Angriffspläne
Jorat, Quurisches Reich.
Zwei Tage nachdem Urthaenriel vom Boden aufgehoben wurde
Kihrin lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Er hatte das Gefühl, als rückte der umgebende Fels immer näher. Er schauderte. »Das war ich. Ich bin der jüngere Bruder, der in Kishna-Farriga als Sklave versteigert wurde. Und Relos hat versucht, mich zu kaufen.«
»Oh«, sagte Janel. »Der Bruder bist du also.«
»Nun ja, eigentlich bin ich gar nicht sein Bruder. Zumindest nicht in diesem Leben.«
Janel zuckte die Achseln. »Das scheint für ihn keinen Unterschied zu machen.«
»Nein, wahrscheinlich nicht. Jedenfalls hasst er mich, als wäre ich auch jetzt noch sein Bruder.«
Sie zögerte, ihre Miene undurchdringlich. »Tatsächlich?«
»Ja. Und wie.« Er schaute ihr ins Gesicht. »Du glaubst mir nicht?« 40
Janel überlegte sich ihre Erwiderung gut. »Die Gefühlsbeziehungen innerhalb einer Familie sind meist kompliziert.«
»Du hast leicht reden. Du bist meinem älteren Bruder Darzin nicht begegnet. Und ich bin froh, sagen zu können, dass das auch nie passieren wird.«
Sie sah ihn erschrocken an. »Verstehe. Aber wie es scheint, kennen wir dieselben Leute. Wer weiß schon, was passieren kann?«
Kihrin beugte sich grinsend vor. »Darzin ist tot.«
Janel wich keinen Fingerbreit zurück. »Das warst du ebenfalls.«
Kihrin merkte, wie sein Grinsen verblasste. Wäre es möglich, dass Darzin …? Nein. Die Todesgöttin hasste ihn. Sie würde ihn niemals zurückkehren lassen.
»Was ist mit diesen Prophezeiungen, die Tamin erwähnt hat? Sie hören sich an …« Kihrin zögerte. »Sie hören sich an wie die Devoranischen Prophezeiungen. Ich kannte einmal einen devoranischen Priester – er glaubte, in jedem Vogelzwitschern einen Bezug zu diesen verfluchten Vierzeilern zu erkennen.« 41
»Aber ja, es sind die Devoranischen Prophezeiungen«, warf Bruder Qaun ein. »Ich habe das überprüft, für den Fall, dass der Baron oder Relos Var sich all das nur ausgedacht haben, um ihre Gräueltaten zu rechtfertigen. Die von Tamin zitierten Verse sind echt. Natürlich sind sie damit auch nicht zutreffender als die anderen Tausende von Versen, die die Devorer im Lauf der Jahrhunderte gesammelt haben.«
»Wie beruhigend«, sagte Kihrin. »Aber Tamin täuscht sich. Zumindest in Bezug auf den ersten Vierzeiler. Er bezieht sich auf Vol Karoth.« Er atmete einmal tief durch. »Hoffen wir nur, dass dieser Teil der Prophezeiung nie eintrifft.«
Janel zog die Augenbrauen zusammen. »Wer? Du hast den Namen schon einmal erwähnt.«
Qauns Kiefer klappte nach unten. »Wie bitte? Janel! Ihr wisst nicht, wer Vol Karoth ist? Niemand hat Euch je erklärt, wer Vol Karoth ist?«
Sie drehte entschuldigend die Handflächen nach oben. »Nein. Aber deine entsetzte Reaktion sagt mir, dass es jemand Wichtiges ist.«
Kihrin räusperte sich. »Könnte man so sagen.«
Janel warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Er ist der Dämonenkönig …«, begann Qaun.
»Nein, ist er nicht«, widersprach Kihrin vehement. »Vol Karoth ist der Gott, den ihr anbetet und gleichzeitig nicht anbetet. Der achte Unsterbliche.«
Qaun starrte ihn mit offen stehendem Mund an, die Augen voller Entsetzen.
Kihrin seufzte. »Vor langer, langer Zeit hat ein Zauberer die Acht Unsterblichen mit einem Trick dazu gebracht, an einem Ritual teilzunehmen«, erläuterte er. »Ich sage mit einem Trick, weil der Zweck des Rituals darin bestand, einen von ihnen – Vol Karoth – zu opfern. Er hätte wohl kaum teilgenommen, wenn er es gewusst hätte. Aber etwas ging schief.
