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Ein joratisches Turnier
Jorat, Quurisches Reich.
Zwei Tage nach Kihrin D’Mons Rückkehr unter die Lebenden
»Mir gefällt deine Beschreibung, wie es ist, hinter den Ersten Schleier zu blicken«, sagte Kihrin zu Bruder Qaun. »Lernen das alle Schüler der Vishai-Mysterien? Ich meine, mit Religion kenne ich mich nicht sonderlich gut aus. Ich kannte religiöse Leute, aber die würde ich nicht gerade als Priester bezeichnen. Was du da gemacht hast, klingt für mich schlichtweg nach Zauberei, wo liegt also der Unterschied?« Kihrin blickte sich ein wenig beschämt um, als er merkte, dass er sich hätte vergewissern sollen, dass niemand zuhörte, während er solche Lästerungen äußerte.
»Ich weiß auch nicht viel über Religionen«, gestand Bruder Qaun. »Ich vermute, dabei dreht sich alles um Gebete und Opfergaben, für die man sich Gefälligkeiten verspricht. Aber so funktionieren die Mysterien nicht. Unser Gott ist nämlich tot.«
Kihrin hustete. »Wie bitte, euer Gott ist tot?« Butterbauch hatte immer von Licht und einem Tempel am Regenbogensee gesprochen. Nie davon, dass er eine tote
Gottheit verehrte.
Janel machte Anstalten, etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders.
Bruder Qaun lächelte. »Wir folgen Selanols Lehren. Wir versuchen, sein Licht in der Welt zu verbreiten und die Menschen vor den Dämonen zu beschützen, die ihn im Kampf getötet haben.«
»Selanol? Nie von ihm gehört«, erwiderte Kihrin.
»Er ist der achte der Acht Unsterblichen. Wir haben uns seinem Vermächtnis verschrieben und hoffen, so die Erleuchtung zu erfahren und an andere weiterzugeben. Doch da unser Gott tot ist, kann er auch nicht auf Gebete antworten. Also müssen wir uns auf unsere eigenen magischen Gaben verlassen.« Qaun überlegte. »Ich habe eher unorthodoxe Ansichten, was Magie anbelangt.«
Kihrin lehnte sich staunend zurück. »Wow.« Der Name mochte ein anderer sein, aber es gab nur einen »freien« Platz unter den Acht, nur einen, den man als »tot« bezeichnen
könnte – auch wenn jede Region ihren eigenen Kandidaten für diesen freien Platz hatte. Kihrin war in dem Glauben aufgewachsen, Grizzst der Verrückte, der die Dämonen gebändigt hatte, sei der achte Gott. Wie alle anderen hatte auch diese Version sich als falsch erwiesen.
In Wirklichkeit war der Name des achten Wächters S’arric gewesen, nicht Selanol. Sollte Qaun tatsächlich S’arric meinen, wäre er wahrscheinlich entsetzt zu erfahren, was in Wahrheit mit dem sogenannten Gott der Sonne und der Sterne passiert war. Kihrin war es jedenfalls. »Und deshalb wurde eure Religion verboten?«
»Aber nein. Sie wurde verboten, weil Götter nach unserer Lehre nur gewöhnliche Sterbliche sind, die durch ihre Beherrschung der Magie große Macht erlangten. Sterbliche sollten nicht angebetet werden.«
Kihrin fixierte den Priester. »Hmm. Ich kann mir denken, dass das einigen Leuten gegen den Strich geht.« Er setzte sich anders hin, den Blick immer noch auf Bruder Qaun geheftet. Der Priester hatte natürlich recht. Ursprünglich waren die Acht keine Götter gewesen, sondern Kämpfer, deren Aufgabe es war, die Welt vor den einfallenden Dämonen zu beschützen. Aber S’arric war nicht im Kampf gegen sie gestorben. Er war ermordet worden, verraten. Dennoch konnte Kihrin sich gut vorstellen, wie die Erzählung sich nach und nach so verändert hatte, als wäre er tatsächlich im Kampf gefallen, und wie der Name des angeblichen Gottes sich nach und nach von Solan’arric zu Selanol gewandelt hatte.
