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Ein Fest für Dämonen
Jorat, Quurisches Reich.
Zwei Tage nachdem Königin Khaeriel ihre Geduld mit dem Haus D’Mon verloren hatte
»Und was hat Aeyan’arric als Nächstes …?«, begann Kihrin.
Ein heftiges Zittern wie von einem Erdbeben erschütterte den Raum. Der Grund schien offensichtlich: Etwas sehr Schweres war gerade auf dem Hügel gelandet, in dem sich das Wirtshaus befand.
Etwas so Schweres wie ein riesenhafter Drache vielleicht.
Sämtliche Unterhaltungen verstummten. Alle blickten hinauf zur Decke und warteten, ob das Beben sich wiederholen würde.
»Glaubt ihr, sie kann sich zu uns durchgraben?«, fragte die alte Frau hinter der Theke in die entstandene Stille hinein.
In diesem Moment wurde Kihrin klar, dass den Gästen vollkommen bewusst war, was draußen vor sich ging. Sie fingen weder an zu schreien, noch stellten sie panisch Fragen, was das Geräusch verursacht hatte. Sie hatten sich nicht einmal umgesehen, aus welcher Richtung es gekommen sein mochte, sondern sofort nach oben geschaut.
Sie wussten Bescheid.
Kihrin schaute Janel in die Augen. Sie hatte nicht zur Decke geblickt, sondern die ganze Zeit ihn beobachtet.
»Glaubst du, ich wollte es ihnen verheimlichen?«, fragte sie.
»Ja, davon bin ich ausgegangen.«
Sie stand auf und ging an Kihrin vorbei zur Mitte des Raumes. Im Vorbeigehen strich sie ihm mit den Fingern über die Hand. »Aufgepasst, Leute! Hört gut zu.«
Alle spitzten unverzüglich die Ohren.
»Bestimmt hat mittlerweile jeder von euch von dem kleinen Problem gehört, das uns draußen erwartet«, erklärte Janel.
»Ja, aber was sollen wir tun?«, fragte ein großgewachsener Mann. »In Ferra hat dieser verfluchte Drache fünfzehn von uns getötet.«
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»Die fünfzehn Leute in Ferra haben wir verloren, weil sie ihre Befehle nicht befolgt
haben«, blaffte die Schankkellnerin und wischte sich gedankenverloren die Haare aus dem Gesicht.
Dabei kam ein großes weinrotes Muttermal zum Vorschein.
Vielleicht war es nur Zufall … Nein. Kihrin glaubte es nicht. Das war Ninavis.
»Was zum …« Er blickte sich im Gastraum um. Jetzt, da er wusste, worauf er achten musste, fand er, dass zu viele Hengste hier waren. Viel zu viele für so ein kleines Städtchen. Sein Blick wanderte weiter zu Bruder Qaun. Der Priester wirkte kein bisschen überrascht.
»Ich habe eine Theorie, was hier los ist«, begann Janel. »Ich hoffe, ich täusche mich, aber im Moment können wir nichts anderes tun als abwarten. Und, Dorna: Ja, wenn sie sich zu uns durchgraben möchte, könnte sie das. Aber Aeyan’arric will uns nicht töten. Zumindest noch nicht.«
»Aber wie hat sie uns gefunden?«, hakte ein dicker Kerl mit rötlich-grauer Haut und einem beeindruckend großen Schnauzbart nach. Sir Baramon.
Janel schnitt ihm das Wort ab. »Das weiß ich nicht, aber es ändert nichts. Macht es euch bequem. Tut so, als wärt ihr hier zu Hause.«
Janel kam wieder an den Tisch zurück.
