11   Acht Tore
Jorat, Quurisches Reich.
Zwei Tage nachdem die Devoranischen Prophezeiungen deutlich wirklichkeitsnäher geworden waren
»Dieser Rauch hat eine ganze Stadt ausgelöscht?« Kihrin versuchte nicht, das Entsetzen in seiner Stimme zu verbergen. »Wie viele Leute sind gestorben?«
Janels Gesicht verfinsterte sich. »Ich habe nicht mitgezählt.«
»Etwas über dreitausend«, warf Bruder Qaun ein. 59 »Wir hatten Glück. Normalerweise hat Mereina knapp fünfzehntausend Einwohner, aber ein Großteil war bereits geflohen, um den Hexenjagden des Barons zu entgehen.«
»Das ist immer noch …« Kihrin fand keine Worte, um zu beschreiben, was diese Nachricht in ihm auslöste.
Janel musterte ihn eindringlich. »Jetzt weißt du, womit du es zu tun hast. Die Flasche mit dem blauen Rauch war nicht die einzige.«
»Wer so eine Waffe einsetzt, ist ein Ungeheuer.«
»Da widerspreche ich dir nicht«, erwiderte Janel leise.
Kihrin beugte sich nach vorn und rieb sich mit den Handflächen über die Augen. »Es ist falsch. Und ich weiß immer noch nicht, wie viele Leute in der Hauptstadt gestorben sind. Ich weiß nicht, ob du davon gehört hast …«
»Habe ich«, erwiderte Janel. »Was dort passiert ist, war nicht deine Schuld.«
»Wenn ich nicht zurückgekommen wäre …« Er verstummte und starrte in den Kamin.
»Wenn du nicht zurückgekommen wärst, wäre Gadrith noch am Leben, oder wie auch immer man seinen andauernden Zustand von Nicht-Verwesung bezeichnen kann.«
Kihrin runzelte die Stirn. »Das klingt beinahe, als hättest du ihn gekannt.«
»Vielleicht habe ich das. Aber wir wollen der Geschichte nicht vorgreifen. Lassen wir Bruder Qaun weitererzählen.« Sie lächelte. »Diesen Teil liebt er.«
»Tue ich nicht«, protestierte Qaun. »Er ist viel zu traurig.«
Dennoch begann er, begierig zu lesen.
Qauns Schilderung. Mereina, Provinz Barsine, Jorat, Quur.
Bruder Qaun widerstand dem Drang, sich zu Boden zu werfen und zu Selanol zu beten, als er die Sonne erblickte. Denn das bedeutete, dass der Rauch die Stadt nicht erreicht hatte. Es gab also Überlebende.
Zumindest ein paar.
Am Rand der Stadt hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Es waren nicht mehr als ein paar Dutzend, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Nähe des Turnierplatzes gewesen waren, als die Katastrophe passierte. Und selbst von ihnen hatten nicht alle überlebt, denn einige hatten sich in den Rauch gewagt, um nach Freunden und Familienmitgliedern zu suchen. Die Leichen, die gerade noch innerhalb der Wolke lagen, zeugten von dem Schicksal, das diese Leute ereilt hatte.
Den Tieren war es besser ergangen als den Menschen – ihr angeborener Instinkt hatte sie rechtzeitig die Flucht ergreifen lassen. Auf den Straßen streunten Rudel von Rothunden umher, sie waren unruhig und gereizt. Alle sechs Elefanten, die sich auf dem Markt neben dem Turnierplatz befunden hatten, waren entkommen. Sie liefen zwischen den vertrauten Stadtbewohnern umher, um sich zu beruhigen, oder trompeteten einander zu. Eine Handvoll Pferde hatte ebenfalls überlebt, aber die meisten waren in ihren Pferchen gestorben.
Bruder Qaun beobachtete, wie Janel sich an die Arbeit machte. Er selbst war wie betäubt und noch nicht bereit, sich mit den jüngsten Ereignissen auseinanderzusetzen. Hätte er Janel nicht gekannt, hätte er ihr Alter niemals erraten. Der Graf schien gegen die vielen Toten und all das Grauen immun. Während Qaun darum kämpfte, nicht zusammenzubrechen, befahl der Graf den Überlebenden, sich in Gruppen aufzuteilen und die Stadt nach Leuten abzusuchen, die nicht auf dem Turnier gewesen oder geflohen waren, als der Dämon sich zeigte. Vielleicht hatten sie sich in ihren Häusern verschanzt und beteten, dass der Schrecken bald vorbei sein möge. Anderen befahl Janel, Proviant zusammenzusuchen, Wagen zu beschaffen und alles für eine Evakuierung vorzubereiten.
Sie war für solche Situationen ausgebildet worden, dachte er sich. Darauf getrimmt, die Stimme zu sein, der in einem Notfall alle folgen würden. Janel sah sich als Anführerin, und damit war sie das auch. 60
Bruder Qaun beobachtete, wie Leute in ihre Vorgärten gingen und einfach verschwanden. Erst einen Moment später begriff er, was er dort sah: Rampen. In jedem Garten führte eine hinab ins Erdreich oder in die Hügelflanke hinein, als hätten die Mereiner vergessen, Häuser über ihren Kellern zu errichten. Bei den gemauerten Ziegelringen, die er für Feuerstellen gehalten hatte, handelte es sich in Wahrheit um Kamine.
Da hörte er Rufe und erwachte aus seiner Trance. Dango versuchte gerade, für Ruhe unter den Überlebenden zu sorgen. Janel hatte sich einen langen roten Mantel umgelegt, den sie auf dem Markt gefunden haben musste. Dass sie darunter eine Rüstung trug, war offensichtlich, doch ihre Verkleidung als Schwarzer Ritter war nicht mehr zu sehen. Sie kletterte auf Arasgons Rücken und sprach von dort oben zu der Menge.
»Auf Mereina wurde heute ein Anschlag verübt«, begann sie. »Mit schwarzer Magie ist jemand über seine Bewohner hergefallen. Der blaue Rauch, den ihr in unserem Rücken seht, ist Hexenwerk und tötet jeden, der ohne entsprechenden Schutz in seine Nähe kommt. Wir wissen nicht, wann er sich auflösen wird, aber wir können die Toten nicht verbrennen, solange der Rauch noch da ist. Aus diesem Grund darf nach Sonnenuntergang niemand mehr hier sein.«
»Was ist mit dem Torstein?«, rief jemand von ganz hinten.
»Was soll damit sein?«, fragte Sir Baramon. »Er befindet sich im Schloss! Genauso gut könnte er auf dem Boden des Jorat-Sees liegen.«
Ninavis runzelte die Stirn. »Was passiert, wenn der Wächter das Tor morgen früh öffnet?«
Janels Miene wurde verschlossen, und sie zögerte.
»Kommt drauf an, ob er dumm genug ist, durch das Tor zu treten, würde ich sagen.« Dorna wischte sich die mit Chilisoße verschmierten Finger an ihrem Rock ab. »Eigentlich ist das genau seine Aufgabe, damit all die Turniergäste und Reisenden zurück nach Hause können. Wenn er aber die Augen offen hält, wird er schön bleiben, wo er ist. Er wird den Rauch sehen und den Leuten vom Haus D’Aramarin sagen, dass etwas schiefgelaufen ist. Aber wenn er nicht aufpasst …« Dorna zuckte die Achseln. »Dann bringt ihn entweder dieses blaue Zeug um, oder er läuft der Höllenbrut in die Arme, die hier inzwischen ihr Unwesen treiben wird, und die bringen ihn um.«
»Aber selbst das wäre gut, oder? Sobald die Torwächter merken, dass einer von ihnen fehlt, wird das Heer ausgesandt«, warf Dango ein. »Dann schicken sie die Armee durch das Tor.«
»Nein«, widersprach Kalazan. »Das ist das Letzte, was sie tun werden.«
Janel nickte ihm zu. »Er hat recht. Wenn der Wächter morgen durch das Tor tritt, um die Turnierbesucher auf die Heimreise zu schicken, fällt er entweder dem Rauch zum Opfer oder den von den Dämonen besessenen Leichen, und das Tor bleibt geschlossen. Und wenn er schlau genug ist, nicht hindurchzutreten, bleibt es trotzdem zu. Es gibt ein Protokoll für solche Fälle, und das wird unter allen Umständen eingehalten.«
»Ein Protokoll?« Diese Frage kam von einem anderen – es war Gozen, an dessen Stelle Janel auf dem Turnier gekämpft hatte.
