13  Den Sturm aussitzen
Jorat, Quurisches Reich.
Zwei Tage nach dem Massaker an der Familie D’Mon
Janel beendete ihre Schilderung mit einem Lächeln und griff nach ihrem Becher.
Kihrin seufzte und gab sein Bestes, Bruder Qaun nicht anzusehen, während er versuchte, die verflixt komplizierte Religion des Priesters zu begreifen. Die Vorstellung, dass der Mann, der ihm gegenüber am Tisch saß, Kihrin anbetete, war höchst seltsam. 77
Oder zumindest die Inkarnation in seinem letzten Leben.
Da merkte Kihrin, dass Janel keine Anstalten machte weiterzusprechen. Er schaute sie an. »Moment, du warst noch nicht fertig.«
»Hat jemand Hunger?«, fragte sie. »Ich glaube, ich gehe einmal nachsehen, was es in der Küche so gibt.«
»Nein, auf keinen Fall«, protestierte Kihrin. »Du kannst die Erzählung nicht einfach an dieser Stelle unterbrechen. Ist Thaena tatsächlich erschienen? Ich meine, was ist als Nächstes passiert?«
»Ach, ich glaube, eine kleine Pause kann nicht schaden.« Janels Grinsen war nicht direkt teuflisch, aber es fehlte nicht viel. »Oder wir springen ein Stückchen vor.«
Sie zog ihn auf.
Bruder Qaun öffnete sein Büchlein. »Soll ich wirklich vorspringen?« Er schien ganz und gar nicht erfreut.
»Nein, keine Angst, Bruder Qaun. Möchtest du noch etwas hinzufügen, bevor ich meinen Teil zu Ende erzähle?«
»Nur eine Kleinigkeit. Darf ich?«
Janel machte eine unbestimmte Geste. »Leg los.«
Qauns Schilderung. In den Ruinen einer Estava, Provinz Barsine, Jorat, Quur.
Janel entfernte sich, und Ninavis blickte ihr finster hinterher. »He, wir sind noch nicht fertig.«
Der Graf ignorierte sie und legte sich zum Schlafen hin.
Ninavis versuchte, ihr hinterherzuhumpeln, fluchte vor Schmerz und blieb wieder stehen.
Bruder Qaun seufzte. »Warum so stur?« Er bot ihr seinen Arm an. »Würde es dich umbringen, wenn du dein Bein ein paar Tage schonst?«
»Wenn ich mir überlege, was die letzten Tage so passiert ist, würde ich diese Frage entschieden mit Ja beantworten.« Sie humpelte weiter zu Janel.
»Spar dir deine Kräfte«, warf Dorna ein. »Sie schläft. Du kannst sie jetzt nicht aufwecken.«
»He«, sagte Ninavis. Als Janel nicht reagierte, schrie sie das Wort noch einmal.
Ein paar der anderen blickten auf. »Brauchst du etwas, Boss?«, rief Dango herüber.
Ninavis balancierte auf ihrem gesunden Bein, beugte sich zu Janel hinab und rüttelte sie an der Schulter. Die junge Adlige zeigte keinerlei Reaktion.
»Dorna hat recht«, erklärte Bruder Qaun. »Du kannst sie nicht aufwecken, sie wird bis zum Morgen schlafen. Meines Wissens gibt es nichts, was diesen Prozess beschleunigen könnte.«
Ninavis richtete sich verwirrt auf. »Priester, sie atmet nicht.«
»O doch, tut sie«, erwiderte er. »Nur sehr langsam. Und bitte nenne mich Bruder Qaun. Ich hasse es, als Priester bezeichnet zu werden.«
»Nein, Priester, tut sie nicht. Das sieht doch ein Blinder.«
Sir Baramon kam heran. Er hatte das Gespräch mit wachsender Bestürzung mit angehört. »Was für ein Zauber ist das?«
Dorna zuckte die Achseln und strich ihren Reitrock glatt. »Sie ist verflucht. Hat niemand, der diese albernen Danorak-Geschichten verbreitet, das je erwähnt?«
»Wie bitte? Aber …«
Dorna deutete auf Janel. »Sie schläft. Unser Priester hier behauptet, dass sie nicht tot ist, obwohl es für mich so aussieht. Sie atmet nicht und ist am ganzen Körper kalt. Sie ist wie tot, und das nicht nur im übertragenen Sinn. Diese Estava könnte über ihr einstürzen, und sie würde liegen bleiben wie eine Tote. Aber sobald die Dämmerung anbricht, springt sie auf, als hätte sie die ganze Nacht bestens geschlafen.«
Ninavis’ Griff um Janels Schulter wurde wieder fester. »Ich habe schon länger gewusst, dass sie eine Hexe ist.«
»Was?« Dorna hob eine Augenbraue.