Die anderen Teilnehmer wurden zu Drachen, doch der fragliche Unsterbliche – ihr nennt ihn Selanol , aber das ist nicht sein richtiger Name – wurde zu etwas noch viel Schlimmerem. Er starb zwar, doch aus seinem Leichnam wurde die Verkörperung der Vernichtung und alles Bösen geboren, so gefährlich, dass sie unter allen Umständen eingesperrt werden musste, wenn sie nicht die gesamte Welt, vielleicht sogar das gesamte Universum vernichten sollte. Erst jetzt bekam er den Namen Vol Karoth. Ich glaube nicht, dass er ein Dämonenkönig ist. Er lechzt genauso danach, Dämonen zu vernichten, wie er alles andere vernichten will.«
»Oh.« Janel schluckte. »Dann muss ich meine Aussage zurücknehmen. Ich weiß genau, wer das ist. Bei den Morgag heißt er nur anders. 42 Und in dem Teil der Devoranischen Prophezeiungen, den ich gelesen habe, wurde er nie Vol Karoth genannt. Die Bezeichnung Dämonenkönig habe ich allerdings schon öfter gehört.«
Kihrin blies die Luft aus. Den Rest erklärte er nicht – dass S’arrics Körper zwar zum Gefäß für korrumpierte dunkle Kräfte geworden war, seine Seele aber befreit wurde und ins Nachleben einging.
Um schließlich als Kihrin D’Mon wiedergeboren zu werden.
Janel fing seinen Blick auf und hielt ihn fest. »Aber ich habe auch gehört, dass der geweissagte Höllenkrieger ihn befreien und damit das Ende der Welt einleiten wird.«
»Das … ist alles andere als sicher«, entgegnete Kihrin. »Ich glaube, dieser Teil ist ebenfalls falsch. Zumindest sind wir sicher, dass es sich nicht nur um einen Höllenkrieger handelt. Wir sind zu viert.«
»Wir?« , fragte Qaun.
Kihrin verzog das Gesicht und sagte nichts mehr.
»Aber das ergibt keinen Sinn«, warf Janel ein. »Warum nicht acht? Acht Unsterbliche, acht Drachen, acht Höllenkrieger.«
Qaun ergriff das Wort, bevor Kihrin etwas erwidern konnte. »Moment. Kehren wir noch einmal zu den Drachen zurück. Selbst wenn der Rest von dem, was Ihr behauptet, wahr ist – Ihr habt gesagt, die Unsterblichen wären zu Drachen geworden. Seid Ihr sicher, dass Ihr das richtig verstanden habt?«
»Absolut«, antwortete Kihrin, ohne Qaun anzusehen. »So wurden die neun Drachen erschaffen.«
»Acht Drachen«, berichtigte Qaun.
Kihrin hob den Kopf. »Das scheint zu einer Gewohnheit zu werden. Neun. Ich wollte es Janel gerade erklären. Der Mann, der das Ritual ersonnen und durchgeführt hat, wurde ebenfalls zu einem Drachen. Der Graf ist ihm bereits begegnet. Heutzutage nennt er sich Relos Var.«
Qaun blinzelte. »Relos Var ist kein Drache!«
»O doch, ist er. Er läuft nur die meiste Zeit nicht in Drachengestalt herum.« Kihrin zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er deshalb nicht dem Wahnsinn verfallen wie die anderen acht. Ich weiß es nicht.«
Qaun saß in stummem Entsetzen da, und Kihrin wandte sich wieder an Janel. »Der erste Teil der Prophezeiung klingt, als wäre von dir die Rede.«
Sie hob eine Augenbraue. »Ach ja? Ich versammle also Gesetzlose und Hexen um mich und plane einen Aufstand?«
»Sag du’s mir. Tust du das?«
Bruder Qaun hielt sein Büchlein hoch. »Wie wär’s, wenn ich einfach weiterlese?«
Weder Kihrin noch Janel protestierten.
Qauns Schilderung. Schloss von Mereina, Provinz Barsine, Jorat, Quur.