»Die Tore sind Quurs größte Stärke«, erläuterte Janel. »Und unsere größte Schwäche. 61 Wenn nur ein einziges davon einem Feind in die Hände fällt, kann er binnen Sekunden eine ganze Armee an jeden beliebigen Ort des Reiches bringen. Jedem Adligen in jeder Provinz wird eingeschärft, was in so einem Fall zu tun ist, seien die Feinde Sterbliche oder Dämonen: Der betreffende Torstein wird abgeschrieben und die quurische Armee öffnet ein anderes Tor irgendwo in der Nähe. Niemals jedoch hier. Nur wenn dies ohne Gefahr möglich ist, marschiert das Heer hierher, um nachzusehen, was passiert ist, und das dauert mindestens eine Woche.«
»Eine Woche?«, keuchte Ninavis. »Bis dahin ist jeder Tote hier in der Gegend wiederauferstanden!«
»Ich weiß.«
»Aber wie sollen wir …?«
»In der Nähe von Mereina gibt es acht Torsteine, die das Heer benutzen könnte«, sprach Janel weiter. »Welches sie nehmen, wird nach dem Zufallsprinzip entschieden, um dem Feind jede Möglichkeit zu nehmen, das Tor zu erraten und einen Hinterhalt zu legen. Wenn wir den Soldaten entgegenreiten und ihnen erklären wollen, was hier passiert ist, werden wir uns aufteilen müssen, und zwar in neun Gruppen. Acht reiten zu den infrage kommenden Toren, um das anrückende Heer abzufangen.«
»Und was ist mit der neunten Gruppe?«, fragte jemand.
Janel schaute Ninavis an. »Nicht alle hier können schnell genug reisen. Es sind Kinder unter uns, Verletzte, Kranke und Alte. Sie müssen an einen sicheren Ort gebracht werden. Heute Abend ist kein lebendiges Wesen in dieser Stadt mehr sicher. Da dies nicht meine Provinz ist, gebe ich die Frage zurück an euch: Wo finden wir hier Schutz?«
Gemurmel erhob sich, alle schauten einander fragend an. »Die alte Mühle vielleicht …«
»Tolle Idee, da passen gerade mal zwei Leute rein, und halb verfallen ist sie außerdem.«
»Was ist mit Kaltwasser? Da wohnt im Moment niemand mehr.«
»Und Kaltwasser selbst gibt es auch nicht mehr.«
»Wie bitte? Was ist passiert …?«
»Dedreugh hat es niedergebrannt.«
Ninavis seufzte. »Ich weiß einen Ort.«
Janel hatte die ganze Zeit über nur Ninavis angeschaut. Sie musste gewusst haben, dass die Banditin einen Zufluchtsort kannte, hatte ihr aber die Chance gegeben, selbst damit herauszurücken.
Ninavis’ Worte schienen den anderen eine Last von den Schultern zu nehmen. Jem Nakijan nickte, ebenso Gerber, Vidan und Gan, die Nun-definitiv-doch-nicht-Müllerstochter.
»Genau«, sagte Dango. »Dort ist Platz genug für uns alle.«
»Gut.« Janel deutete auf die Menge. »Ich brauche eure acht besten Reiter und jedes verfügbare Pferd. Freiwillige vor.«
Während Janel und die anderen über die Zusammensetzung der Gruppen diskutierten, konzentrierte Bruder Qaun sich wieder auf Baron Tamin. Seine Versuche, den Rauch aus Tamins Lunge zu ziehen, waren wenig erfolgreich verlaufen, trotzdem ging es dem Baron besser, seit sie aus der Wolke heraus waren. Die wilde Panik in seinen Augen machte Bruder Qaun am meisten zu schaffen – der Baron hatte den Blick eines Mannes, der bei vollem Bewusstsein war und jeden fehlgeschlagenen Versuch, seine Lunge zu befreien, mitbekam.
»Funktioniert die Rune bei ihm nicht?« Dorna kniete sich neben Tamin und schaute ihm in die Augen, in die Nase und den Mund. Der Baron röchelte immer noch, schien dem Tod aber nicht mehr ganz so nah.
»Sie reinigt die Luft, aber sie scheint nichts gegen das Gift ausrichten zu können, das bereits in seiner Lunge ist. Die frische Luft kann nicht hinein.« Bruder Qaun schüttelte den Kopf. »Dieses Schriftzeichen, Dorna … Ich habe noch nie etwas dergleichen gesehen.«
Die alte Frau runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Du hast doch damit angefangen. Ich habe es nur nachgemalt.«
»Aber es hätte nicht funktionieren dürfen! Der einzige Grund …« Er hielt inne. »Ich werde es dir später erklären. Im Moment muss ich einen Weg finden, seine Lunge zu reinigen.«
Dorna schaute Bruder Qaun an, als läge die Lösung auf der Hand.
Bruder Qaun blinzelte. »Was siehst du mich so an?«
Sie beugte sich ein Stückchen näher. »Du bist doch der Gebildete von uns beiden. Der mit der Lizenz vom Blauen Haus und so.«
»Ich habe dir nie …« Bruder Qaun senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich habe dir nie erzählt, dass ich eine Lizenz der Heilergilde habe.« Er sprach nicht über solche Dinge, wenn er in Jorat war. Die Einheimischen würden es nicht gut aufnehmen, dass er ein ausgebildeter und lizenzierter Zauberer war. Die Torwächter wurden in Jorat nur toleriert, weil das quurische Militär und Jorats wirtschaftliche Stabilität auf sie angewiesen waren. Gegenüber heidnischer Magie drückte jeder gerne mal ein Auge zu, wenn sie es ihm ermöglichte, quer durch das gesamte Reich zu jedem Turnier seines Lieblingsritters zu reisen.
»Richtig. Aber ich habe gehört, wie der alte Graf vor seinem Tod von deinem Orden gesprochen hat. Dass ihr Bücherwürmer seid und so.«
»Dorna, das Letzte, was ich jetzt brauche, ist verhöhnt zu werden …«
Sie verdrehte die Augen und deutete auf Tamin. »Dann erklär mir eins, Priester: Gleich und gleich gesellt sich doch gern, oder? So viel wirst du in deiner tollen Ausbildung ja wohl gelernt haben.«
»Worauf willst du …?« Er verstummte.
Bruder Qaun starrte Dorna entgeistert an und fragte sich ein paar bedeutungsschwangere Sekunden lang, was in aller Welt sie meinte. Gegen den Hexenrauch in den Lungenflügeln des Barons konnte er nichts ausrichten. Aber wenn er die verhexten Dämpfe an etwas band, das ihnen ähnlich war – gewöhnlicher Rauch beispielsweise –, konnte er die Verbindung zwischen beiden Substanzen so weit verstärken, dass das, was mit dem einen passierte, auch mit dem anderen geschah. Er drehte sich zu seiner Tasche um und begann, sie zu durchwühlen. »Eine Kerze«, murmelte er. »Ich brauche eine Kerze.«
»Mhm.« Dorna hielt ihm eine kleine Bienenwachskerze hin und zog sie wieder weg, als er danach griff. »Nicht hier«, sagte sie. »Hast du den Verstand verloren, Fohlen? Soll uns vielleicht die ganze Stadt dabei zusehen? Besser, wir bringen ihn zur Hufschmiede.«
Bruder Qaun merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, doch er konnte ihr nicht widersprechen. Wenn die Einheimischen sahen, wie er Magie anwendete, würden sie nicht lange fragen, ob er vielleicht Priester war, sondern mit Knüppeln und Messern auf ihn losgehen.