Kihrin hoffte nur, die Vishai glaubten nicht, dass Selanol irgendwann zurückkehren würde, um die Welt doch noch zu retten – aber überrascht hätte ihn das nicht. Er schaute zu Janel hinüber. Sie hatte eine ausdruckslose Miene aufgesetzt und wirkte, als müsste sie unter dem Tisch die Fäuste ballen, um sich nicht in das Gespräch einzumischen.
Kihrin hatte das Gefühl, dass Götter ihr wunder Punkt waren.
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Um das Thema zu wechseln, sagte er: »Ich bin neugierig, Janel. Hat Baron Tamin dir seine Pläne einfach so verraten?«
Sie lächelte wehmütig. »Ja, hat er. Mehr oder weniger.«
Janels Schilderung. Auf dem Turnierplatz von Mereina, Provinz Barsine, Jorat, Quur.
Nur wenige Fremde verstehen, welch wichtige Rolle Turniere in Jorat spielen. Die teilnehmenden Ritter sind Helden. In anderen Herrschaftsgebieten des Kaiserreichs können nur Adlige Ritter werden, wenn es überhaupt einen Ritterstand gibt. Sie sind sozusagen der bewaffnete Arm der Aristokratie. In Jorat kommen wir ohne dieses Beiwerk aus. Unsere Ritter sind unsere besten Reiter, Athleten und Schwertkämpfer, dazu ausgebildet und dafür bezahlt, auf dem Feld der Ehre die Interessen ihres Herrn zu vertreten. Jeder kann Ritter werden.
Jeder außer
den herrschenden Adligen.
Ist es dann eine Überraschung, dass wir unsere Ritter so sehr verehren? Sie sitzen auf einem Thron, den jeder besteigen kann, der wagemutig, tapfer und stark genug ist, sich auf dem Feld zu messen, und das vollkommen unabhängig von seiner Geburt. Ritter sind Recken, die Adlige, Kaufleute und Städte repräsentieren, aber sie stammen aus dem gewöhnlichen Volk. Das Publikum, das der Zurschaustellung ihrer Fähigkeiten beiwohnt, lässt sich am besten folgendermaßen beschreiben: jede Stute, jeder Hengst und jeder Wallach, der es irgend möglich machen kann zu kommen.
Die Turniere sind das Herz des joratischen Gesellschaftslebens.
Weshalb ich auch nicht lange brauchte, um zu merken, wie krank Barsines Herz inzwischen war.
Nachdem ich Stute Dorna, Bruder Qaun und Ninavis verlassen hatte, ging ich zur Tribüne auf dem Turnierplatz. Sie war nur spärlich besetzt. Die wenigen Fahnen, die müde geschwenkt wurden, zeigten die Wappen der joratischen Händlervereinigungen, deren Mitglieder erst am Morgen aus allen Landesteilen eingetroffen waren, um hier ihre Geschäfte zu machen. An den Seiten standen die Ritter aufgereiht, die noch am Vortag den Innenhof des Schlosses bevölkert hatten. Ihre demoralisierte und angespannte Körpersprache zeugte davon, dass sie kein großes Interesse an den bevorstehenden Wettkämpfen hatten. Sie waren hier, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die allgemeine Stimmung schien eher zu einer Beerdigung als zu einem Turnier zu passen.
Der spürbare Widerwille gegen das Turnier beunruhigte mich, doch es waren die zwei dicken, direkt vor der Tribüne in den Boden gerammten Holzpfähle, die meinen Laevos zu Berge stehen ließen. An den Pfählen waren Ketten befestigt, darunter lagen Reisig und Stroh aufgehäuft. In das Holz waren Schriftzeichen geschnitzt, und die versengte
Erde um die Pfähle herum ließ keinen Zweifel daran, dass hier schon mehr als einmal ein Feuer gebrannt hatte.
