ein Rudel Löwen, das in ihre Gärten einbrach. Thorras, milde ausgedrückt.
Bruder Qaun wurde kalt. Wenn er an Jorat dachte, dachte er normalerweise nicht an Rebellion.
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In der joratischen Gesellschaft kannte und akzeptierte jedes Mitglied seinen Platz. Dieser Hass auf die Soldaten stach so sehr ins Auge wie eine Gewitterwolke an einem strahlend blauen Himmel.
Während sie weiter auf das Schloss zuhielten, drehte sich Kalazan zu seinen Gefährten
um und ging rückwärts weiter. »Es ist mir eine Ehre. Ihr seid die Besten. Lasst euch von niemandem etwas anderes einreden.«
Der Größte der Bande (Dango, glaubte Bruder Qaun) schnaubte. »Ach, Kalazan, spar dir die Worte. Wir sind nicht mal verheiratet.«
Kalazan lächelte ihn traurig an. »In meinem nächsten Leben vielleicht. Ich glaube, heute Nacht teile ich das Bett erst mal mit der Bleichen Herrin, nicht mit dir.« Sein Blick wanderte weiter zu Gan, der jungen Frau mit dem Laevos, und sein Lächeln wurde noch trauriger.
Dorna wandte sich an Janel, die die Szene mit undurchdringlicher Miene beobachtete. Ein unbehaglicher Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Könnten wir nicht …?«
»Geht weiter, verflucht«, bellte Hauptmann Dedreugh.
»Für Grabreden ist es noch zu früh, Kalazan«, warf Ninavis ein. »Wir sind hier noch nicht fertig.«
»Aber bald«, blaffte Dedreugh. »Und jetzt bewegt euch, sonst bekommt ihr mein Schwert zu spüren.«
»Gehen wir weiter«, schlug der Graf vor.
Das taten sie.
Bruder Qaun hatte sich das Schloss von Mereina behaglich vorgestellt, immerhin residierte der hiesige Baron hier. Jetzt bemerkte er seinen Irrtum. Die Mauern waren einst zum Schutz errichtet worden – auch wenn sie jetzt, zu Zeiten moderner Belagerungszauber, nutzlos waren –, nicht um für Behaglichkeit zu sorgen. Das Bauwerk wirkte muffig, kalt und eng. Während der regnerischen Sommer war es vermutlich muffig, heiß und eng, und somit zu keiner Jahreszeit ein angenehmer Ort zum Leben. Die Azhock-Zelte draußen schienen Qaun als Wohnstatt weit geeigneter.
Er sehnte sich nach einem Wärmezauber von einem der Roten Männer des Hauses D’Talus, doch so misstrauisch wie die Einheimischen gegenüber Magie waren, glaubte er kaum, dass er hier einen finden würde.
Das Schloss mochte nicht behaglich wirken, verfügte aber über hübsche Konsolen aus Zypressen- und Tungholz mit Pferdemotiven darauf, die bröckeligen Mauern waren hinter verblassten Bannern versteckt. Auf den Schirmen der Leuchter prangten Sonnenmuster, die farbige Schatten auf den gefliesten Boden warfen. Das Schloss hatte seine militärische
Vergangenheit allerdings nicht allzu weit hinter sich gelassen, denn eine große Zahl bewaffneter Männer und Frauen lagerte im Innenhof, während ihre Pferde in einem matschigen Pferch umherliefen.
Der Tross mit den Gefangenen machte am Tor halt, und Dedreugh schickte einen Boten zum Baron.
»Alles Vorbereitungen für das Turnier«, erklärte er Janel. Er schien sich vorgenommen zu haben, den Grafen zu beeindrucken, denn auf dem Weg nach Mereina hatte sich sein Benehmen von streitlustig zu kriecherisch gewandelt.
»Verstehe«, erwiderte sie.
Dedreugh grinste, ein Strahlen trat in seine Augen. »Ich werde daran teilnehmen.«
Sie schaute ihn von der Seite an. »Wie schön für dich.«
»Und ich werde gewinnen«, fügte er hinzu.