Erst jetzt begriff er, dass Dorna offensichtlich wusste, wie Analogiezauber funktionierten. Er würde sie ein andermal darauf ansprechen müssen.
»Du nimmst ihn an den Schultern«, sagte Dorna und ergriff die Füße des Barons.
Qaun tat, wie ihm geheißen, dann wankten sie los und duckten sich unter den großen Fahnen hindurch, hinter denen die Freiluftwerkstatt des Schmieds lag.
Natürlich, dachte Bruder Qaun. Pferde gingen nun einmal nicht gerne in einen Keller, auch nicht über eine Rampe.
Die Mereiner schienen so sehr auf Janels Anweisungen konzentriert, dass sie gar nicht auf ihn und Dorna achteten. Bruder Qaun hoffte nur, dass auch wirklich niemand sie gesehen hatte.
Er hob ein Stück Reisig vom Boden auf und öffnete die Tür zur eigentlichen Werkstatt. In diesem Teil Quurs wurden Pferde nur selten mit Hufeisen beschlagen. Wahrscheinlich wurde die Schmiede hauptsächlich während der Turniere für Ausbesserungsarbeiten an den Rüstungen benutzt und dergleichen. Das bisschen Glut, das sich noch im Ofen befand, reichte gerade aus, um das Reisig zu entzünden und damit schließlich Dornas Kerze.
Die Kerze war von schlechter Qualität und qualmte stark – gewöhnlicher Rauch, dick und grau. Perfekt.
Qaun setzte sich im Schneidersitz auf den mit Stroh ausgelegten Boden, die Kerze in einer Hand. Er betrachtete den Rauch, der kräuselnd von der kleinen orangefarbenen Flamme aufstieg, dann Tamins zuckenden Brustkorb. Er machte tiefere Atemzüge und versuchte, sich in den Zustand der Erleuchtung zu versetzen.
Es war nicht leicht. Bruder Qaun hatte zu viele Schrecken gesehen. Die Szenen, die er beobachtet hatte, spukten wie Gespenster durch seine Gedanken. Schließlich gelang es ihm, sich so weit zu beruhigen, dass er sah , wenn auch nicht mit seinen Augen.
Eine dunkle, zuckende Masse wirbelte in Tamin und kämpfte gegen das goldene Strahlen in seinem Körper an. Das Licht verdrängte den blauen Qualm, doch sobald es sich zurückzog, nahm die Dunkelheit ihren Platz wieder ein.
Die blaue Energie troff nur so vor Bösartigkeit. Bruder Qaun zwang ihr seinen Willen auf und merkte, dass sie reagierte wie ein Lebewesen. Sie zuckte vor ihm zurück, entglitt seinem Griff.
Rauch , sagte er sich. Du bist nichts als Rauch .
Schweißtropfen vermischten sich mit dem Staub und der Asche auf seiner Stirn, doch er ließ nicht nach, weigerte sich aufzuhören. Der Sieg kam so plötzlich, dass Bruder Qaun schwankte, als hätte die Erde unter ihm gebebt.
Bislang hatte Tamins Husten sich angehört, als erstickte er an einer Gräte; jetzt klang er nur noch nach einer heftigen Erkältung. Der Baron würgte, spuckte Schleim aus, rollte sich auf die Seite und übergab sich. Rauch stieg aus seiner Nase und seinem Mund.
Gewöhnlicher Rauch.
Tamin drehte sich keuchend wieder auf den Rücken. Er schloss die Augen und atmete mit bebendem Brustkorb ein. Auch sein Gesicht bekam wieder eine mehr oder weniger normale Farbe.
Dorna klopfte Bruder Qaun auf die Schulter. »Gut gemacht, Fohlen.«
Qaun richtete sich auf. »Wie lange weißt du schon Bescheid?«
Die alte Frau zuckte die Achseln und betrachtete ihre Fingernägel. »Glaubst du, ich merke es nicht, wenn ein Soldat mit eingeschlagenem Schädel nicht an seiner Verletzung stirbt? Ich bin alt, aber nicht blind.« Sie nahm einen Hufauskratzer von der Werkbank, untersuchte die Spitze und steckte ihn wie beiläufig ein. »Dir hat wohl nie jemand erklärt, was ›vom Blut des Joras‹ bedeutet, oder?«
»Ich brauche …« Tamins rauhe Stimme hörte sich nur vage menschlich an.
»Was Ihr braucht, ist ein ordentlicher Tritt in den Hintern«, sagte Dorna. Sie packte den Baron am Kragen, zog ihn auf die Beine und schleifte ihn hinter sich her. Normalerweise hätte sie das niemals gekonnt, doch Tamin hatte alle Kraft verlassen. Er stolperte hinter Dorna her und konnte sich gerade so auf den Beinen halten. Als sie die Straße erreichten, brüllte er etwas Unverständliches.
Bruder Qaun folgte den beiden, unsicher, ob er wirklich sehen wollte, was als Nächstes passieren würde.
»Mein Graf!«, rief Dorna.
Janel drehte sich um. Als sie Tamin erblickte, kam sie sofort heran. »Ihr habt ihn geheilt.«
Qaun konnte nicht heraushören, ob sie froh darüber war oder nicht. Vielleicht wusste Janel es selbst nicht.
»Wenigstens wird er nicht an dem Rauch sterben«, erwiderte Dorna. »Trotzdem ist er noch lange nicht wieder gesund.«
»Janel …«, keuchte Tamin.
Ihre Kiefermuskeln zuckten. Mit bebenden Nasenflügeln starrte sie den Baron an und ballte die Fäuste. »Wer war diese Frau, Tamin? Die Dienerin des Verwesers. Die Fremde.«
»Ich …« Seine Stimme klang wie mahlende Felsen. »Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht … was sie … was sie vorhatte.«
»Ich habe dich nicht gefragt, ob du Bescheid wusstest. Sondern wer sie ist.«
Sie zogen Zuhörer an. Ninavis und Kalazan hielten die Umstehenden zurück und mahnten sie zur Geduld. Janel ignorierte sie.
»Sie war …« Der Baron leckte sich über die Lippen. »Sie war eine Sklavin. Aus Doltar. Senera. Ihr Name ist Senera.«
Janels Blick wurde noch finsterer. »Die Soldaten haben ihren Befehlen gehorcht. Sklaven kommandieren keine Soldaten.« 62
»Relos sagte … er hat gesagt, sie ist eine Sklavin. Er hat sie aus …« Tamin krümmte sich. »Wasser?«
Janel beugte sich zu ihm hinunter, während Bruder Qaun nach seinem Wasserschlauch griff. »Wer ist dieser Relos Var? Erzähl mir von ihm.«
Qaun reichte Tamin seinen Wasserschlauch. Der Baron trank in hastigen Schlucken. Das Wasser schien ihm gut zu tun, denn danach klang seine Stimme viel besser. »Was habe ich getan?«
»Zu viel und nicht genug. Konzentriere dich, Tamin. Wer ist Relos Var?«
Tamin versuchte, sich aufzusetzen, Bruder Qaun stützte ihn. »Ein Lehrer. Mein Vater hat ihn eingestellt, damit …« Er zögerte.