»Schau mich nicht so an«, sagte sie zu Kihrin. »Oder willst du behaupten, du hättest noch nie jemanden an einen neutralen Ort gelockt, an dem deine Freunde bereits auf dich warten? Nicht ein einziges Mal?«
»Doch, schon, aber im Anschluss bin ich auf einem Versteigerungspodest gelandet. Ich kann den Trick also nicht empfehlen.«
»Ich hätte ja etwas anderes getan, aber ich hatte keine Wahl.«
Kihrin deutete auf die anderen Gäste. »Diese Leute sind alle aus Mereina, oder?«
»Ein paar der Gesichter kenne ich nicht«, warf Bruder Qaun ein. »Aber es ist auch schon eine Weile her.«
»Wir haben ein paar Leute verloren und einige andere dazugewonnen«, erläuterte Janel. »Ich hätte dich ja früher eingeweiht, Kihrin, aber du warst so misstrauisch.«
Da hatte sie nicht ganz unrecht, gestand er sich ein. Trotzdem …
»Du hast gesagt, du hättest eine Theorie, was unsere Drachenfreundin betrifft. Stimmt das? Oder hast du das nur behauptet, um deine Leute zu beruhigen?«
Janel schüttelte den Kopf. »Im Gegensatz zu dir kann man mich mithilfe von Magie aufspüren. Relos Var wird Aeyan’arric wohl darüber unterrichtet haben, wo sie mich finden kann.«
Kihrin blinzelte. Janel schien ihre Worte nicht als Witz gemeint zu haben. Nicht dass er sich eine Situation vorstellen könnte, in der die Erwähnung Relos Vars lustig gewesen wäre.
»Ihr wisst nicht, dass er es war«, entgegnete Bruder Qaun. »Wir haben keinerlei Beweise.«
»Stimmt«, räumte Janel ein. »Und ich hoffe, dass ich mich täusche. Ich werde ihn einfach bei unserer nächsten Begegnung fragen. Sollen wir jetzt mit unserer Geschichte weitermachen?«
Kihrin atmete auf. »Natürlich. Die Feier läuft doch prächtig, da können wir genauso gut mitsingen.«
Janels Schilderung. In den Ruinen einer Estava, Provinz Barsine, Jorat, Quur.
Als wir den Unterschlupf erreichten, brauchten wir ihn dringend. Kurz nachdem der Drache verschwunden war, hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt und war binnen Minuten zu einem sintflutartigen Wolkenbruch angeschwollen. Ein starker, eiskalter Wind, immer häufiger vermischt mit Hagel, kam auf. Nachdem wir den Wald erreicht hatten, hielt zum Glück das Blätterdach das meiste davon ab, aber der Teil, der durchkam, war schlimm genug. Der Wind nahm zu, die Bäume bogen sich ächzend, einige brachen. Blitze erleuchteten den Himmel, manche schlugen so nahe ein, dass der Donner den Boden zu unseren Füßen erschütterte.
»Es ist gleich da vorne, am Fuß des Hügels!«, rief Ninavis.
Sie deutete zwischen den Bäumen hindurch auf einen bewaldeten, von altem Mauerwerk und halb verfallenen Ruinen gesäumten Hügel. Auf halber Höhe führte eine steinerne Rampe in ein gähnendes, dunkles Loch. Wäre die Öffnung nicht so symmetrisch gewesen, hätte man sie beinahe für einen Höhleneingang halten können. Ich war unendlich erleichtert, als ich merkte, was ich da vor mir sah.
»Was ist das?«, fragte Bruder Qaun.
»Eine Estava«, antwortete ich.
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»Den Acht sei Dank.«
»Eine was?« Qaun sah verwirrt aus.
»Ein Unterschlupf, gebaut von Khorsal und seinen Zentauren.« Dorna verzog das Gesicht,
als hätte sie in einen faulen Apfel gebissen.
»Da er uns das Leben retten wird, ist mir herzlich egal, wer ihn gebaut hat«, erklärte Ninavis. »Und jetzt rein mit euch allen. Los, los, los!«
Sana, die Elefantenpflegerin, schüttelte den Kopf. »Diese Estavas sind verflucht!«
Ich wandte mich der Frau zu. »Stute, wenn du mit verflucht meinst, dass Ninavis und ihre Bande sich hier monatelang erfolgreich vor Hauptmann Dedreugh versteckt haben, dann magst du ja recht haben. Aber im Moment haben wir nichts Besseres, wenn du also so nett wärst, uns nach drinnen zu folgen.« Ich versuchte, durch meinen Tonfall klarzumachen, dass das keine Bitte war.
Sana wollte schon widersprechen, doch Ninavis’ Leute gingen bereits hinein. Ein weiterer, viel zu naher Blitzeinschlag stimmte Sana schließlich um, und sie führte die verbliebenen Elefanten in den Eingang.