Die Art, wie Graf Janel ihren Kiefer bewegte, legte nahe, dass sie mit den Zähnen knirschte. Bruder Qaun achtete sorgsam auf Anzeichen eines bevorstehenden Wutausbruchs. Nicht dass er sie zurückhalten konnte. Er wollte lediglich wissen, ob er sich gleich in Sicherheit bringen musste.
Dedreugh beugte sich ganz nahe an den Grafen heran. »Ich gewinne immer.«
Diesmal schaute sie ihm in die Augen. »Sieht der Baron darin nicht einen gewissen Interessenskonflikt? Wer ist in der Zwischenzeit für die Gefangenen verantwortlich?«
Der Hauptmann richtete sich wieder auf und wollte gerade etwas zu seiner Verteidigung vorbringen, da flog die Eingangstür des Schlosses auf.
Der Baron von Barsine trat auf den Innenhof.
Er hatte sich mächtig herausgeputzt, weit mehr als der Graf es jemals tun würde. Mit seiner golden schimmernden Haut und dem fein geschnittenen Gesicht sah er trotzdem ganz anders aus, als der Priester ihn sich vorgestellt hatte. Außerdem war er jung.
Genauso jung wie der Graf.
»Tamin.« Janel lachte und breitete erfreut die Arme aus, während der Baron sie auf die traditionelle Art begrüßte: Stirn an Stirn, eine Hand auf den Nacken des Gegenübers gelegt. Janel hielt ihn so vorsichtig wie teures Porzellan. Ihre Berührung war so sanft, dass man sie leicht mit Schüchternheit verwechseln konnte. »Ich bringe ein
Geschenk für dein Feuer und guten Willen für deine Herde.«
»Und ich heiße dich als Gast auf meinen Feldern willkommen«, erwiderte er, wie es der Brauch war. »Mein Beileid wegen deines Großvaters«, sagte Tamin, nachdem sie wieder voneinander abgelassen hatten. Als er Janels überraschten Blick sah, fügte er hinzu: »Der Diener sagte, der Graf von Tolamer sei hier, und da dein Großvater nicht bei dir ist …«
»Er ist im Schlaf verschieden«, erwiderte Janel. »Das Herz.« Sie machte einen Schritt zurück. »Und du … Wo ist dein
Vater? Ich dachte, ich würde ihm hier begegnen …« Sie überlegte, stutzte offenbar und hielt schließlich inne.
»Er ist nicht im Schlaf gestorben«, sagte Tamin. »Aber gestorben ist er – von niederträchtigen Verschwörern ermordet. Der Burgvogt gehörte auch zu ihnen. Wie ich höre, habe ich dir dafür zu danken, dass du mir die letzten noch verbliebenen Attentäter auslieferst.« Der Baron blickte über Janels Schulter in Richtung der Banditen.
Eigentlich hätte Bruder Qaun nicht überrascht sein sollen von dem, was als Nächstes geschah. Der Baron von Barsine ging am Grafen vorbei zu den Gefangenen, blieb vor Kalazan stehen und ohrfeigte ihn.
Kalazan grinste. »Ich bin ebenso erfreut, Euch wiederzusehen, Baron.« In einem unglaublichen Affront ließ Kalazan die übliche Respektsbekundung einfach weg und sagte lediglich Baron, statt mein
Baron.
Bruder Qaun mochte Karo, die altjoratische Hofsprache, nicht fließend beherrschen, dennoch verstand er: Durch Weglassen eines einzigen Wortes verneinte Kalazan Tamins Herrschaftsanspruch, erklärte ihn gar des Herrschens für unwürdig. Das allein war eine tödliche Beleidigung. Zusätzlich kamen die Worte aus dem Mund eines angeklagten Verschwörers und Mörders.