»Damit was?«
Die Augen des Barons wurden glasig. Er nahm einen tiefen Atemzug. »Um mir die Hexerei auszutreiben.«
Jemand in der Menge schnappte laut nach Luft. Ein anderer fluchte. Dorna drehte sich mit in die Hüfte gestemmten Händen um. »Ruhe, ihr da. Lasst den Mann ausreden, sonst bekommt ihr es mit mir zu tun, verstanden?«
Janel neigte den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Hexerei lässt sich nicht austreiben wie das Rote Fieber oder die Pocken.«
»Ich wollte keine Hexe sein«, sprach Tamin weiter, »aber ich konnte … ich konnte nichts dagegen tun. Es liegt in meiner Natur.« Er erwiderte Janels Blick. »Du weißt, wie sich das anfühlt.«
Janel legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel, als spräche sie stumm zu ihren Göttern, dann wandte sie sich wieder ihrem Kindheitsfreund zu. »Ich bin ziemlich sicher, dass ich das nicht weiß. Also erzähl’s mir. Erzähl mir, warum du eine Hexe bist, obwohl du keine sein willst.«
»Weil ich verflucht bin. Es hat angefangen, als ich noch ein Kind war«, antwortete er. »Ich konnte verletzte Tiere heilen, Schnittwunden und Prellungen. Ich wusste nicht, dass das, was ich tat, falsch war. Wenigstens am Anfang nicht. Dann …« Er runzelte die Stirn. »Dann wurde mein Vater auf der Jagd schwer verletzt. Ich liebte ihn über alles, also … habe ich ihn gerettet.«
»Ihr armer Tropf«, murmelte Bruder Qaun. »Wärt Ihr in einem anderen Land geboren, hätte Eure Gabe Euch ein Stipendium an der Akademie eingebracht und noch eines von der Heilergilde. Ihr seid keine Hexe, Ihr seid ein Zauberer.«
Tamin schaute den Priester verwirrt an. »Ich kann Magie wirken. Das ist Hexerei.«
»Ich gehe davon aus«, mischte Janel, die mit dem Gesprächsverlauf höchst unzufrieden schien, sich wieder ein, »dass dein Vater deine Gabe nicht toleriert hat.«
»Er …« Tamin biss die Zähne zusammen und schaute weg. »Nein, hat er nicht.«
»Ist es da nicht eigenartig, wie gut du dich mit dem Mann angefreundet hast, den er zu deiner Bestrafung eingestellt hatte?«
»Nein, so war es nicht. Relos Var ist ein großartiger Mann. Er hat mir gezeigt, dass ich mich nicht schämen muss. Dass ich nicht verbergen muss, was ich bin.« Seine Stimme wurde leiser, sein Blick wanderte zum Turnierplatz. »Und als mein Vater …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
»Was ist mit deinem Vater passiert?« Tamin schloss die Augen.
»Ich glaube, ich kann’s mir lebhaft vorstellen«, warf Dorna ein. »Magie war seinem Vater verhasst, und dann lernt Tamin direkt unter seiner Nase, sie anzuwenden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er seinen Sohn dabei erwischte.«
Janels Miene verfinsterte sich noch mehr. »Was hast du getan, Tamin?«
»Es war nicht meine Schuld.«
»Du bist der Baron von Barsine. Alles, was in deiner Provinz passiert, ist definitionsgemäß deine Schuld.« 63
Der Zorn in ihrer Stimme ließ Tamin zusammenzucken. »Relos Var sagte, ich sei von Hexen verflucht worden. Du musst wissen, wie das ist. Du bist selbst verflucht.«
Janels Nasenflügel bebten. »Wer hat dir das erzählt?«
»Relos Var. Es stimmt doch, oder? Du bist verflucht.«
»Nicht von Hexen.«
»Das macht keinen Unterschied.«
Bruder Qaun fasste den Baron an der Schulter. »O doch, tut es«, widersprach er, aber Tamin schien ihn gar nicht zu hören. »Habt Ihr Euren Vater umgebracht, Tamin?«
Der Baron blickte sich um. Die Menge stand in einem Kreis um sie herum, alle hörten zu, beobachteten ihn, warteten auf seine Antwort.
»Ich habe ihn nicht getötet«, antwortete er schließlich, »sondern … die Heilung rückgängig gemacht. Vollständig. Die Jagdverletzung hätte ihn getötet, also … geschah das jetzt auch.«
Bruder Qaun blinzelte. »Das kann nicht sein.« Er beugte sich an Janels Ohr und flüsterte: »So funktioniert Heilen nicht. Man kann es nicht rückgängig machen.«
Der Graf nickte und bedeutete Bruder Qaun, still zu sein. Dann wandte sie sich wieder an Tamin. »War es Relos Vars Idee oder deine, den Burgvogt als Mörder deines Vaters hinrichten zu lassen?«
»Es war …« Eine Dunkelheit trat in den Blick des Barons, und er verstummte. Er sah aus wie jemand, der gerade aus einem Albtraum erwachte.
Ein kleines Mädchen kam mit einem Korb heran und unterbrach die Stille. »Stute Xala hat Euch gedämpfte Teigtaschen zum Abendessen gemacht.« Die Kleine war höchstens sechs Jahre alt, ihre Haut war dunkelrot, ihre Fingerkuppen weiß. Sie schniefte, wischte sich über die Nase und eilte zurück zu einer älteren Frau. »Habe ich es richtig gesagt?«
Die Frau nickte. »Hast du, Fohlen.« Sie warf Tamin ein Kleidungsstück aus grüner Wolle zu. »Ihr werdet auch einen Mantel brauchen, damit Ihr nicht friert.«
Dorna richtete sich auf und legte Janel eine Hand auf den Arm.
Die Augen des Barons weiteten sich.
Bruder Qaun spürte, wie die Stimmung in der Menge umschlug, aber er verstand weder den Grund dafür, noch, was es zu bedeuten hatte. Tamins Blick wurde verwirrt, dann panisch.
»Nein.« Der Baron schüttelte den Kopf. »Nein, ich brauche eure Geschenke nicht …«
»Ihr werdet annehmen, was immer wir Euch geben«, sagte Kalazan leise. Er zog einen Dolch aus der Gürtelscheide und legte ihn vor Tamin ab. »Hier habt Ihr ein Messer, um Euch zu verteidigen.«
»Ich habe ein paar alte Satteltaschen für Euch«, fügte Dango hinzu. »Der Weg vor Euch ist lang.«
Bruder Qaun zupfte Dorna am Ärmel. »Ich verstehe das nicht. Er hat gerade gestanden, dass er den alten Baron getötet und den Mord Kalazans Vater in die Schuhe geschoben hat. Warum beschenken sie ihn dann noch?«
Dorna verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete, wie die Mereiner weitere Gaben brachten: einen Sack, ein Seil, ein paar getrocknete Äpfel.
»Das sind keine Geschenke …« Sie schloss die Augen und suchte nach dem richtigen Wort auf Guarem. Schließlich deutete sie auf die Menge. »Eher so eine Art, ähm, Entlassungsgeld.« 64
»Wie bitte? Ich verstehe nicht ganz.«
Ein Bürger nach dem anderen kam herbei. Bruder Qaun konnte sich nicht vorstellen, wie sie ohne die Dinge, die sie verschenkten, zurechtkommen sollten, und doch schenkten sie – wenn auch ohne jede Herzlichkeit. Sie überreichten dem Baron ihre Gaben wie einen Giftbecher, jedes Geschenk war wie ein Stoß mit dem Messer.
Tamin begann zu weinen.