Neben den beiden Scheiterhaufen standen zwei große, mit Öltuch abgedeckte Käfige. Ich musste nicht erst nachsehen, um zu wissen, wer sich darin befand und warum die Soldaten gesagt hatten, eine gerade Anzahl sei ohnehin besser.
Ich hatte Ninavis’ Begleiter gefunden.
»Habe ich etwas Spannendes verpasst?«, fragte ich, bemüht, meinen Zorn zu verbergen, als ich die Loge des Barons betrat. Die Auftakt-Beschwörung, jene Zeremonie, mit der jedes Turnier den Acht gewidmet wurde, hatte ich bereits versäumt, wahrscheinlich auch die ersten Wettkämpfe, aber hoffentlich nichts Wichtiges.
Tamin hielt mitten im Trinken inne. »Janel! Ich habe schon befürchtet, du wärst krank geworden.« Er kam grinsend zu mir, legte mir eine Hand auf den Nacken und die Stirn an die meine.
Oder versuchte es zumindest.
»Geht es dir auch gut?« Er richtete sich wieder auf.
Als Ersatz für die Begrüßung, die ich ihm verwehrt hatte, berührte ich seine Hand. »Es war eine anstrengende Reise.«
Tamin schluckte und wirkte zum ersten Mal seit meiner Ankunft verunsichert. Er deutete auf den Mann neben ihm. »Graf Janel, das ist Verweser Lorat, einer meiner Gefolgsmänner.« Er stellte mir einen ältlichen Mann vor, dessen Lebensspanne sich offensichtlich dem Ende zuneigte. Er war zu schwach, um sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten. Zu schwach für einen Verweser, aber ich hielt den Mund.
Verweser Lorat hielt inne. Er war gerade damit beschäftigt gewesen, einem kleinen Rothundwelpen Fleischstückchen zuzuwerfen, was ihn weit mehr zu interessieren schien als das Turnier.
»Verweser.« Ich nickte ihm zu.
Der Greis erwiderte etwas Unverständliches. Eine Dienerin eilte herbei und hielt ihr Ohr an seine Lippen, während er weiter vor sich hin murmelte. Der Welpe leckte inzwischen seine Finger ab.
Die Dienerin richtete sich wieder auf und wandte sich mir zu. Ihre Färbung war bemerkenswert: graue Augen, die Haut weiß wie Milch bis auf die Adern, die sich in sanften Blau- und Violetttönen darunter abzeichneten. Ich hätte sie für eine Stute aus dem eisigen Yor gehalten, aber ihr Gesicht passte nicht dazu: zu lang, mit schmalen Lippen und
einer geraden Nase, statt einer kleinen yorischen Nase und dem typischen Schmollmund.
»Der Verweser grüßt Euch.« Ihr Akzent sagte mir, dass sie viel Zeit im Westen verbracht hatte.
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»Er bittet um Verzeihung, dass er nicht direkt mit Euch sprechen kann, aber das Rote Fieber lähmt seine Zunge.«
»Selbstverständlich«, sagte ich zu dem Greis. »Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen.« Ich lächelte seiner Pflegerin zu. »Danke für deine Übersetzung.«
Der Blick ihrer grauen Augen verweilte auf meinem Gesicht. Sie nickte, dann konzentrierte sie sich wieder auf Verweser Lorat.
Ich hatte das Gefühl, dass das Gespräch damit beendet war.
»Und dies ist mein geschätzter Lehrer Relos Var«, fuhr Tamin fort. Er deutete auf die letzte Person, die er noch nicht vorgestellt hatte. »Ich habe schon befürchtet, ihr würdet euch vor seinem Aufbruch gar nicht mehr begegnen.« Tamin seufzte. »Kann ich gar nichts tun, um Euch zum Bleiben zu überreden?«
In diesem Moment fiel mir wieder ein, was Ninavis gesagt hatte. Kalazan hatte mitgehört, wie Tamin mit seinem Lehrer über eine Prophezeiung sprach …
Der Mann war augenscheinlich quurischer Abstammung und kleidete sich bescheiden, wie es für einen Diener angemessen war. Sein Haar trug er kurz geschnitten, das Gesicht war glattrasiert, und seine Stiefel waren zum Reiten und Reisen gemacht.