»Soll ich dich jetzt in den Kerker werfen lassen, damit deine Freunde dich wieder befreien können?«, fragte Tamin. Ohne auf eine Antwort zu warten, winkte er Dedreugh heran und sagte: »Töte ihn.«
»Nein!«, schrie Gan und stürzte vor. Es geschah so schnell und unerwartet, dass die Soldaten zu spät reagierten. Das Seil, mit dem die Banditen an den Handgelenken aneinandergefesselt waren, spannte sich. Vidan, der der Nächste in der Reihe war, verlor das Gleichgewicht
und riss seinen Nachbarn Jem von den Beinen. Direkt neben Jem stand Kalazan, das Seil spannte sich noch weiter …
Und löste sich von Kalazans Handgelenken.
Die Soldaten mochten nicht damit gerechnet haben, Kalazan schon. Er griff nach dem Schwert am Gürtel seines Bewachers, riss es aus der Scheide und schlitzte ihm im Herausziehen die Seite auf. Der Soldat, der gleich neben den beiden stand, wollte eingreifen, da trat ihm Ninavis von Arasgons Rücken aus gegen das Kinn. Arasgon stieg, Ninavis rutschte ab und fiel mit einem Schmerzensschrei auf ihr gebrochenes Bein.
Unterdessen packte Kalazan Graf Janel und hielt ihr sein Schwert an die Kehle.
»Halt!«, rief Tamin. »Haltet ein, alle!«
Stille senkte sich über den Schlosshof. Alle Augen waren auf Kalazans Geisel gerichtet.
Bruder Qaun hörte, wie Kalazan Janel zuflüsterte: »Verzeiht, mein Graf.«
Diesmal benutzte der Bandit die korrekte Anrede. Mein
Graf. Mein Gebieter.
»Lass sie los«, befahl Baron Tamin.
Kalazan lächelte nur, drückte das Schwert noch fester gegen Janels Kehle und bewegte sich rückwärts auf das offen stehende Tor zu.
Janel sagte nichts. Ihr Kiefer war zusammengepresst, die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Bruder Qaun erkannte die Vorzeichen – aber Kalazan anscheinend nicht, dabei hatte er den Kampf zwischen Ninavis und Janel mit eigenen Augen bezeugt. Wusste er nicht, was passieren würde, wenn sie sich wehrte?
»Lass sie los«, wiederholte Tamin.
»Noch nicht«, sagte Kalazan. »Ich weiß, es ist unhöflich, aber Eure Begrüßung war so kaltherzig, dass mir kaum etwas anderes übrig bleibt, als Eure Gastfreundschaft abzulehnen.« Er bewegte sich weiter Richtung Tor.
»Wie du meinst«, erwiderte Tamin.
Kalazan grinste.
»Schießt durch sie hindurch«, befahl er seinen Soldaten.
Alle schauten ihn ungläubig an.
Alle außer Dedreugh und seinen Soldaten, die den Befehl befolgten.
Im nächsten Moment geschah vieles.
Kalazan stieß Janel von sich weg. Arasgon stellte sich schützend vor sie. Armbrustsehnen schwirrten, ein Bolzen schlug gegen Arasgons Sattel, der andere verfehlte ihn um Fingerbreite. Die restlichen Armbrustschützen versuchten es erst gar nicht mehr, denn Arasgon stand vor Janel wie eine Mauer.
Kalazan rannte.
Er ließ das Tor links liegen und verschwand genau in dem Moment, als die Schützen auf ihn anlegten, durch eine Seitentür.
»Ihm nach!«, brüllte Dedreugh. »Ihm nach!«
Die Soldaten gehorchten augenblicklich, nur ein paar blieben zurück und behielten die Gefangenen im Auge.
Dedreugh schritt auf den Mann zu, der sein Schwert an Kalazan eingebüßt hatte. Er packte ihn am Kragen, hob ihn vom Boden und schüttelte ihn. »Narr! Bring diesen Abschaum in den Kerker. Und wenn diesmal wieder etwas schiefgeht, dann schwöre ich, wird dich das gleiche Schicksal ereilen wie sie!«
Bruder Qaun lief zu Ninavis. Sie war bewusstlos, was ihn nicht überraschte. Der Schmerz, als sie auf ihr gebrochenes Bein gefallen war, musste entsetzlich gewesen sein.