Mit tränennassem Gesicht stand er auf. »Bitte, Janel. Bitte lass das nicht zu …«
»Es nicht zulassen?« Sie schaute ihn ungläubig an. »Es ist ihr gutes Recht.«
Alte Wut flammte in seinen Augen auf. »Du Heuchlerin! Du bist nur hier, weil du vor deiner eigenen Entmachtung geflohen bist! Wie kannst du mir vorwerfen, dass ich nicht auf mein Geburtsrecht verzichten will, wo du selbst vor dem gleichen Schicksal davonläufst!«
Janels Atem stockte. Einen Moment lang glaubte Bruder Qaun, Janel würde Tamin ohrfeigen, doch sie ballte nur die Fäuste. »Ich versuche nicht, der Gerechtigkeit zu entfliehen. Ich bin auf der Flucht vor einem Schuft, der versucht hat, den Kanton Tolamer und seine Bewohner – meine Schutzbefohlenen  – zu kaufen. Durch Bestechung wollte er sie dazu bringen, mich zu entmachten, falls ich mich weigerte, sein Bett zu teilen. Der Leichnam meines Großvaters war noch nicht einmal kalt, da kam Sir Oreth schon mit seinen Soldaten an, mit einem Ultimatum und einem Räumungsbefehl«, berichtigte Janel. »Ich habe meine Leute nicht an Hexen, yorische Spione und Dämonen ausgeliefert, die ihre Seelen auf direktem Weg in die Hölle schicken.«
»Ich habe von all dem nichts gewusst!«, brüllte Tamin.
»Was ein weiterer Beweis dafür ist, dass du noch zu jung und zu naiv bist, um dich nicht von anderen für ihre Zwecke einspannen zu lassen.«
Tamin lachte schluchzend. »Zu jung? Ich bin ein Jahr älter als du, Janel.«
»Und dennoch in jeder Hinsicht so unendlich viel jünger.«
Tamin stand mühsam auf, die Decken, eingewickelten Lebensmittel und anderen Geschenke ignorierte er. »Dann willst du also nichts unternehmen? Du bist ein Graf!«
»Aber nicht dein Graf!«, schrie Janel.
Alle Gespräche verstummten. Die Umstehenden spitzten die Ohren.
»Und dafür solltest du dankbar sein«, fuhr Janel etwas leiser fort. »Denn für das, was du hier angerichtet hast, würde ich dich hinrichten lassen. Ich würde das Schwert sogar selbst führen, verstehst du? Ich habe gesehen, wie du einen Mann zum Tode verurteilt hast, von dem du wusstest, dass er unschuldig war. Du hast deinen eigenen Vogt für ein Verbrechen töten lassen, das du begangen hast. Du hast gelacht, als ein Dämon, den du herbeigerufen hattest, einen Ritter und ihren Knappen abschlachtete und das Turnier in eine Farce verwandelte. Du hast Unschuldige als angebliche Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt und hättest es auch weiterhin getan. Und all das für diesen Relos Var und eine Prophezeiung, die er sich wahrscheinlich selbst ausgedacht hat. Bitte mich nicht, mich einzumischen, Tamin. Denn was ich dann täte, würde dir nicht gefallen.«
Bruder Qaun fiel auf, dass Janel Tamin seit ihrem Kampf mit Dedreugh kein einziges Mal mehr mit Baron angesprochen hatte.
Ein paar angespannte Momente lang herrschte Stille. Gan, die Müllerstochter – oder besser gesagt Ganar Venos, die Tochter von Verweser Dokmar –, kam mit einem alten Gaul heran. Sie lächelte Tamin an, auch wenn es sie einige Anstrengung zu kosten schien. »Ich habe diese Stute für dich gesattelt. Mir wurde gesagt, sie heißt Orchidee. Im Dunkeln sieht sie nicht mehr so gut, also solltest du versuchen, bis Sonnenuntergang möglichst weit zu kommen.«
»Gan …«, begann Tamin ergriffen.
»Nicht«, sagte Gan. »Wag es bloß nicht. Du musst gehen, Tam, sofort.« Sie musterte den Mann, den sie einmal hatte heiraten wollen. »Wenn Kalazan jetzt sein Schwert zieht, würde ich nicht dazwischengehen. Ich würde ihm sogar zujubeln, wenn er dir den Kopf abschlägt.«
Tamin schluckte. Dann sammelte er seine Geschenke auf, stopfte sie in die Satteltaschen und stieg auf das Pferd.
Er ritt nach Süden. Die Überlebenden schauten ihm stumm hinterher. Und dann, als Tamin jenseits all der wehenden Banner von Barsine verschwunden war, blickten sie den Grafen erwartungsvoll an.
Janel erwiderte den Blick, stutzte und schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, auf keinen Fall. Ich bin bereits Graf von Tolamer. Ich kann nicht auch noch Baron von Barsine sein.«
»Aber wer dann?«, fragte Dango. »Ich mach’s bestimmt nicht.«
Bruder Qaun runzelte die Stirn. »Ihr könnt doch nicht einfach …« Er wandte sich an Dorna. »Wollen sie … etwa selbst bestimmen, wer ihr neuer Baron wird? Hat nicht Tamins Lehnsherr das Recht …« Er biss sich auf die Lippe. »Wird der hiesige Graf nicht etwas dagegen haben, dass gewöhnliche Bürger Baron Tamin einfach absetzen?«
Dorna starrte ihn an. »So läuft das bei uns nicht, Füllen. Ich weiß ja nicht, wie ihr die Dinge in Kazi-so-und-so handhabt …«
»Ich stamme aus Eamithon. «
»Wie auch immer. In Jorat bleibt ein Hengst, der seine Herde nicht beschützen kann, ganz bestimmt nicht der Anführer. Führen und Beschützen sind bei uns ein und dasselbe.«
»Aber eine Herde wird nicht von Hengsten angeführt, sondern von Stuten.« Dieser Widerspruch plagte Qaun schon seit seiner Ankunft in Jorat.
Dorna verdrehte die Augen. »Hör auf, von Pferden zu sprechen, wenn es um Politik geht. Bei uns werden die Menschenherden von Hengsten angeführt, und nur von Hengsten. Und wer soll entscheiden, wer der neue Anführer wird, wenn der alte Hengst verjagt wurde, weil er seiner Aufgabe nicht gewachsen war? Bestimmt nicht irgendein anderer Herdenführer, der irgendwo meilenweit weg ist. Nein, mein Fohlen, die Herde selbst entscheidet das.« Sie schüttelte den Kopf. »Deswegen habe ich Tamin auch nichts geschenkt. Er war nicht mein Baron, also gebe ich ihm auch kein Thudajé.«
Das Ganze hörte sich für Bruder Qaun so ketzerisch an, dass ihm beinahe schwindlig wurde. 65 Dabei hatte Dorna ganz nüchtern gesprochen: Natürlich wählten die Leute ihre Anführer selbst, natürlich bestimmte die Herde über ihre Geschicke. Wie sollte es auch anders sein? Und wenn ein Anführer seine Sache schlecht machte, dann bat die Herde ihn einfach … zu gehen. Nicht einmal das. Tamin hatte von selbst begriffen, dass er gehen musste.
Gan legte Kalazan eine Hand auf den Arm. »Du solltest der neue Baron sein.«
»Ich? Aber …« Er hielt inne und wandte sich an Ninavis. »Nein, du bist die Richtige. Du hast die Gefahr als Erste erkannt. Du hast uns in den Kampf gegen Tamin geführt.«
Ninavis schüttelte den Kopf. »Oh, bestimmt nicht. Ich weiß nicht das Geringste übers Herrschen, und ich will es auch gar nicht wissen. Ich bin eine Diebin, keine Adlige. Die Provinz Barsine gehört dir. Die Glücksgöttin Taja sei mit dir.«
Kalazan schluckte und blickte in die Menge. »Wenn ihr alle dieser Meinung seid, dann stelle ich mich natürlich der Verantwortung.«
Die Umstehenden murmelten zustimmend, das lauteste Ja kam von Ninavis und ihren Leuten.
»Schön«, sagte Janel, »eine gute Wahl. Aber jetzt …«, sie senkte beinahe entschuldigend den Kopf, »… brauchen wir eure acht besten Reiter und alle Pferde, die ihr habt, damit sie sich mit dem Tragen abwechseln können, wenn sie müde werden.«
»Alle Pferde?«, fragte Dorna. »Aber doch wohl nicht Taschenbeißer? Was ist mit Wolke?«
Janel erwiderte ihren Blick wehmütig. »Doch, Dorna, unsere Pferde auch. Wir können keine Ausnahmen machen. Die acht Gruppen reiten zu den Toren, um die Nachricht zu überbringen oder das Heer zu warnen, wenn sie ihm unterwegs begegnen. Alle anderen gehen zu Ninavis’ Unterschlupf.«
»Alle anderen? Du kommst mit?« Ninavis klang überrascht.