Das Schloss fühlte sich leer an, die meisten Bewohner waren zum Turnierplatz gegangen. Das Tor war verschlossen, kaum jemand war noch hier. Trotzdem fühlte Bruder Qaun sich ungeschützt und verwundbar, während er und Stute Dorna mit der humpelnden Ninavis in ihrer Mitte so taten, als seien sie Diener, die gerade von einem schiefgegangenen Auftrag zurückkehrten.
»Fehlt ihr etwas?«, erkundigte sich ein Soldat und deutete auf Ninavis.
Stute Dorna winkte ab. »Ihr geht’s gut, alles in Ordnung. Sie ist eben eine tollpatschige Stute. Ist auf einer Treppe gestolpert.«
»He, was soll das heißen, tollpatschige Stute?«
»Nun ja, wer ist denn gerade über seine eigenen Beine gefallen? Ich bestimmt nicht.«
Der Soldat lachte und setzte seine Patrouille über das Schlossgelände fort. Bruder Qaun würdigte er nicht mal eines Blickes.
Sie gingen hinauf in den dritten Stock, wo sie in den Gemächern des ehemaligen Vogts Quartier bezogen hatten.
Alle drei atmeten erleichtert auf, als sie die Tür hinter sich schlossen.
Dorna machte sich von Ninavis los und begann zu packen.
Bruder Qaun runzelte die Stirn. »Der Graf sagte …«
Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Glaubst du, ich bin taub, Fohlen? Ich weiß, was Janel gesagt hat. Aber ich garantiere dir, unser Aufbruch wird bestimmt nicht ruhig und entspannt ablaufen. Wir bereiten uns besser auf einen schnellen Abgang vor.«
Bruder Qaun wollte schon widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. Ninavis stützte sich immer noch auf seine Schulter. »Lass mich dein Bein ansehen. Diese Stützschiene ist nur provisorisch. Ich würde gerne eine etwas stabilere Lösung finden.«
Ninavis musterte ihn skeptisch, legte ihren Umhang ab und humpelte zum Bett. »Bist du sicher, dass du nicht nur einen weiteren Blick auf meine Waden erhaschen willst?«
Bruder Qaun musste sich beherrschen, die Augen nicht zu verdrehen. »Ich bin Priester der Vishai-Mysterien.«
»Und?«
»Er kann gar nicht galoppieren, wenn du verstehst, was ich meine.« Dorna bewegte Zeige- und Mittelfinger wie eine Schere.
Es kostete ihn zwar etwas Mühe, doch Qaun ignorierte sie. Er bedeutete Ninavis, sich auf einen Stuhl zu setzen. »Ich kann durchaus, aber ich will nicht. Wir legen ein Gelübde ab. An deinen Beinen interessiert mich nur, dass der Bruch ordentlich verheilt.«
Dornas Prusten ignorierte Qaun ebenfalls.
Diesmal versetzte er sich nicht in den Zustand der Erleuchtung, und das aus mehreren Gründen: Ninavis war bei Bewusstsein und hochkonzentriert. Außerdem stammte sie wahrscheinlich aus Marakor. Letzteres bedeutete, dass sie merken könnte, was er tat. Die Marakorer teilten die Vorbehalte der Jorater gegen Magie nicht.
Sie waren der Grund für diese Vorbehalte.
Zum Glück war der Bruch nicht offen, was die Gefahr einer Infektion deutlich verringerte. Natürlich war die Muskulatur verletzt und das Gewebe geschwollen. Aber mit ausreichend Ruhe würde Ninavis sich vollständig erholen. Qaun bezweifelte allerdings, dass sie Gelegenheit dazu bekommen würde.
»Dorna, glaubst du, hier gibt es irgendwo Beinwell? Ich möchte einen Verband machen.« Bruder Qaun sah sich nach einem Stück Stoff um, das er abkochen und in Streifen schneiden konnte.
Doch noch ehe er mit den Vorbereitungen fertig war, kam Graf Janel hereingeplatzt. »Ihr habt es geschafft. Gut. Dorna, hilf mir mit meiner Rüstung. Danach müsst ihr drei sofort von hier verschwinden. Geht nach Visallía im Norden. Die dortige Markreev ist eine entfernte Cousine von mir. Sie wird euch aufnehmen.« Janel ging zu ihrem Reisegepäck und holte ihr Familienschwert hervor.