Aber sie war am Leben.
Während Bruder Qaun sich um Ninavis kümmerte, hörte er, wie eine kurze Diskussion entbrannte.
»Was ist mit der hier?«, fragte einer der Soldaten.
»Sie ist eine Saelen«, antwortete der Baron. »Wenn sie sich mit Diebespack abgeben will, soll sie das tun. Sperrt ›Lady‹ Ganar zusammen mit den anderen ein.«
Saelen
. Bruder Qaun dachte an seinen Karo-Unterricht.
Verloren oder auf Abwege geraten
. Eine schlimme Beleidigung nach joratischen Maßstäben, beinahe so schlimm wie Thorra, nur dass man den Beschimpften zusätzlich als kleines Kind hinstellte, das nicht wusste, was gut für es war.
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Bruder Qauns Herz machte einen Satz, denn einen Moment lang hatte er geglaubt, es ginge um den Grafen. Nein. Tamin hatte von Gan gesprochen, der Müllerstochter, die weiter an ihren Fesseln zerrte und mit knirschenden Zähnen versuchte, den Baron zu packen zu bekommen. Hätte das Seil sie nicht zurückgehalten, wäre sein Gesicht jetzt bestimmt nicht mehr so hübsch.
Tamin wandte sich an den Grafen. »Bitte entschuldige den unangenehmen Zwischenfall.«
Janel hob eine Augenbraue. »Du hast deinen Soldaten befohlen, durch mich hindurchzuschießen.«
»Meine Männer sind die besten Schützen in ganz Jorat«, beschwichtigte er. »Du warst nicht eine Sekunde lang in Gefahr.« Er deutete auf den Eingang zum Schloss. »Wollen wir? Ich lasse dein Gastgeschenk in die Küche bringen, wo es für die Abendmahlzeit zubereitet wird.«
Zwei Soldaten kamen heran und hoben Ninavis vom Boden auf.
»Seid vorsichtig, sie hat ein gebrochenes Bein«, warnte Bruder Qaun. »Ich komme mit und werde mich um sie kümmern.«
Die beiden schenkten dem Priester keinerlei Beachtung.
»Was passiert eigentlich mit den anderen Saelen?«, fragte Janel betont beiläufig, als erkundigte sie sich nur danach, weil es sich eben so gehörte. Als sie Bruder Qauns fragenden Blick sah, winkte sie ab, als wollte sie ihm sagen: Lass, ich kümmere mich darum.
»Ach, das Übliche. Sie bekommen ihre Belohnung nach dem Turnier«, antwortete Tamin. »Kalazans Schicksal ist jetzt schon besiegelt. Wir werden ihn bald wieder eingefangen haben.«
Ein Schrei zerriss die Luft.
Bruder Qaun hielt ihn für das Zeichen, dass genau das in diesem Moment passiert war, da hörte er Gan laut loslachen, und der immer noch gefesselte Dango grinste.
»Das war Kalazan«, kommentierte Janel. »Kennt er sich im Schloss aus?«
Die Miene des Barons verfinsterte sich. »Er ist der Sohn des Vogts.«
»Ah.«
Der Baron winkte Dedreugh heran. »Finde und töte ihn. Ich möchte nicht, dass er den nächsten Sonnenaufgang erlebt, verstanden? Und dann bringe in Erfahrung, welcher Trottel Kalazan gefesselt hat, und lasse ihn auspeitschen.«
Bruder Qaun hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet, um niemanden zu verraten. Erst nachdem Hauptmann Dedreugh sich mit einer Handvoll Männer auf die Suche nach dem Flüchtigen gemacht hatte, gestattete er sich wieder aufzublicken und starrte die Person an, die Kalazan gefesselt hatte.
Stute Dorna summte lächelnd ein kleines Liedchen vor sich hin.