»Was bedeutet Estava?«, fragte Bruder Qaun.
Dorna antwortete als Erste. »Sturmschutzraum.« Ein unheilvolles Grinsen trat auf ihr Gesicht. »Du hast in Jorat noch keinen Tornado erlebt, oder, Fohlen?«
Qauns Augen wurden groß.
Sie packte ihn an seinem Agolé, und ich musste ein Lachen unterdrücken. »Komm mit«, sagte Dorna. »Heute ist keine Nacht zum Draußenschlafen.«
Nicht alle Behausungen in Jorat sind unterirdisch, aber wir haben nie vergessen, dass in unserer Heimat die schlimmsten Stürme des gesamten Reichs toben. Der joratische Baustil hat sich aus den Estavas entwickelt, nur dass unsere Wohnstätten zumeist deutlich kleiner sind. Estavas waren keine Festungen im eigentlichen Sinn, sondern Unterschlupfe für Zeiten, zu denen die Pferdelords ihre Herden aus irgendeinem Grund trotz der beginnenden Sturmsaison nicht verlegen wollten.
Als alle drinnen waren, hatten Ninavis’ Leute bereits ein paar Laternen entzündet. Zu wenige für die Größe des Raums. Vermutlich war Laternenöl in einem Banditenversteck eine seltene Kostbarkeit.
Der Tunnel öffnete sich zu einer riesigen steinernen Halle, die Decke wurde von Granitsäulen gestützt. Die Begrenzungswände waren so weit weg, dass der Laternenschein sie nicht
erreichte. Die Estava war offensichtlich schon sehr alt, ich sah Risse im Boden und von der Decke herabgestürztes Geröll. Irgendwo plätscherte Wasser, allerdings konnte ich nicht sagen, ob es sich um durch eine Spalte eindringenden Regen handelte oder ob es hier irgendwo eine Quelle gab.
Ninavis und ihre Leute würden es wissen.
Sie hatten ihre Spuren in der Halle hinterlassen: Vor einer Wand standen einige Kisten mit Lebensmitteln und Kleidung, die sie sich in der gesamten Provinz zusammengestohlen hatten. Ich erkannte die Wappen der Händlervereinigungen: Hier etwas Tee vom Acht-Münzen-Handelskonsortium, dort drüben getrocknete Mangos der Sifen-Familie. Bei der Ansammlung von Kissen und alten Teppichen daneben schien es sich um die Schlafstatt der Banditen zu handeln, und jemand hatte sich sogar die Mühe gemacht, einen Lehmofen zu bauen.
Die Flüchtlinge brauchten keine weiteren Anweisungen. Sie verteilten sich, stellten ihre Habseligkeiten ab und schlugen ihr Lager auf.
Ich half Bruder Qaun, Ninavis auf einem eingestürzten Mauerstück abzusetzen, dann sagte er: »Lass mich nach deinem Bein sehen.«
Als sie protestieren wollte, fügte ich hinzu: »Ninavis, ich bin für deine Verletzung verantwortlich. Lass Bruder Qaun sich um dein Bein kümmern. Vishai-Priester sind die besten Heiler in ganz Quur.« Ich setzte mich auf eine Holzkiste, streckte die Beine und begann, die schwarz emaillierte Rüstung auszuziehen, die ich mir von Sir Baramon geliehen hatte. Sie passte nicht allzu gut, genau wie er gesagt hatte, und meine Muskeln schmerzten.
»Die Heilergilde wäre nicht besonders glücklich, wenn du das herumerzählst«, brummte Ninavis.
»Die Heilergilde ist eher darauf aus, ihre Kassen zu füllen, als den Leuten zu helfen«, erwiderte ich.
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»Und in Jorat scheint ihr selbst das zu anstrengend zu sein.«
»Wenn ihr aufhören würdet, sie als Hexen zu verbrennen«, entgegnete Ninavis, »würden sie euer Geld vielleicht bereitwilliger annehmen.«
Ich wollte gerade widersprechen, da merkte ich, dass sie mich aufzog, aber nach Scherzen stand mir im Moment nicht der Sinn. Trotzdem wollte ich etwas erwidern, da kam Sir
Baramon zu uns. Sein rotes Gesicht zeugte von einem harten Marsch und den Tränen, die er unterwegs vergossen hatte. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass er erst vor wenigen Stunden jemanden verloren hatte, der ihm sehr nahegestanden hatte.