»Füllen? Was tut Ihr da? Ihr könnt nicht einfach … Moment, was soll das werden?« Dorna stemmte die Hände in die Hüften.
»Ich habe mein Wort gegeben«, erwiderte Janel. »Und ich werde es halten.«
»Was ist passiert?« Ninavis versuchte aufzustehen, schwankte kurz und setzte sich wieder. »Was hat der Baron mit meinen Leuten vor?«
»Nicht so hastig«, warf Bruder Qaun ein. »Ihr seid aufgebracht, Graf. Erklärt uns doch bitte, was vorgefallen ist.«
Der Graf von Tolamer ging zu einer Kommode, auf der ein Wasserkrug und ein Zinnbecher standen. Mit zitternden Händen füllte Janel den Becher, leerte ihn in einem Zug und warf ihn über die Schulter. Dabei war sie nicht so vorsichtig wie sonst – von dem Becher war nur noch ein verbeulter Klumpen Metall übrig.
Janel fuhr sich durch ihren Laevos. »Als wir noch in Tolamer waren und mein Großvater noch lebte, beschäftigte er einen Torwächter des Hauses D’Aramarin. Sein Name war Kovinglass, er stammte aus Kazivar. Ich mochte ihn nicht, hielt ihn aber auch nicht für einen Verräter. Zumindest nicht bis zum Tod meines Großvaters. Aber als ich danach seine Aufzeichnungen durchging, änderte ich meine Meinung. Ich weiß nicht, ob Großvater ihm zu wenig bezahlt oder vielleicht irgendwann eine unverzeihliche Kränkung zugefügt hatte. Aber als er krank wurde, gab Kovinglass ihm einen schlechten Rat nach dem anderen, und unsere Familie versank immer tiefer in Schulden.«
»Nicht alle Diebe benutzen ein Schwert«, kommentierte Bruder Qaun. »Manche haben mit Tusche und Federkiel mehr Erfolg.«
Janel nickte bitter. »Sieht ganz so aus.«
Ninavis runzelte die Stirn. »Was hat das mit Tamin und meinen Leuten zu tun?«
»Kovinglass’ Verrat brachte mich auf den Gedanken, dass der Baron von Barsine ebenfalls getäuscht worden sein könnte«, erklärte Janel. »Er hat diese fixe Idee, dass Kalazans Vater angeblich zu den Verschwörern gehörte. Tamin mag nach der Ermordung seines Vaters überreagiert haben, aber vielleicht wurde er nur benutzt – von Hauptmann Dedreugh und möglicherweise diesem Relos Var.«
»Von wem?«
»Von Relos Var. Er ist ein Ausländer 43 und außerdem Tamins Lehrer. Ich kenne Tamin schon sehr lange und möchte ihn nicht vorschnell verurteilen.«
»Natürlich nicht. Ihr Adligen haltet zusammen wie Pech und Schwefel.« Ninavis verdrehte die Augen. »Deckt einander immer schön den Rücken.«
»Schweig, du«, fuhr Dorna auf. »So sprichst du nicht mit meinem Grafen!«
»Nein, Dorna. Sie hat jedes Recht, zu schimpfen.« Janel setzte sich. Sie sah verloren aus.
»Graf«, begann Bruder Qaun, »was ist passiert?«
»Der Baron ahnt nichts davon, aber er selbst ist derjenige, der die Dämonen herbeiruft«, antwortete Janel. »Er glaubt, er verbrennt Hexen, aber die, die er zu Hexen erklärt und hinrichten lässt, sind unschuldig. Die Hinrichtungen sind einem Dämon namens Kasmodeus gewidmet. Barsine hat tatsächlich ein Hexenproblem – aber die Hexe ist Tamin selbst.«
»Du musst ihn töten«, sagte Ninavis. »Du musst. Es ist die ideale Gelegenheit. Du bist die Einzige, die an ihn herankommt.«
Janel schaute sie entsetzt an. »Hast du nicht zugehört? Tamin wurde reingelegt. Wir müssen es ihm sagen …«
»Und dann, glaubst du, wird alles wieder gut? Die entvölkerten Dörfer? Die Männer, Frauen und Kinder, die verbrannt wurden?« Ninavis stand auf. »Wage nicht, mir zu sagen, seine Leichtgläubigkeit würde seine Taten entschuldigen.«
Der Graf schaute Ninavis mit zusammengepressten Lippen an. Dorna und Bruder Qaun erhoben sich, unsicher, was sie tun sollten.