Bruder Qaun folgte den Soldaten, die die Gefangenen ins Schloss brachten, und blieb stehen, als ein großgewachsener Kerl mit grauer Haut und schwarzen Flecken um die
Augen sich zu ihm umdrehte.
»Was tust du hier?«, fuhr der Soldat ihn an.
Bruder Qaun deutete auf die Gefesselten. »Ich muss sie behandeln.«
»Sie müssen nicht behandelt werden«, knurrte sein Gegenüber.
Bruder Qaun schüttelte lächelnd den Kopf. »Der Graf hat mir den ausdrücklichen Befehl erteilt, mich um ihr Wohlergehen zu kümmern.«
Und es euch schwer zu machen. Bruder Qaun hatte die Blicke gesehen, die Dedreughs Männer auf dem Weg hierher immer wieder ausgetauscht hatten. Sobald sie die Gefangenen für sich allein hätten, wären diese ein leichtes Opfer für jede nur erdenkliche Misshandlung.
Dass das gegen joratische Sitte verstieß, änderte nichts daran.
»Dann sieh morgen nach ihnen«, brummte der Soldat.
»Und was ist mit der Blutkrankheit?«, fragte Bruder Qaun.
Alle – Gefangene genauso wie Bewacher – blieben stehen.
»Was hast du gesagt?«, fragte einer der Männer.
»Die Falesinische Blutkrankheit«, wiederholte Bruder Qaun. »Sie ist nicht sonderlich ansteckend. Infizierte müssen nicht unter Quarantäne gestellt werden oder dergleichen, aber durch Blut und andere Flüssigkeiten kann sie übertragen werden.« Er räusperte sich. »Durch Hautkontakt, meine ich. Diese Banditen zeigen eindeutige Symptome. Eigentlich hatte ich vor, sie gleich nach unserer Ankunft zu behandeln, aber dann kam es zu diesem Zwischenfall …«
Der Soldat blinzelte ihn an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Was redest du für einen Unsinn? Diese Leute sind nicht krank.« Er winkte abfällig in Richtung der Gefangenen.
Bruder Qaun deutete mit dem Zeigefinger auf Dango.
Der Hüne stand mit auf dem Rücken gefesselten Händen da und schaute ihn stirnrunzelnd an. Wenigstens hatte keiner der Banditen seiner Geschichte widersprochen, was Bruder Qauns größte Sorge gewesen war.
Hellrotes Blut tropfte aus Dangos Nase.
Dango musste gar nicht so tun, als geriete er in Panik, denn seine Panik war echt. Bruder Qaun hoffte nur, dass der Bandit klug genug war, sich nicht davon überwältigen zu lassen.
Der Hüne rümpfte die Nase, als müsste er ein Niesen unterdrücken. »Es fängt wieder an, Priester.«
»Ja«, sagte Bruder Qaun. »Aber zum Glück blutest du noch nicht aus den Augen.«
Die Soldaten machten einen Schritt zurück.
Bruder Qaun breitete die Hände aus. »Keine Sorge. Solange ihr sie nicht anfasst, seid ihr nicht in Gefahr.«
Einer der Männer zog sein Schwert.
»Was zum Teufel soll das?«, bellte der Anführer.
»Sie sind krank …«
»Halt den Mund und bring sie nach unten. Zieh deine Handschuhe an, wenn es sein muss. Der Hauptmann will sie lebend, verstanden? Tot nützen sie uns nichts.« Er wandte sich wieder an den Priester. »Sie werden doch nicht daran sterben, oder?«
»Aber nein. Die Krankheit ist heilbar.« Er schüttelte seinen Beutel. »Ich muss nur einen Kräuteraufguss zubereiten. In ein paar Tagen sind sie wieder gesund.«
»Das müssen sie gar nicht sein. Solange sie sich morgen auf den Beinen halten können, genügt das vollkommen.« Er bedeutete seinen Männern, die Gefangenen nach unten zu bringen. Bruder Qaun ging davon aus, dass die Treppe ins Verlies führte. Die Soldaten warfen den Gefangenen nun immerhin keine hungrigen Blicke mehr zu; die meisten kehrten zurück auf den Innenhof.