Ich wusste nicht einmal den Namen seines Geliebten.
Sir Baramon setzte sich neben mich. »Das war …« Er presste die Lippen aufeinander und versuchte es noch einmal. »Habe ich mir das nur eingebildet, oder wurden wir tatsächlich gerade von einem Drachen angegriffen? Ich habe sie immer für Legenden gehalten.«
»Nein, das war keine Einbildung«, antwortete Bruder Qaun und fischte alles aus seinem Beutel, was er für Ninavis’ Behandlung brauchte. »Das war Aeyan’arric.«
Alle horchten auf.
Ninavis blinzelte. »Du kennst seinen Namen?«
»
Ihren
Namen«, berichtigte Bruder Qaun. »Und ja, ich kenne ihn. Es gibt insgesamt acht Drachen.
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Anhand der Beschreibungen, die ich gelesen habe, muss das Aeyan’arric sein, die Eisbringerin, auch Sturmherrin genannt.« Er sah unsere fragenden Gesichter und hielt inne. »Vater Zajhera hat mir die Namen verraten.«
»Acht Drachen?«, wiederholte ich. »Genauso viele, wie es Götter gibt?«
Bruder Qaun schaute mich entsetzt an, wie er es immer tat, wenn ich ihm eine Frage stellte, die er lieber nicht gehört hätte. »Nein! Das soll heißen, es gibt mehr als acht Götter.«
»Aber nur acht, die wirklich zählen.«
Er räusperte sich. »Richtig, trotzdem: Drachen sind die lebende Antithese der natürlichen Ordnung, für die die Götter stehen. Schon allein deshalb kann man sie nicht miteinander vergleichen.« Er breitete die Hände aus. »Manchmal ist eine Zahl eben nur eine Zahl.«
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Ich musterte den Priester und wusste, dass er mir gerade ins Gesicht gelogen hatte.
»Also acht auf der ganzen Welt«, erwiderte ich. »Aber nur einer davon – eine
– lässt sich hier blicken. Und das ausgerechnet jetzt.« Ich zog die zweite meiner beiden Unterarmschienen ab. »Wir können zwar von Glück reden, dass die Drachin nur an den Elefanten interessiert war, trotzdem ist mir nicht wohl zumute. Sie ist Richtung Mereina geflogen …«
»Das könnte reiner Zufall sein«, meinte Qaun.
»Ja, bestimmt. Und wenn nach einer Schlacht die Geier am Himmel kreisen, ist das auch nur Zufall.« Dorna hob die abgelegten Rüstungsteile auf und begann, sie fein säuberlich neben Sir Baramon aufzureihen. »Ich würde ja bei der Zubereitung des Abendessens mitmachen. Allerdings glaube ich, diese Leute haben heute schon genug Katastrophen erlebt. Aber ich könnte beim Trennungsritual helfen.«
Beschämung überkam mich. Natürlich wollten die Mereiner sich von ihren Toten verabschieden. Sie konnten zwar die Leichen nicht verbrennen und die Asche über die Felder verstreuen, dennoch würden sie die Getöteten ehren wollen. Für einen Leichenschmaus hatten wir zwar nicht genug Lebensmittel, aber …
Aber irgendeine Form von Zeremonie mussten sie schließlich abhalten.
Ich konnte es ihnen nicht verdenken.
»Glaubst du, sie hätten etwas dagegen, wenn ich ein paar Worte spreche?«, fragte Bruder Qaun.
»Du bist kein Priester der Acht, Füllen …«, protestierte Dorna.
Qaun runzelte enttäuscht die Stirn. »Doch, Dorna, bin ich. Selanol ist einer von ihnen. Ich gehöre genauso zu den Priestern der Acht wie jemand, der Khored oder Galava anbetet.«
»Oh.« Sie zuckte die Achseln. »Entschuldige. Daran habe ich nicht gedacht.«
Ich berührte Bruder Qauns Hand. »Ich bin sicher, sie sind dankbar, wenn jemand zu Ehren der Toten spricht. Bitte.«
Dorna warf mir einen verstörten Blick zu. »Was? Warum macht Ihr das nicht?«
»Ich kann nicht. Ich gehe jetzt schlafen.«
Dorna hielt mitten in der Bewegung inne.