»Es gibt Mittel und Wege …«, begann Janel.
Ninavis reckte das Kinn vor. »Du willst mir jetzt nicht mit Entmachtung kommen, oder? Denn wenn, dann schwöre ich …« Ihre Stimme versagte. Zurück blieben eine drückende Stille und der bohrende Blick, mit dem sie den Grafen anstarrte.
Janels Augen glühten vor Zorn. Beinahe unmenschlich.
»Gestatte mir«, erwiderte sie, »dir zu erklären, wie Politik in Jorat funktioniert.« Sie machte einen Schritt auf Ninavis zu, und die machte einen Schritt zurück. Da sie jedoch direkt an der Bettkante stand, plumpste sie zurück auf die Matratze.
»Wenn ich losziehe und den Baron umbringe«, sprach Janel weiter, »der keine Kinder und auch noch keinen Erben bestimmt hat, gehen sein Titel und seine Ländereien nicht an mich, sondern an den stärksten Hengst in seinen Diensten. Was glaubst du, wer das sein könnte, hm? Dedreugh. Dedreugh wird dann der neue Herrscher. Du hast ihn beim Turnier nicht gesehen. Er ist so stark wie ich, wenn nicht stärker. Er wird uns alle umbringen, und nichts würde sich ändern. In Jorat kann man sich nicht an die Macht putschen. 44 Aber vielleicht, ganz vielleicht, kannst du dir vorstellen, dass ich so etwas wie einen Plan habe.«
Janel ging zu einer Truhe und begann, darin herumzuwühlen.
Eine lange, unbehagliche Stille breitete sich im Raum aus.
»Was bist du?«, fragte Ninavis.
Janel drehte den Kopf. »Entschlossen.«
»Das meine ich nicht.«
»Ich weiß. Aber das ist mir egal.«
Ninavis seufzte. »Hör zu …«
»Willst du mir helfen oder an allem herummäkeln wie eine alte Meckertante?« Janel warf die Kleider, die sie aus der Truhe geholt hatte, auf den Boden und wandte sich der Banditin zu. »Ich kann dir und deinen Leuten helfen. Aber nur, wenn du aufhörst, mich für deine Feindin zu halten, die du bekämpfen musst.«
Schweigen.
Dorna und Bruder Qaun blickten zwischen den beiden Frauen hin und her. Sie wagten nicht einmal zu atmen, während sie darauf warteten, wer sich als Erstes bewegen würde.
»Vielleicht habe ich es ein bisschen übertrieben«, sagte Ninavis schließlich.
Bruder Qaun atmete auf.
Janel nickte zufrieden, erwiderte aber nichts und fischte weitere Kleidungsstücke aus der Truhe.
»Es sind meine Leute«, fuhr Ninavis fort. »Und sie sollen einem Dämon geopfert werden.«
»Vielleicht …« Bruder Qaun räusperte sich. »Könnten wir nicht eine Nachricht an Tamins Lehnsherrn schicken? Ihn warnen, dass der Baron auf Abwege geraten ist? Wer ist überhaupt der Graf hier?«
»Ysinia«, antwortete Dorna. »Aber wie willst du das anstellen, junger Mann? Wir haben keinen Torwächter. Oder verfügst du über Fähigkeiten, von denen du uns noch nichts verraten hast?«
Qaun lächelte matt, was Dorna als ein Nein interpretierte.
Transportzauber waren nicht sein Metier, ob mit Torstein oder ohne. Er hatte sich nie sonderlich dafür interessiert. Zwar verbanden Torsteine alle Winkel des Reichs miteinander, doch Qaun verspürte nicht den Wunsch, seinen Lebensunterhalt als besserer Mauteintreiber zu verdienen.
Aber er hatte eine gültige Lizenz zur Ausübung von Magie vom Haus D’Mon und bezahlte regelmäßig seine Mitgliedsgebühren. Leider galten solche Leute in Jorat, wenn sie nicht ein Priester der Acht oder ein Torwächter waren, als Hexen. Bruder Qaun war nicht sicher, ob ihm genug Zeit bliebe, seine Lizenz vorzuzeigen, bevor die Jorater ihm mit Fackeln und Mistgabeln zu Leibe rücken würden.