»So stark, wie sie ist, muss sie einfach eine sein.«
»Mein Fohlen ruft keine Dämonen herbei!« Dorna sah aus, als wäre sie kurz davor, eine Schlägerei anzufangen.
»Ich meine …« Ninavis seufzte. »Sie benutzt Magie, und damit ist sie doch wohl eine Hexe, oder nicht?« Sie deutete auf eine der herumstehenden Kisten. »Würdest du mir dort hinüber helfen, Priester?«
Sie ignorierte Qauns geplagtes Stöhnen und machte sich auf seine Schulter gestützt auf den Weg zu der improvisierten Sitzgelegenheit.
»Der Graf von Tolamer benutzt keine Magie«, widersprach Sir Baramon entschieden.
Dorna und Bruder Qaun tauschten einen Blick aus.
Dorna neigte den Kopf. »Natürlich nicht. Niemand hat etwas anderes behauptet. Warum geht Ihr nicht zu unseren neuen Freunden aus der Stadt und fragt, wann der Leichenschmaus so weit ist? Dem Geruch nach würde ich sagen, dass da bereits ein Eintopf vor sich hin kocht, oder ich will wieder Graf von Leanan-Pass sein.« 78
Der Ritter kniff die Augen zusammen. »Ich schulde dir kein Thudajé, alte Schachtel.«
Dorna grinste. »Ach, mein lieber Baramon. Ihr steht jetzt unter dem Idorrá des Grafen, und ich bin ihre Leitstute. Das genügt doch wohl, oder? Jetzt verzieht Euch. Das hier ist nichts für Eure Ohren.«
Sir Baramon schnaubte und tat, wie ihm geheißen.
»Du magst ihn nicht, oder?«, fragte Ninavis.
»Sir Baramon? Ich könnte ihn pausenlos knuddeln. Ich kenne ihn schon, seit wir beide noch Füllen waren. Würde er nicht mit Hengsten galoppieren und ich mit Stuten, hätten wir schon vor Jahren geheiratet.« Sie verzog das Gesicht. »Wir hätten es trotzdem tun sollen. Wir hätten die besten Eltern abgegeben, die man sich nur vorstellen kann.«
Ninavis betrachtete die auf dem Boden zusammengerollt liegende Janel. »Wenn sie schläft, sieht man, wie jung sie ist.« Sie überprüfte, ob die Kiste ihr Gewicht tragen würde, und setzte sich darauf. »Meine Hava wäre jetzt genauso alt.«
Bruder Qaun schaute sie traurig an. »Das tut mir leid.«
»Muss es nicht. War nicht deine Schuld.« Sie starrte lange auf ihren Schoß. »Sie war ein gutes Mädchen. Ein Herz, so rein wie der Frühling. Hast du gar keine Kinder, Dorna?«
Die alte Frau deutete lächelnd auf Janel. »Zählt die da etwa nicht? Ich liebe sie wie mein eigen Fleisch und Blut.«
Bruder Qaun wusste nicht genau, ob er nachfragen sollte, was mit Ninavis’ Tochter passiert war. 79 Ihr Schmerz war so stark, dass er ihn beinahe selbst spüren konnte, dunkel und tief in ihrem Innern verschlossen.