Er musterte mich. Als unsere Blicke sich begegneten, lächelte er.
Ich merke es, wenn jemand mir begehrliche Blicke zuwirft. Ich bekam sie von Männern wie Frauen, und das schon seit Zeiten, als ich noch viel zu jung dafür war. Doch Relos Vars Blick war anders.
»Janel Danorak«, sagte er mit einem erfreuten Lächeln. »Die einzige Überlebende des Lonezh-Höllenmarschs.«
»Janel Theranon, Graf von Tolamer«, korrigierte ich ihn. »Außerdem haben viele den letzten Höllenmarsch überlebt, sonst würden wir dieses Gespräch gar nicht führen.«
Relos Var lachte leise und senkte den Kopf auf eine Art, die eine arglose Person als Verbeugung interpretiert hätte. »Wie dem auch sei, Euer Ruf eilt Euch voraus.« Er machte eine ebenso gespielte Verbeugung in Richtung des Barons. »Verzeiht, ich bedaure zutiefst, Euch verlassen zu müssen, doch erhielt ich Nachricht, dass ein Verwandter in Schwierigkeiten geraten ist. Ich muss unverzüglich
zurückkehren und nach ihm sehen.«
»Was für Schwierigkeiten?«, erkundigte ich mich.
Ich stellte die Frage nur, weil Var eine weitere seltsame Figur in einem ohnehin schon seltsamen Spiel war. Zu viele Ausländer, zu viele offene Fragen, zu viele Abweichungen davon, wie Turniere normalerweise abliefen. Und dann noch das ständige Gerede von dieser Prophezeiung. War Relos Var derjenige, der mit Tamin über das »besessene Kind« gesprochen hatte?
Etwas stimmte nicht mit ihm …
Ich bin bis heute nicht sicher, was ihn verriet. Vielleicht wollte
er, dass ich auf ihn aufmerksam wurde.
In seinen Augen stand ein unerschütterliches Selbstvertrauen. Tamin hatte ihn nicht als Mitglied des Adels oder Hochadels vorgestellt – eigentlich sollte er Thudajé ausstrahlen wie die Dienerin des Verwesers, aber das tat er nicht.
Tatsächlich verfügte Var über ein so stark ausgeprägtes Idorrá, dass ich mich fragte, warum die anderen nicht vor ihm niederknieten.
Er ließ sich eine Weile Zeit mit seiner Antwort. »Mein jüngerer Bruder soll in Kishna-Farriga versteigert werden.« Var stieß ein bitteres Lachen aus. »Er hat ein Talent, in Schwierigkeiten zu geraten und alle um ihn herum mit hineinzuziehen.«
»Er soll als Sklave verkauft werden? Das klingt in der Tat ernst. Ich wünsche Euch eine gute Reise.« Oh, wie ich mittlerweile wünsche, ich hätte ihm all die Fragen gestellt, die seine Antwort in mir aufwarf. Wo lag Kishna-Farriga? Wie hatte er vor, rechtzeitig dort anzukommen, wenn der Baron doch einen zu niedrigen Rang bekleidete, um über einen eigenen Torwächter zu verfügen? Hatte er eine Abmachung mit den Torwächtern, oder war er selbst einer?
»Danke, Graf«, erwiderte Var. Diesmal verneigte er sich angemessen. Sein warmes Lächeln überraschte mich. »Was für ein unglücklicher Zeitpunkt. Ich hoffe, wir sehen uns wieder, wenn ich Euch meine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen kann.«
Er schien es ernst zu meinen. Sein Blick war freundlich, und doch kamen mir seine Worte vor wie eine Drohung. Ich spürte ein Schaudern, begleitet von der Gewissheit, dass es mir bestimmt nicht gefallen würde, wenn Relos Var mir seine »ungeteilte Aufmerksamkeit« widmete.
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»Ich auch«, erwiderte ich.