»Na dann«, sprach Stute Dorna weiter. »Da Barsine eine offizielle Provinz ist, gibt es hier auch einen Torstein. Aber nach allem, was ich so höre, ist der Baron zu geizig, um sich einen eigenen Wächter dafür zu leisten. Stattdessen bezahlt er ein paar Leute vom Haus D’Aramarin, aber auch das nur äußerst spärlich. Das Tor wird am Tag vor dem Turnier kurz geöffnet, und dann wieder am Tag danach. Wer mehr will, muss sich selbst darum kümmern und aus eigener Tasche bezahlen.«
»Das hilft uns kein bisschen weiter«, blaffte Ninavis.
»Genau«, bestätigte Dorna. »Kein bisschen. Weshalb ich nach wie vor dafür bin, dass wir schnellstmöglich die Beine in die Hand nehmen.« Sie bewegte zwei Finger wie ein laufendes Männchen. »Es tut mir wirklich leid wegen deiner Leute, Ninavis. Sie kommen mir vor wie anständige Zeitgenossen, aber niemand scheint eine Idee zu haben, wie wir nahe genug an sie herankommen können, um sie zu befreien. Wir gäben ein hübsches Ziel für Tamins Armbrustschützen ab. Außerdem ist dieser Hauptmann Dedreugh Euren eigenen Worten nach genauso stark wie Ihr, Fohlen, aber leider doppelt so groß. Ich glaube, in einem Zweikampf mit ihm sähe es schlecht für Euch aus. Und dann wollen wir mal nicht vergessen, dass Euer Freund Tamin nicht ganz unbedarft ist, was Magie angeht. Ich würde darauf wetten, dass sein mittlerweile abgereister Lehrer nicht der Einzige ist, der hier hexen kann.« Dorna neigte den Kopf zur Seite und musterte Janel mit zusammengekniffenen Augen. »Wie sieht Euer Plan genau aus?« Sie hob einen Finger. »Kommt jetzt bloß nicht auf die Idee zu sagen, dass Ihr Euch schon durchkämpfen werdet, junger Hengst.«
»Tue ich auch nicht«, erwiderte Janel. Sie zog ein schweres Kettenhemd aus der Truhe. »Ich kämpfe mich hinein
Das dunkelblaue Metall schimmerte wie ein nächtlicher Regenbogen, als wäre es von einem inneren Feuer erhellt. Es war kein Messing, auch nicht Eisen oder Stahl, sondern Shanathá, das der eigentliche Grund war, warum Quur einst Kirpis erobert und die Vané vertrieben hatte. Das Metall war für Zivilisten verboten, selbst wenn sie es sich leisten konnten. Nur der joratische Adel war von diesem Verbot ausgenommen.
»Hinein?«, wiederholte Dorna. »Was soll das heißen, Ihr wollt Euch hinein kämpfen?«
Der Graf hob lächelnd ein paar Kleidungsstücke vom Boden auf: ein burgunderfarbenes Wams, das so dunkel war, dass es beinahe schwarz aussah, und einen abgewetzten Mantel von unbestimmbarer Farbe, der schon bessere Tage gesehen hatte. »Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein. Der Baron ist jung und unerfahren.«
Ninavis schnaubte. »Und wie alt bist du? Siebzehn?«
Janel schaute weg. »Mach dich nicht lächerlich.«
Bruder Qaun räusperte sich.
Der Graf senkte beschämt den Kopf. »Ich habe vor drei Monaten die Volljährigkeit erreicht, kurz vor unserem Aufbruch aus Tolamer.«
Ninavis’ Augen wurden groß. »Aha, verstehe, du bist sechzehn . Das ist natürlich was anderes.« Sie schaute Dorna und Bruder Qaun an, als wollte sie die beiden zu einem Widerspruch herausfordern.
»Arm an Jahren«, sagte Janel, »aber nicht an schmerzhaften Erfahrungen.«
Ninavis blickte ihr in die Augen. Was auch immer sie dort sah, ließ sie schlucken und den Blick senken.