»Selbstverständlich. Du wärst schon einmal beinahe zu Schaden gekommen. Das werde ich nicht noch einmal zulassen.«
Die Banditin runzelte die Stirn. »Dann begleitet Arasgon uns ebenfalls? Aber dein Pferd …« Sie hielt inne und räusperte sich. »Ich wollte sagen, dein Feuerblüter kann viel schneller laufen als jedes Pferd.«
»Und er trifft seine eigenen Entscheidungen.«
Arasgon warf den Kopf in den Nacken und sagte etwas. Der andere Feuerblüter, Talaras, ebenfalls. Bruder Qaun verstand ihre Sprache nicht, doch es sah aus, als wären sie unterschiedlicher Meinung, was sie tun sollten.
»Ich würde ja zu einem der Tore reiten«, warf Sir Baramon ein, »aber ich bin ein bisschen aus der Übung.«
»Und mächtig außer Form«, ergänzte Dorna.
Der Ritter ignorierte sie. »Talaras findet den Weg auch ohne mich. Wäre nicht das erste Mal.«
Janel überlegte und wandte sich dann an den Feuerblüter. »Ist das dein Wunsch?«
Talaras wieherte und stampfte mit dem Huf auf. Für Bruder Qaun klang das wie ein Ja.
Der Graf nickte. »Gut. Wenn Arasgon uns begleiten will …«
Talaras blaffte Arasgon an, und Arasgon blaffte zurück. Talaras ließ sich nicht beirren und schien gewillt, einen Streit anzufangen.
»Keine Sorge, wir kommen ohne dich zurecht«, beruhigte Janel ihren Feuerblüter. »Wir nehmen die Elefanten mit. Außerdem muss jemand Taschenbeißer und Wolke nach Atrine führen, nachdem eure Aufgabe erledigt ist. Wir kommen nach, sobald diese Leute hier in Sicherheit sind.«
Arasgon wirkte skeptisch, doch er tänzelte ein paar Schritte zur Seite, blies Luft aus den Nüstern und schloss sich dann seinem Bruder an.
Janel hob einen Beutel vom Boden auf. »Gehen wir. Der Rat, den Gan Tamin gegeben hat, gilt auch für uns. Bringen wir vor Sonnenuntergang so viele Meilen zwischen uns und diese Stadt wie möglich.« Sie wandte sich an Ninavis. »Wenn du so freundlich wärst, uns den Weg zu zeigen.«
»Ich hätte dieses Schwein Tamin mein Bein heilen lassen sollen, bevor er aufbrach«, überlegte Ninavis laut. Dann sagte sie zu der Elefantenhüterin: »Sana, glaubst du, eines von deinen Mädels lässt mich auf sich reiten?«
Eine Frau mittleren Alters blickte auf. »Einen Floh wie dich? Tishar wird es nicht einmal merken.« Sie lächelte gezwungen, Tränen standen in ihren Augen.
»Dann lasst die Herde aufbrechen«, sagte Graf Janel. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bis es dunkel wird.«
Die rötlich-orange Sonne versank gerade am Horizont, als sie sich dem Wald näherten, in dem sie ihr Nachtlager aufschlagen wollten. Das Zwielicht verwandelte den blaugrünen Himmel in ein verbranntes Zinnober.
Das Adrenalin brachte sie über die ersten Stunden, doch dann forderten die Schrecken, die sie gesehen hatten, und die Trauer um die Menschen, die sie verloren hatten, ihren Tribut. Die Flüchtlinge versanken in Schweigen. Manche weinten. Sie starrten die Kampferbäume und Zedern vor ihnen an wie einen rettenden See nach einer Wüstendurchquerung.
Wenn sie es bis dorthin schafften, wären sie in Sicherheit.
Ninavis und ihre Leute waren in ihrem Element. Sie dirigierten die Elefanten, sorgten dafür, dass die Erwachsenen die Kinder auf den Schultern trugen, und patrouillierten entlang des Trosses auf und ab, um unangenehme Überraschungen fernzuhalten. All das taten sie scherzend und mit einem Lächeln auf den Lippen, sie sangen Lieder und witzelten mit den Alten über verschwendete Jugendtage. Sie brachten die Leute beinahe dazu, das Entsetzen zu vergessen, vor dem sie flohen.
Beinahe.
Bruder Qaun fiel auf, dass Graf Janel sich ein Stück von der Gruppe entfernt hatte. Sie ging allein und abseits von allen anderen. Dorna kümmerte sich um die Kinder und hatte es gar nicht bemerkt.
Andererseits gehörte es auch nicht zu ihren Pflichten, für Janels emotionales und körperliches Wohlergehen zu sorgen. Das war Qauns Aufgabe.
Als er fast bei ihr war, wischte Janel sich übers Gesicht.
Sie weinte. Stumme Tränen rollten ihr über die roten Wangen.
»Graf …«, begann Bruder Qaun.
Janel drehte das Gesicht weg. »Geh. Die anderen dürfen mich nicht so sehen.«
»Niemand würde Euch vorwerfen, dass Ihr nach diesen Ereignissen aufgewühlt seid, Graf. Es war …« Er suchte nach Worten und fand keine. »Es war entsetzlich.«
Janel schniefte noch einmal, dann warf sie den Kopf in den Nacken und stieß ein kleines Lachen aus. »Ich bin ein Hengst. Die müssen glauben, ich sei stark. Sie dürfen erst merken, dass sie ein zweites Mal auf den Falschen gesetzt haben, wenn das hier vorbei ist und sie in Sicherheit sind.«
»Ihr redet Unsinn, Graf«, widersprach Bruder Qaun. »Wenn Ihr nicht gewesen wärt …«
»Wenn ich nicht gewesen wäre«, entgegnete sie, »wären all diese Leute in Mereina noch am Leben.«
»Das stimmt nicht.« 66
»Ninavis hatte recht: Ich hätte Tamin niederstrecken sollen, als es noch nicht zu spät war. Schließlich bin ich Janel Danorak. Aber ich habe auf meinem Willen beharrt, und jetzt haben wir eine Stadt voller Toter.«
»Wenn Ihr Tamin getötet hättet, wäre damit nichts gewonnen gewesen! Der Hexenrauch war nicht sein Werk, und Ihr hattet keinen Grund, Senera für eine Bedrohung zu halten.«
»Nein, hatte ich nicht«, stimmte Janel zu. »Aber sie hat den Rauch als Reaktion auf das freigesetzt, was mit Dedreugh passiert ist. Weil ich ihn als Dämon Kasmodeus entlarvt habe. Sie tat es, um zu vertuschen, was hier tatsächlich vorging, und sie hat gezeigt, wie weit sie dafür zu gehen bereit ist.« Janel schnitt eine Grimasse. »Ziemlich weit, wie wir nun wissen.«
Bruder Qaun biss sich auf die Lippe. Seiner Meinung nach interpretierte der Graf die Beweggründe der Doltari-Hexe falsch. Aus irgendeinem Grund hatte Senera zufrieden ausgesehen, nachdem Janel Kasmodeus besiegt hatte. Wie nach einer erfolgreich erledigten Aufgabe. Nichts an ihrem Verhalten hatte darauf hingedeutet, dass sie den Vorfall als Rückschlag empfand.