Er ging, und die Menge begann in angespannter Erwartung mit den Füßen zu trampeln. Ich nahm seinen freigewordenen Platz ein und versuchte, so zu tun, als wäre auch ich gespannt auf das Turnier. Was meine Aufmerksamkeit jedoch tatsächlich in Bann hielt, waren die beiden Holzpfähle. Var hatte mich einen Moment lang von ihnen abgelenkt, doch der wahre Grund, warum ich hier war, befand sich direkt vor der Tribüne.
»Sir Xia Nilos«, sagte Tamin und holte meine Gedanken zum Turnier zurück. Er deutete auf eine Ritterin mit einem prächtigen fliegenden Adler auf dem Helm und einem grauweißen Perlenmantel. Sie ritt auf einer wunderschönen grauen Schecke mit farblich passenden Schleifen in der Mähne. »Sie repräsentiert das Sieben-Reisen-Handelskonsortium und tritt gegen meinen Recken Sir Dedreugh an.« Er musste mir ihren Gegner nicht erst zeigen. Dedreugh war ganz in Gold und Bronze gekleidet, gelbe und braune Bänder flatterten an seiner Rüstung. Er ritt vor der Tribüne auf und ab und schleuderte seiner Gegnerin Drohungen entgegen.
Die Begeisterung der Zuschauer wirkte unnatürlich und gezwungen. Mit seiner Aufmachung sollte Dedreugh vermutlich wie ein Tiger aussehen, aber sein Gehabe wirkte vollkommen übertrieben. Ich hatte erwartet, aufrichtige Bewunderer im Publikum zu sehen, die seine Farben trugen und sein Wappen schwenkten, doch die Einheimischen bejubelten ihn ganz offensichtlich nur, weil sie mussten.
Und die Fremden jubelten ihm aus demselben Grund zu, aus dem sie auch jeden anderen Ritter angefeuert hätten: weil sie ihr Geld auf ihn gesetzt hatten.
»Dein Hauptmann sagte mir, dass er das Turnier immer gewinnt, und damit auch die als Preis ausgesetzten Saelen. Sehen die Kampfrichter darin nicht einen gewissen Interessenskonflikt?«
Tamins Miene wurde säuerlich, dann lachte er und deutete auf den tatterigen Lorat. »Das hier ist mein Kampfrichter.«
Meine Augen wurden groß.
»Ich weiß«, beschwichtigte Tamin. »Aber was soll ich denn tun? Nach dem harten Winter weigern sich die anderen Verweser zu kommen. Ich kann schlecht selbst als Kampfrichter auftreten, und das hier ist der Einzige, den ich habe. Alle anderen haben mich im Stich gelassen.«
»Gibt es keine Hohen Stuten …?«
»Verweser Dokmars Tochter ist dort unten in einem der Käfige«, blaffte Tamin. »Sie ist eine Hure und Mörderin, die sich mit Hexen und Attentätern eingelassen hat. Soll ich ihr etwa das Kampfgericht anvertrauen?«
Ich erschauerte und fragte mich, ob Verweser Dokmar ahnte, dass seine Tochter gerade auf ihre Hinrichtung wegen Verrats wartete.
Tamin ergriff meine Hand. Wäre ich eine andere, hätte ich gesagt, er drückte viel zu fest zu.
»Dein Besuch«, begann der Baron, »ist das einzig Gute, das während der letzten Monate passiert ist, Janel. Deine Anwesenheit fühlt sich an wie ein Ausblick auf den Frühling.«
»Tamin«, erwiderte ich möglichst ruhig. »Wir haben
bereits Frühling.«
Einen Moment lang schaute er mich an, als hätte ich gerade gesagt, der Himmel sei grün und nicht blau oder die Magie im ganzen Land sei plötzlich legal.
Ehrlich gesagt sah er aus, als wäre er nicht ganz bei Sinnen.