»Ist es dafür nicht ein bisschen früh?«, fragte Sir Baramon.
»Ganz im Gegenteil. Ich hatte gehofft, wir würden unser Nachtlager früher aufschlagen. Ich fürchte, ich bin schon zu spät dran.« Ich stand auf, nahm den Mantel, den ich dem Roten Speer abgenommen hatte, und suchte mir eine Schlafstelle abseits von den anderen.
Am liebsten hätte ich Arasgon bei mir gehabt, aber noch lieber wäre es mir gewesen, wenn nichts von alledem passiert wäre. Ich faltete den Mantel zu einem improvisierten Kissen und rollte mich
auf dem Boden zusammen.
Die Berührung des Todes kam sofort. Wie immer.
Janels Schilderung. Im Nachleben.
Wenn ich schlafe, wandle ich durch das Land der Toten.
Selbst im Nachleben scheint der Tod mich anzuziehen – Orte, wo die wandernden Seelen der Verstorbenen den Übergang von der Welt der Lebenden ins Land der Toten erleichtern. Dämonen scheinen ebenfalls von diesen Orten angezogen zu werden, immer auf der Suche nach einer Möglichkeit zur Rückkehr in die Welt, die sonst so schwer für sie zu erreichen ist.
Stimmte das überhaupt?
(Laut Bruder Qaun war ein Vertrag das Einzige, was sie davon abhielt, willkürlich über uns herzufallen.)
Diesmal fand ich mich in Mereina wieder.
Im Lauf der Zeit waren hier viele Seelen von einer Welt in die andere übergetreten, und jeder dieser Tode hatte seine Spuren in den Schleiern hinterlassen, sodass das Schloss weithin erkennbar war. Die Stadt selbst war bis vor Kurzem noch zu jung und friedlich gewesen, um sich im Nachleben abzuzeichnen.
Aber jetzt?
Stadt und Schloss hoben sich als dunkle Silhouette vom Horizont ab. Phosphoreszierendes Licht umgab die Befestigungen und Gärten, die Azhocks und die Tribünen auf dem Turnierplatz. Geister wandelten umher, verwirrt und verängstigt, wie sie es im Moment ihres Todes gewesen waren. Der bedauernswerte Verweser stand mit blau angelaufenem Gesicht in seiner Loge – von seiner Lähmung befreit und gleichzeitig erschrocken über seine neuerliche Notlage.
Leider hatte ich keine Zeit, den armen Seelen ihre Lage zu erklären, ihnen Trost zu spenden und sie in Thaenas Land des Friedens zu geleiten.
Ich hatte keine Zeit, ihnen zu erklären, dass sie ein zweites Mal und diesmal endgültig sterben könnten. Die Dämonen würden die Kraft, die sie aus ihrem neuerlichen Tod bezogen, für die Eroberung dessen verwenden, was sie sich am meisten auf der Welt wünschten:
Nämlich die Welt selbst.
O ja, die Dämonen waren nach Mereina gekommen. Wenn sie könnten, würden sie von hier einen weiteren Höllenmarsch beginnen. Sie würden die Toten wie mordende Puppen über
Jorat herfallen lassen und Dorf um Dorf abschlachten, bis sie genug Seelen beisammen hätten, um einen Dämonenprinz auf sich aufmerksam zu machen.
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Und das Töten würde nie mehr aufhören.
Die Dämonen waren hier, um die Seelen der Toten zu ernten.
Eigentlich hatte ich mir schwerere Gegner erhofft.
Ich verlor keine Zeit, zog mein Schwert, schlug dem ersten lachend den Kopf von den Schultern und machte einen Satz zur Seite. Den Höllenhund, der mich ansprang, wehrte ich mit meinem Schild ab. Ich ließ mich von meinem Hass und meiner Wut wärmen wie von einem Feuer und kam so richtig in Fahrt. Das Blut des ersten Dämons war schwarz gewesen, das des zweiten violett. (Es gibt keine Regeln, wie das Blut eines Dämons auszusehen hat.)