»Ihr dürft Euch nicht die Schuld geben«, sprach Bruder Qaun weiter. »Außerdem hattet Ihr recht: Hättet Ihr Tamin getötet, hätten seine Armbrustschützen Euch erschossen. Glaubt Ihr, Dedreugh hätte das Turnier abgesagt? Oder Senera? Gewiss nicht. Und Ninavis’ Leute wären auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.«
»Glaubst du«, fragte Janel zurück, »die Bürger von Mereina finden das gerecht? So viele Tote, um eine Handvoll anderer zu retten?«
»Ihr habt diesen Zauber nicht gewirkt. Ihr tragt nicht die Verantwortung dafür.«
»Es ist meine Aufgabe , Verantwortung zu tragen. Und ich habe diese Tragödie ausgelöst, indem ich Kasmodeus enttarnt habe.«
»Dann müsst Ihr versuchen, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, so gut Ihr könnt. Ich glaube, Relos Var und Senera würden sich ins Fäustchen lachen, wenn sie sehen könnten, wie Ihr die Schuld für ihre Verbrechen auf Euch nehmt.« 67
Janel blieb stehen.
»Ist es nicht so?«, hakte Qaun nach.
»Ich habe nur … Ich muss …« Ein Schütteln ging durch Janels Körper, dann fing sie sich wieder. »Danke.«
»Gerne geschehen. Aber wir haben noch andere Dinge zu besprechen.«
Sie ging weiter. »Ach ja?«
»Unser Überleben.« Bruder Qaun blickte sich nach den Flüchtlingen um und versicherte sich, dass niemand in Hörweite war.
»Das dürfte nicht so schwer werden, nachdem du uns vor dem Rauch gerettet hast.«
Bruder Qaun blinzelte, und seine Kinnlade klappte für einen Moment nach unten. »Ich, ähm …« Er merkte, wie er beinahe rot wurde. »Nun, ich nehme an, Ihr seid vollkommen unbedarft, was Magie angeht …«
Janel bedachte ihn mit einem Blick, der einen ganzen Wald in Brand gesetzt hätte.
»Das habe ich mir gedacht.« Er räusperte sich. »Ich möchte Euch nicht langweilen, aber lasst mich Euch so viel sagen: das Schriftzeichen, das ich benutzt habe, hat uns das Leben gerettet. Leider habe ich keine Ahnung, warum.«
Der Graf blinzelte. »Ich auch nicht. Aber ich bin davon ausgegangen, dass Ihr in dieser Angelegenheit mehr wisst als ich.«
»Alle Dinge haben … Energie … in sich. Man nennt sie Tenyé. Es ist die Lebensessenz in Euch, in mir, in diesem Baum dort drüben. Zwischen dem Tenyé eines Gottes und dem eines Zauberers besteht nicht der geringste Unterschied, außer dass der Gott mehr davon hat …«
»Bruder Qaun, diese Art von Rede ist der Grund, warum die Mitglieder deines Ordens in halb Quur als Ketzer gelten.«
Er hustete. »Das Problem mit Ketzerei ist, dass sie nur als solche bezeichnet wird, weil sie an unbequeme Wahrheiten rührt. Was ich sagen möchte, ist dies: Schriftzeichen haben kein Tenyé.«
Janel blinzelte. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
»Einem Gemälde wohnt nur so viel Tenyé inne wie den Materialien, die dafür verwendet wurden, der Leinwand, der Grundierung und der Farbe. 68 Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein Meisterwerk handelt oder um die Klecksereien eines Kindes. Genauso ist es mit Schriftzeichen. Sie übermitteln Informationen, enthalten aber nicht mehr Tenyé als die Tusche, mit denen sie geschrieben sind. Doch genau dieses Mehr an Tenyé ist zum Zaubern unverzichtbar.« Bruder Qaun deutete über die Schulter auf Mereina. »Was ich getan habe, was Dorna getan hat, es hätte nicht funktionieren dürfen. Ich habe es überhaupt nur versucht, weil ich das Symbol auf Seneras Stirn gesehen hatte. Ich hoffte, es irgendwie mit dem Zauber verbinden zu können, der sie und die Soldaten vor dem Rauch schützte, und über diese Verbindung ebenfalls geschützt zu sein. Ich tat es aus reiner Verzweiflung ohne allzu große Hoffnung auf Erfolg.«
»Und trotzdem hast du ins Schwarze getroffen. Es hat funktioniert.«
»Nein, hat es nicht. Es mag erklären, warum es bei mir funktioniert hat. Aber was ist mit Dorna? Sie hat die Rune verwendet, als ich gar nicht dabei war. Und sie wusste nicht einmal, welchen Zauber ich versucht hatte. Bei ihr hätte es also nicht funktionieren dürfen. Und als ich die Runen von Ninavis, Dango und Gerber schreiben ließ, hat es immer noch funktioniert. Also ist die Rune selbst magisch, und das ist unmöglich.«
Der Graf dachte im Gehen über Bruder Qauns Worte nach. »Aber was ist mit Dämonenbeschwörung? Dazu braucht es ganz bestimmte Schriftzeichen. Sind die nicht auch magisch?«
Bruder Qaun blinzelte. »Das ist … eine kluge Bemerkung.«
»Und, habe ich recht?«
»Nein. Nein, habt Ihr nicht, aber in diesen Dingen kann man sich leicht täuschen«, erwiderte Qaun. »Die Symbole, die zur Dämonenbeschwörung verwendet werden, verfügen selbst über keinerlei Magie, aber wir – Menschen und Dämonen gleichermaßen – haben sie mit der entsprechenden Bedeutung aufgeladen. Sie symbolisieren den Vertrag zwischen unseren Rassen.«
Janel blieb stehen. »Den Vertrag? Es gibt einen Vertrag? Xaltorath hat nie …«
Sie ging weiter, den Blick nach vorne gerichtet.