Seine Erwiderung ging in einem lauten Scheppern unter. Wir wandten uns dem Turniergeschehen zu und sahen gerade noch, wie die beiden Ritter einander auf dem Pferd passierten. Xia Nilos, die den niedrigeren Idorrá-Rang besaß, hatte die Art des Wettkampfs ausgesucht, in diesem Fall den Wettstreit des Khored. Im Gegenzug durfte Dedreugh die Waffen bestimmen – das Hiebschwert, das rohe Kraft weit mehr begünstigte als Geschick. Eine unglückliche Wahl für Xia Nilos, wie ihre missliche Lage deutlich zeigte: Sie war vom Pferd gestürzt und versuchte, ihre verlorene Waffe wieder aufzusammeln. Vom Rand des Platzes kam ihr Knappe mit einem Ersatzschwert angelaufen.
Sir Xia Nilos konnte gerade noch rechtzeitig ihren Schild hochreißen, um einen mächtigen Schlag von Dedreugh abzuwehren. Sie hielt den Schild fest mit beiden Händen gepackt, taumelte rückwärts und versuchte hilflos, irgendwie zu ihrem Knappen zu kommen.
Ich bin sicher, unter anderen Umständen und gegen einen anderen Gegner hätte Sir Xia das auch geschafft. Aber nicht hier. Nicht gegen jemanden wie Dedreugh.
Ich schaute zu Verweser Lorat hinüber. »Sie ist geschlagen. Beendet es.«
Der Greis murmelte etwas.
»Lasst Sir Xia entscheiden, wann sie geschlagen ist«, gab die Dienerin seine Worte weiter.
Die Hiebe, die Dedreugh auf Xia hinabregnen ließ, sahen weniger nach einem Geschicklichkeitswettbewerb aus als nach dem Hämmern eines Schmieds. Xias Schild war bereits verbeult.
»Tu es«, flüsterte Tamin mit leuchtenden Augen.
Die Dienerin nahm den Welpen von Lorats Schoß und drehte sich weg.
»Ergebt Ihr Euch?«, rief ich, auch wenn die Kämpfenden mich über die Buhrufe des Publikums hinweg wahrscheinlich nicht hören konnten.
Der Knappe hatte Sir Xia inzwischen erreicht.
Was dann geschah, spielte sich so langsam vor meinen Augen ab, als hielte die Zeit selbst inne, um die Ereignisse zu beobachten: Dedreughs hämmernde Schläge, übernatürlich stark und von solcher Wucht, dass sie Xias Schild jeden Moment durchdringen würden. Sir Xias strauchelnde Schritte, während sie verzweifelt versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Die Rufe ihres jungen Knappen, der ihr das Ersatzschwert entgegenstreckte. Die Zeit blieb stehen.
Dedreugh wirbelte herum und stieß dem Knappen seine Klinge in den Bauch.
Ich sprang auf. Alle sprangen auf.
Entsetzt und in dem naiven Glauben, der Wettkampf sei vorüber – musste er doch auch sein, oder? –, senkte Sir Xia ihren Schild, den Blick starr auf ihren sterbenden Knappen gerichtet.
Ihren Gegner beachtete sie nicht mehr.
Dedreugh zog sein Schwert aus der Wunde, drehte sich herum und schlug mit der blutverschmierten Klinge Sir Xias Schild zur Seite. Xia schrie, als die Spitze von Dedreughs Waffe in ihre Schulter drang. Dann riss er die Klinge nach oben. Blut spritzte, als er eine Hauptschlagader öffnete und ihr den Arm abtrennte.
»Tamin!«, schrie ich.
Das Gesicht des Barons war verzückt vor Siegestaumel und Blutdurst. Mit bebenden Nasenflügeln wandte er sich mir zu. »Du bist meine Freundin, nicht mein Graf. Dein Ton ist unangemessen.«
»Sie werden sterben«, sagte ich. »Sir Xia und ihr Knappe werden sterben.«
Tamin starrte mich entgeistert an. Was kümmerte es ihn, wenn die beiden starben? Er
setzte sich wieder. »Sind Turniere nicht eine Vorbereitung auf den Krieg? Im Krieg sterben die Menschen, nicht wahr?« Er hob die Hand und segnete Sir Dedreugh, während die beiden Schwerverletzten weggebracht wurden.