Gerade stieß ich einem mit einem Tigermaul mein Schwert in den Rachen, da hörte ich einen Schrei. Ich blickte auf und sah einen riesigen Hammer auf mich zurasen. Im nächsten Moment wurde ich rücklings zu Boden geschleudert.
Normalerweise hätte ich einen solchen Treffer niemals überlebt, aber wenn man lediglich metaphorisch existiert, gelten andere Gesetze.
Ich rammte meine Hand in den Boden und stemmte mich hoch. Ein hünenhafter Dämon ohne Haut ragte vor mir auf, ich sah seine bloßliegenden Muskeln rot schimmern, dazwischen gelbliches Bindegewebe und Fett.
Der Unterkiefer fehlte nach wie vor.
»Kasmodeus?«, fragte ich und spuckte das Blut in meinem Mund aus. »Dafür, wie rasch du beim ersten Mal gestorben bist, hast du dich verdammt schnell erholt.«
Die Muskeln über seinen Wangenknochen zogen sich zusammen. Ein Grinsen, vermutete ich.
~DIE ANDEREN DÄMONEN WERDEN SICH SCHREIEND DIE AUGEN ZUHALTEN
, WENN SIE SEHEN
, WAS ICH MIT DIR MACHE
.~
Ich lachte. »Hast du etwa vor, einen Hundewelpen vor dem Ertrinken zu retten? Oder einer kranken alten Stute eine Suppe zu kochen?« Ich lächelte. »Lass es lieber.«
Seine Augen blitzten. ~STIRB
, MISTSTÜCK
!~ Er schwang seinen Hammer und ließ ihn mit entsetzlicher Kraft niederfahren.
Ich konnte gerade noch ausweichen. Er war stärker als zuvor auf dem Turnierplatz.
Bestimmt hatte er ein paar arme Seelen verschlungen, die in der Nähe dieser verfluchten Scheiterhaufen gestorben waren. Und wer konnte schon sagen, wie viele ihm bereits bei den vorangegangenen Turnieren geopfert worden waren?
Er gab mir keine Zeit, mich zu sammeln. Die von dem Schlag aufgewirbelte Erde flog noch durch die Luft, da schlug er schon wieder zu, wieder und wieder. Ein verheerender Schlag nach dem anderen. Ich hob meinen Schild, um den nächsten abzuwehren und näher an ihn heranzukommen. Der Treffer ließ mich in die Knie gehen. Ich biss die Zähne zusammen und holte mit dem Schwert aus. Die Klinge schnitt durch Kasmodeus’ Brustmuskeln und seine Rippen.
Er merkte es nicht einmal. Vielleicht war es ihm auch egal.
Ich schrie, als sein Konter mich ebenfalls am Brustkorb erwischte. Knochen brachen. Wie beim Turnier spürte ich eine sich plötzlich ausbreitende Hitze.
Flammen schlugen aus dem Boden und verteilten sich spiralförmig um mich herum über das Gras. Inmitten all der Blau- und Violetttöne ringsum sah das Rot und Orange des Feuers unwirklich aus. Ich hatte keine Zeit, mich darüber zu wundern, aber ich merkte, wie die Hitze mir Kraft gab.
Ein Grinsen trat auf die Überreste von Kasmodeus’ Gesicht. ~ICH WERDE DEINEN LEICHNAM ALS FUSSABSTREIFER BENUTZEN UND ZUR FEIER MEINES SIEGES AUS DEINEM SCHÄDEL TRINKEN
.~
Er hob seinen Hammer.
»Wie unpraktisch. Zum Trinken bräuchtest du erst mal einen Unterkiefer …«
In der Ferne ertönte das Trompeten von Elefanten.
Ich hob den Kopf.
Kasmodeus hielt inne.
Weitere Trompetenrufe zerrissen die Luft, laut wie Donner. In der Welt der Lebenden wäre das nichts Besonderes gewesen. Elefanten waren dort keine Seltenheit. Aber hier im Nachleben?
Hier gehorchten die Elefanten nur einer Gebieterin.
Ich begann zu lachen.
»Nun dann«, sagte ich. »Scheint, als käme der Tod heute nicht nur zu mir.«