Diesmal regte niemand sich mehr auf, weil Bruder Qaun den Gefangenen ins Verlies folgte. Der Gerechtigkeit halber sei vermerkt, dass es sich eher um eine Art Weinkeller handelte, einen dunklen, kühlen Ort, an dem der Küchenmeister die besten Flaschen seines Herrn aufbewahrte. Falls dies einmal die Funktion des Kellers gewesen sein sollte, waren die Weine bereits getrunken, nur ein paar Kistenstapel deuteten an, dass das Gewölbe immer noch als Lager genutzt wurde.
Bruder Qaun konnte sich nicht vorstellen, längere Zeit hier unten zu verbringen. Für Menschen waren diese Räume definitiv nicht geeignet. Er war nicht sicher, ob er das als gutes Zeichen nehmen sollte oder als schlechtes.
Die Soldaten schnitten die Gefangenen los und ersetzten ihre Fesseln durch Ketten, die mit Eisenringen an der Wand befestigt waren. In der Ecke sah Bruder Qaun eine Brunnenpumpe sowie einen Eimer, den er mit Wasser füllte, während dem Großteil der
Soldaten wieder einfiel, dass sie eigentlich nach Kalazan suchen mussten. Dann machte er sich daran, die Kräuter auf eine Weise in das Wasser zu geben, die Leute, die nichts von Medizin verstanden, für einen Aufguss halten würden.
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Einer der Soldaten setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür, die von außen verriegelt wurde. Ein paar seiner Kollegen bezogen im Vorraum Stellung.
Bruder Qaun ging mit seinem Eimer zu den Gefangenen und gab ihnen zu trinken.
»Wie hast du das gemacht?«, flüsterte Dango und rieb sich die Nase.
Bruder Qaun wischte ihm das Blut vom Gesicht. »Zunftgeheimnis. Wir sollten an diesem Ort nicht darüber reden.«
Dango nickte. »Danke. Einer von denen hätte bestimmt etwas versucht, und dann wären Köpfe gerollt.«
Bruder Qaun hielt inne und überlegte. Er glaubte nicht, dass Dangos Worte im übertragenen Sinn gemeint waren – Joratinnen waren nicht ohne Grund berüchtigt. »Der Graf wird dafür sorgen, dass nichts dergleichen geschieht«, erwiderte er.
Er ging weiter, gab dem Nächsten zu trinken und tat so, als würde er eine Krankheit behandeln, die niemand hatte. Kay Hará wirkte so verängstigt, als hätte sie die Geschichte mit der Blutkrankheit tatsächlich geglaubt oder als wäre sie ursprünglich Schauspielerin gewesen. Jem Nakijan schaute den Priester nicht einmal an. Vidan bat ihn, statt seiner Gan zu behandeln, und reagierte äußerst verärgert, als Qaun sich nicht abwimmeln ließ. Gerber sagte nichts, aber sein Blick wurde etwas weniger mörderisch, als Qaun ihm Wasser gab. Die Soldaten hatten Gerber zwar durchsucht, aber nicht gründlich genug, wie Qaun vermutete. Es mochte nur seine Einbildung sein, aber dieser Gerber kam ihm vor wie jemand, der immer irgendwo ein Messer bei sich trug.
Ninavis behandelte Bruder Qaun am längsten. Bei ihrem Sturz von Arasgons Rücken hatte sie das Bewusstsein verloren, was ihm endlich die Gelegenheit gab, ihren Bruch wieder zu richten. Er hätte gerne mehr getan, doch er spürte, dass der Soldat ihn von seinem Stuhl aus genau beobachtete, und wollte nicht riskieren, beim Zaubern erwischt zu werden. Das gebrochene Bein hatten ohnehin alle gesehen – Qaun hätte der Anführerin keinen Gefallen getan, wenn es am Morgen wieder heil gewesen wäre.
Nachdem der Priester alle behandelt hatte, ging er, um mit Graf Janel die Lage zu besprechen.