»Tamin …«
Er winkte lächelnd ins Publikum, doch als er sich mir zuwandte, wurde sein Blick kalt. »Stelle mein Tun nicht infrage, Janel. Barsine taumelt am Rand des Abgrunds. Da muss ich drastische Maßnahmen ergreifen.«
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»Drastische Maßnahmen?« Ich musste mich beherrschen, nicht zu schreien. »Dedreugh ist dein Kämpfer. Du musst das Totengeld für die bezahlen, die er umbringt. Wie kannst du dir das leisten, wenn Barsine am Rand des Abgrunds steht?«
»Von einem Hengst, der aus seinem eigenen Kanton geflohen ist, um der Entmachtung zu entgehen, nehme ich keine Ratschläge an.« Tamin beugte sich näher heran, seine Augen funkelten bösartig. »Glaubst du, ich weiß nicht, warum du hier bist? Dein ehemaliger Verlobter, Sir Oreth, hat euch alle gekauft, als dein Großvater noch nicht einmal seinen letzten Atemzug getan hatte. Und du hast gar nicht gemerkt, wie du zum Gespött gemacht wurdest. Deshalb hast du für deine Reise hierher keinen Torstein benutzt – weil du weder einen Stein noch einen Torwächter hast.«
Seine Worte trafen mich härter als Faustschläge, und das nicht zuletzt, weil sie der Wahrheit entsprachen.
Aber sie waren auch eine Ablenkung, und ich hatte nicht vor, mich ablenken zu lassen.
»Dedreugh ist ein Ungeheuer. Als deine Freundin rate ich dir, dein Idorrá nicht von einem Ungeheuer durchsetzen zu lassen.«
Leute, die glauben, dass Idorrá auf Gewalt basiert, gab es schon immer – dass der Stock das beste Werkzeug ist, um die Herde bei der Stange zu halten. Dieser Irrglaube ist der Grund, warum es in Jorat das System der Entmachtung gibt. Unsere Herrscher sind Adlige, aber sie herrschen nur, weil die Bevölkerung ihnen vertraut. Und wenn die Herrscher sich als schlimmer herausstellen als jede andere Gefahr?
Dann werden sie abgesetzt. So haben wir das schon immer gemacht.
»Als Freund«, erwiderte Tamin, »rate ich dir, dich um deine eigene Herde zu kümmern.«
Ich hob besänftigend die Hände. »Das war nicht böse gemeint, Tamin. Der letzte Winter war für uns beide hart.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Schwarze Ritter den Wettkampfplatz betrat. Er wurde geschickt, um die Zuschauer von dem Blutvergießen abzulenken, dessen Spuren gerade beseitigt wurden. Die Zuschauer hatten immer wieder »Thorra, Thorra!« gerufen, aber als Hauptmann Dedreugh sich ihnen zuwandte, verstummten sie schlagartig.
Tamins Zorn ließ etwas nach. »Wie ich dich beneide, Janel. Du kannst wenigstens vor deinen Dämonen weglaufen.«
Seine Worte brannten wie Wunden. »Nicht vor allen.« Ich legte meine Hand auf seine und wählte meine Worte sorgfältig. »Aber wir könnten einander helfen.«
Der Schwarze Ritter riss unterdessen seine Possen, wie seine Rolle es erforderte. Die Rüstung war ihm viel zu klein, sein dicker Bauch wabbelte unter dem Harnisch hervor, während er auf seinem schwarzen Feuerblüter auf und ab galoppierte.