Dorna verlor endgültig die Geduld. »Und was hat das alles mit Eurem Plan zu tun, Füllen?«
Janel schien der ruppige Ton ihrer Dienerin nichts auszumachen. Sie wirkte vielmehr erfreut, dass es endlich nicht mehr um ihr junges Alter ging. »Nicht Tamin ist unser Feind, sondern Dedreugh. Und im Gegensatz zu dem Baron kommen wir sehr einfach an ihn heran, denn er kämpft in dem Turnier. Nach dem, was ich gesehen habe, wäre ich allerdings überrascht, wenn er noch viele Kämpfe absolvieren würde. Seine Gegner werden sich zurückziehen und ihm den Sieg kampflos überlassen, weil niemand Sir Xias Schicksal teilen will. Also wird er gewinnen. Damit der Baron Ninavis’ Leute hinrichten kann, muss er das auch, denn andernfalls gehören ihm die Gefangenen nicht.«
»Aber … sie sind doch der Hexerei angeklagt. Genügt das nicht?« Bruder Qaun brachte den Einwand nur sehr ungern vor, doch er fühlte sich dazu verpflichtet.
Janel schüttelte den Kopf. »Auch das wird durch das Turnier entschieden. Tamin wird die zu erwartende Anfechtung des Urteils mit dem Ausgang des Turniers verknüpfen. Das wurde schon öfter so gemacht. Aber auf jeden Fall gilt: Damit Tamin sie als Hexen hinrichten kann, muss Dedreugh gewinnen.«
»Aber wer soll gegen ihn kämpfen?«, fragte Ninavis. »Ich habe ein gebrochenes Bein, und du bist eine Adlige. Du darfst nicht an Turnieren teilnehmen.«
»Nein, darf ich nicht«, bestätigte Janel und streifte sich das Wams über. »Als Graf Tolamer darf ich mich von einem Ritter repräsentieren lassen, aber nicht selbst antreten. Das ist verboten.« Sie kicherte in sich hinein, als hätte sie gerade einen Witz gemacht und ihren Zuhörern die Pointe verschwiegen.
Dorna warf ihr einen strengen Blick zu. »Ihr sprecht von dem Schwarzen Ritter, nicht wahr? Ihr wollt Euch als der Schwarze Ritter verkleiden und teilnehmen.«
Bruder Qaun blinzelte. »Ich verstehe kein Wort. Wer ist der Schwarze Ritter?«
Dorna schnaubte. »Niemand. Jeder. Jeder, der gerne Ritter spielen möchte. Der Schwarze Ritter bleibt amony …«
»Anonym«, warf Ninavis ein.
»Richtig. Genau das. Er ist ein Narr, ein Spaßmacher und Possenreißer der Götter und bleibt stets unerkannt. Schwarz ist die Farbe der Mysterien und der Gefahr, und der Ritter ist der lebende Beweis, dass dir jeder auf die Reitstiefel pinkeln kann, ganz egal wie prachtvoll der Harnisch deines Pferds ist. Eine spaßige Aufgabe, bei der man einen ganzen Tag lang Leute veralbern, Freibier trinken und hübschen Jungen an den Hintern fassen kann. Sehr lustig.«
»Ich verstehe immer noch nicht. Wie hilft uns das weiter?«
Janel schloss gerade den letzten Knopf ihres Wamses. Sie trug so viele dicke Schichten übereinander, dass ihre Rundungen nun nicht mehr zu sehen waren. »Da der Schwarze Ritter stets anonym bleibt«, erklärte sie, »kann jeder die Rolle übernehmen – sogar ein Adliger. Niemand spricht je darüber, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass in der schwarzen Rüstung nicht selten ein Mitglied der Aristokratie steckt, das einmal ein bisschen Spaß haben will. Was wiederum bedeutet, dass ich kämpfen kann und Dedreughs Sieg bei Weitem nicht so sicher ist, wie er glaubt.« Ihre Lippen zuckten vergnügt.
»Die Rolle des Schwarzen Ritters wird vor dem Turnier vergeben«, gab Ninavis zu bedenken. »Ich glaube, es könnte auffallen, wenn plötzlich ein zweiter auftaucht.«
Janels Lächeln blieb von dem Einwurf unbeeinträchtigt. »Stimmt«, bestätigte sie und legte ihr Kettenhemd an. »Deshalb werde ich Baron Tamins Schwarzem Ritter einen kleinen Vorabbesuch abstatten.« 45