»Ja, gibt es«, bestätigte Bruder Qaun leise. »Genauer gesagt gibt es die Gaesche. Wir haben die Dämonen nicht gebannt, sondern gegaescht, ihnen Gaesch-Befehle gegeben, an die sie sich halten müssen. Beispielsweise dürfen sie sich nur in der physischen Welt manifestieren, wenn sie von jemandem beschworen wurden. Und auch dann müssen sie den Befehlen ihres Beschwörers gehorchen.«
Janel erschauerte. »Warum haben sie diesem Vertrag zugestimmt?«
Bruder Qauns Miene wurde düster. »Ich glaube, das haben sie gar nicht. Er wurde ihnen aufgezwungen.«
»Aber sie müssen zugestimmt haben. Jemand, der mächtig genug ist, den Dämonen einen solchen Pakt aufzuzwingen, wäre auch mächtig genug, sie zu vernichten. Und das bedeutet, dass sie eben doch zugestimmt haben. Aber warum? Was haben sie davon?«
»Ich glaube, dass sie den Krieg der Vier Völker damals verloren haben. Danach haben die Götter ihnen ihre Bedingungen diktiert.«
Janel lachte. »Nein, bestimmt nicht. So was würden sie niemals mit sich machen lassen. Irgendeinen Nutzen müssen sie von dem Vertrag haben. Sonst hätten sie sich nie und nimmer darauf eingelassen.«
»Ihr mögt ja recht haben, aber darum geht es nicht. Ihr habt verstanden, dass die Schriftzeichen selbst keinerlei Magie besitzen, oder? Ihre Macht kommt einzig und allein daher, dass wir uns darauf geeinigt haben, dass sie für ein bestimmtes Ergebnis stehen.« 69
»Könnte es in diesem Fall nicht auch so gewesen sein? Dass die Rune aufgrund einer Übereinkunft diese ganz bestimmte Wirkung hatte?«
Bruder Qaun rümpfte die Nase. Das war wiederum eine gute Frage. Und beunruhigend. Er suchte so lange nach einer Schwachstelle, bis er sie gefunden hatte. »Eine Einigung zwischen wem, mein Graf? Den Göttern? Es bedürfte immenser Macht, um eine solche Wirkung zu erzielen, und kein Priester der Acht verfügt über ausreichend davon. Vater Zajhera ist besser in Magie bewandert als jeder, den ich kenne. Er hätte es erwähnt, wenn es eine solche Einigung gäbe.«
Der Graf runzelte die Stirn. »Worauf willst du hinaus?«
»Dass diese Doltari – Senera – wahrscheinlich Dämonen herbeirufen kann und somit sie die Hexe ist. Darüber hinaus hat sie Zugang zu Formen von Magie, die ich weder verstehe, noch je gesehen habe. Das einzig Positive daran war, dass diese Luftrune sich nicht verbraucht hat. Andernfalls wären die Feuerblüter erstickt.«
Janel seufzte. »Ich frage mich, wer von den beiden der Anführer war.«
»Von welchen beiden?«
»Senera oder Relos Var.«
»Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass es eine Verbindung zwischen den beiden gibt.«
»Tamin sagte, Relos Var hätte sie mitgebracht. Ich bin ihm nur einmal begegnet, aber er kam mir nicht vor wie jemand, der sich von einem anderen als Werkzeug benutzen lässt. Da er Tamins Lehrer war, hätte ich ihn als Stute eingeschätzt, aber …« Sie lächelte bitter. »Ich glaube, Relos Var sieht die Dinge ein wenig anders als wir hier in Jorat. Die eigentliche Frage ist: Ist er wirklich wegen eines Notfalls aufgebrochen, oder wusste er, was passieren würde, und wollte nicht dabei sein?«
»Was bedeuten würde, dass der Anschlag mit dem Giftrauch keine Notlösung war, sondern von Anfang an fest eingeplant.«
»Und wenn es so wäre?«, fragte Graf Janel. »Wir wissen einfach nicht genug darüber. Genauso wenig wie wir wissen, warum alle diese Yorer sich als Jorater ausgaben. Weder Senera noch Relos Var stammen aus Yor, obwohl ich das anfangs von Senera geglaubt habe.« Im Gehen rupfte sie drei Grashalme ab und begann sie zu flechten. »Sie kommt aus Doltar, sagst du?«
»Im Westen sieht man ihresgleichen öfter«, räumte Bruder Qaun ein. »Sie gelten als primitives Volk.«
»Zumindest scheinen sie nicht besonders geschickt darin, den Sklavenhändlern zu entwischen.« 70
Qaun hüstelte. »Richtig, das sind sie offensichtlich nicht.«
Janel straffte die Schultern. »Schön. Auf all diese Fragen werde ich eine Antwort finden müssen.«
»Müsst Ihr das?« Bruder Qaun hob die Augenbrauen. »Habt Ihr Eure Aufgabe nicht bereits erfüllt? Sollte nicht die Armee den Rest übernehmen?«
»Vielleicht.« Janel schnaubte. »Wahrscheinlich. Aber ich habe nicht vor, dieses Problem anderen zu überlassen. Wer auch immer diese Leute sind, sie haben Tamin benutzt, und sie haben … Ich weiß nicht einmal, wie viele Menschen sie getötet haben. Das kann ich nicht ignorieren.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Was hältst du von der Prophezeiung, Qaun?«
Er zögerte und hoffte, der Graf würde ihn nicht durchschauen. »Welche Prophezeiung?«
»Tu nicht so, als hättest du es nicht mitbekommen. Relos Var hat zu Tamin gesagt, das besessene Kind wäre sein Ende. War es ja auch.« Janel blieb unvermittelt stehen; sie schien verwirrt.
»Ist Euch gerade ein neuer Gedanke gekommen?«, fragte Qaun.
»Nein, aber etwas stimmt nicht …«
Das Trompeten eines Elefanten zerriss die Luft, alle seine Artgenossen stimmten mit ein. Es klang wie ein Alarmruf. Im nächsten Moment rannten die Elefanten blindlings los. Schreie hallten über die grasbewachsene Landschaft.
Bruder Qaun erkannte eine der Stimmen: Ninavis. »Was ist passiert?«, fragte er und suchte nach dem Grund für die Panik.
Der Himmel verdunkelte sich.
Ein riesiger Schatten glitt über den Wald, bewegte sich hinaus auf die Felder und auf Mereina zu. Die Flüchtlinge rannten los.
Bruder Qaun schaute zum Himmel hinauf.
Ein riesenhaftes Geschöpf zog dort oben seine Kreise. Die untergehende Sonne ließ seine Schwingen erstrahlen, als stünden sie in Flammen, doch der Rest des Körpers schimmerte bläulich-weiß wie Eis. Der Kopf des Ungeheuers sah aus wie der einer Schlange, aber keine Schlange wurde so groß, und vor allem hatten Schlangen keine Flügel.
Der Drache wendete.
Die Menschen schrien und warfen sich auf den Boden, als die Bestie die Flügel anlegte, herabstieß und in niedriger Höhe über das Gras herangejagt kam.
Die Elefanten, sagte sich Bruder Qaun. Der Drache war auf Elefantenjagd.
»Ninavis!«, schrie Janel und rannte zu den anderen zurück.
»Graf, wartet!«, rief Bruder Qaun und lief ihr hinterher, auch wenn er genauso viel Hoffnung hatte, sie einzuholen, wie ein Rothund, der Jagd auf einen Falken macht.
Der Drache streckte die Klauen und packte mit jedem seiner Vorderläufe einen Elefanten, dann schwang er sich mit mächtigen Flügelschlägen wieder hoch in die Lüfte.
Alle rannten – die meisten weg, aber nicht alle: Janel, Bruder Qaun und Ninavis’ Bande blieben, während die Elefanten auf und ab liefen, als könnten sie auf diese Weise ihre entführten Geschwister zurückholen.
Ein halbes Dutzend Pfeile erhob sich von irgendwo aus dem hohen Gras und prasselte auf den davonfliegenden Drachen ein. Leider richteten die Treffer keinerlei Schaden an. Der Drache schien nicht einmal zu bemerken, dass er beschossen wurde. Als Bruder Qaun Janel eingeholt hatte, stand sie neben der im Gras sitzenden Ninavis. Die Banditenanführerin legte den nächsten Pfeil ein und schoss erneut. Das Ergebnis blieb das gleiche. Schließlich verlegte sie sich aufs Fluchen.
»Hundesohn!«, brüllte sie. »Komm zurück, du Hundesohn!«
Janel verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich glaube nicht, dass er dich hören kann. Und ich denke, das würden wir auch gar nicht wollen. Wenigstens haben deine Pfeile ihn nicht auf uns aufmerksam gemacht. Das wäre unklug, oder?«
Ninavis antwortete mit einer langen Aneinanderreihung von Schimpfwörtern.
»Bruder Qaun, könntest du bitte nach Ninavis sehen?«, fragte der Graf. »Sie scheint sich verletzt zu haben. Schon wieder.«
»Es hat nur meinen Stolz getroffen«, brummte Ninavis.
»Tatsächlich? Ich hätte schwören können, dass du auf den Kopf gefallen bist.«
Die Banditin warf Janel einen finsteren Blick zu und hakte die Sehne ihres Bogens aus. »Was war das für ein Ungeheuer?«
»Ein Drache«, antwortete Bruder Qaun. »Ich bin noch nie einem begegnet.« Am liebsten hätte er davon geschwärmt, wie wunderschön er das Geschöpf fand, glaubte aber nicht, dass die anderen das im Moment hören wollten.
»Komm schon.« Graf Janel streckte Ninavis die Hand hin. »Stütz dich auf mich. Wir müssen die Elefanten beruhigen und dann machen, dass wir weiterkommen.« Sie deutete nach oben.
Während des Drachenüberfalls hatte sich der Himmel verdunkelt, allerdings nicht wegen der hereinbrechenden Nacht. Es waren Sturmwolken aufgezogen.
»Was …?«
»Wir werden ziemlich übles Wetter bekommen«, erklärte der Graf. »Ich hoffe, bis zu deinem Unterschlupf ist es nicht mehr weit.«