Tamin zog seine Hand unter meiner weg. »Ich brauche keine Hilfe. Diese Hexen glauben, sie könnten es mit mir aufnehmen. Aber ich werde es ihnen zeigen. Sie werden brennen, alle.«
»Willst du das auch mit den Gefangenen tun, die ich dir übergeben habe?«
»Auch sie sind Hexen oder stehen mit welchen im Bunde. Was bleibt mir schon anderes übrig?« Seine Kiefer mahlten. »Ich kenne Kalazan, seit wir beide Kinder waren. Ich kann nicht fassen, dass er mich verraten hat.«
Der Verweser hörte nicht einmal zu. Seine Dienerin hatte ihm den Welpen zurückgegeben. Sie selbst schaute allerdings so aufmerksam in unsere Richtung, als hätte sie jedes Wort mit angehört. Sie trat erst zurück, als ein Punktrichter mit Fragen auf die Tribüne kam.
Ohne sich mit dem Verweser zu beraten, erteilte sie dem Punktrichter ihre Anweisungen.
»Wahrscheinlich fühlst du dich genauso wie ich, als Oreth sich gegen mich wandte«, antwortete ich.
»Er liebt dich«, entgegnete Tamin.
»Die Gier nach Besitz ist nicht dasselbe wie Liebe.«
Tamin seufzte und goss sich Wein nach. »Seit wann bist du so weise, werte Janel?«
»Du schmeichelst mir. Wäre ich weise, würde ich jetzt nicht in solchen Schwierigkeiten
stecken.«
»Aber du verstehst mich doch, oder? Wir beide müssen tun, was nötig ist. Jede Hexe in dieser Provinz muss sterben. Jede. Bis keine mehr übrig ist, um die Dämonen herbeizurufen, die uns vernichten werden. Relos Var hat mir die Augen geöffnet.«
Ich schaute ihn an. »Wofür geöffnet?«
»Das Kind«, antwortete Tamin. »Das besessene Kind. Es gibt eine Prophezeiung: Das besessene Kind sammelt die Gebrochenen um sich, die Hexen und Gesetzlosen, die heimlichen Rebellen, plant Krieg und Aufstand, während die Ketten durch die Not des Winters im Palast des Schneekönigs verborgen liegen.
«
Ich schaute ihn verständnislos an.
»Siehst du es nicht? Es liegt doch auf der Hand!«
»Ich …«
»Es gibt noch eine«, beharrte er.
»Das besessene Kind lauert, nicht tot, sondern schlafend träumt es vom Bösen und den Seelen, die es einst ernten wird, denn wenn Tag und Nacht endlich eins sind, wird das Gefängnis des Dämonenkönigs zerbrechen.
Das ist eindeutig. Sobald die Dämonen das Kind gefunden haben, werden sie es benutzen, um die Welt zu vernichten.«
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Ich fand das überhaupt nicht eindeutig, behielt meine Meinung aber lieber für mich. »Wenn Tag und Nacht endlich eins sind … Eine Sonnenfinsternis?« Tamin bemerkte den Sarkasmus in meiner Stimme nicht. »Ja, genau das denke ich. Aber ich bin nicht ganz sicher. Es könnte alles Mögliche bedeuten.«
Ich widerstand dem Drang, ihn diesen letzten Satz noch einmal wiederholen zu lassen, und zwar schön langsam diesmal.
Ich hob das Kinn. »Und was ist mit den Runen auf den Pfählen dort unten? Sollen sie … Dämonen abschrecken?«
»Ganz richtig. Jede tote Hexe ist eine Hexe weniger, die welche herbeirufen könnte.«
»Aha. Sehr schlau«, erwiderte ich. »Jetzt verstehe ich.«
Das stimmte. Nun verstand ich in der Tat ganz genau.
Dank Xaltoraths »liebevoller« Erziehung konnte ich die Runen auf den Pfählen lesen. Und ich hatte gesehen, mit welch übernatürlicher Kraft Dedreugh seine Turniersiege errang. Ich bin nicht dumm. Relos Var, Tamins hochgeschätzter Lehrer, hatte da ein hübsches Netz aus Lügen gesponnen, und Tamin hatte jede einzelne davon gierig geschluckt. In Barsine gab es tatsächlich
jemanden, der Dämonen herbeirief.
Leider – und obwohl Tamin ganz offensichtlich nichts davon ahnte – war dieser Jemand der Baron selbst.