Da kam Ninavis ihm zuvor. »Mein Mann ist in dem Höllenmarsch gefallen, den der Graf aufgehalten hat. Kurz danach ist meine Tochter gestorben.«
Dorna und Bruder Qaun wurden sehr still.
Ninavis wartete, ob einer von beiden etwas erwidern würde, aber was konnten sie schon sagen?
»Ich habe gesehen, was die Dämonen mit den Menschen gemacht haben«, fuhr sie fort. »Sie taten schreckliche Dinge, aber sie haben nicht einen Einzigen … verflucht. Warum hört ihr beide nicht auf, mich anzulügen, und sagt mir, was hier los ist.«
»Wir lügen nicht«, widersprach Bruder Qaun. »Janel ist ein Sonderfall.«
»Ist sie jetzt eine Hexe oder nicht?«
Qaun räusperte sich. »Wenn du damit jemanden meinst, der sich mit Dämonen einlässt, dann lautet die Antwort: Nein.« Er versuchte, die Frage zu umschiffen, so gut es ging. Was blieb ihm schon anderes übrig?
»Tamin ist ebenfalls keine Hexe. Deine Leute verwechseln die Anwendung von Magie mit Hexerei, dabei ist Magie etwas völlig anderes.«
»Nicht meine Leute «, rief Ninavis ihm in Erinnerung. »Wie dem auch sei, sag mir einfach, was mit ihr passiert ist. Wie ist sie so geworden?«
»Das weiß er nicht«, warf Dorna ein. Ihr Blick war wütend. »Qaun ist erst vor ein paar Monaten zu uns gestoßen, weil sein Orden es ihm befohlen hat. Ich bin sicher, dass Vater Zajhera ihm erklärt hat, auf was er sich einlässt, aber etwas aus zweiter Hand zu hören, ist etwas vollkommen anderes, als mittendrin zu stecken.«
Ninavis runzelte die Stirn. »Und wenn ich dich frage, wie sie so geworden ist, sagst du dann, das geht mich nichts an?«
»Tja, tut es auch nicht.«
»Falsch«, erwiderte Ninavis. »Und ob es mich was angeht. Ich mag keine Joratin sein, aber sowohl mein Mann als auch meine Tochter wurden hier geboren. Ich kenne die Sitten dieses Landes gut genug, um zu wissen, dass die Kleine hier einfach in meinen Hinterhof spaziert kam und mir meine Leute unter der Nase weggestohlen hat. Kalazan ist jetzt ihr treu, nicht mehr mir. Er mag der neue Baron dieser Provinz sein, aber Janel ist jetzt sein Graf.« Sie musterte Dorna. »Ich bin mir nicht sicher, was der Graf von Barsine dazu sagen wird.«
Dorna verdrehte die Augen. »Mir egal. Der alte Trottel hätte Tamins Treiben schon längst Einhalt gebieten sollen.«
Ninavis hob die Hand. »Das meine ich nicht. Ich und meine kleine Bande, wir sind ein Reitervolk, genau wie ihr. Und wenn ich eines über die Jorater weiß, dann dass sie zu vertrauensselig sind. Ich bin das nicht, und ich muss wissen, wem ich folge. Vor allem, wenn sie verflucht ist, wie du gesagt hast.«
Dorna stieß einen Seufzer aus. »Ich war nicht dabei, als sie damals nach Lonezh gefahren sind. Ich habe das Fest der sich wandelnden Blätter besucht und …« Sie schüttelte den Kopf. »Sie wollten nur die Verwandtschaft ihres Vaters besuchen und danach noch ein Turnier. Nichts Besonderes. Ich weiß genauso wenig wie du, was dann passiert ist …«
»Aber in den Geschichten heißt es …«, begann Ninavis.
Dorna hob die Hand. »Du sprichst von Legenden, aber was sie über Danorak zu sagen haben, ist nicht wahr. Sie ist den Dämonen nicht entwischt und hat den Kaiser gewarnt. Sie haben Janel eingefangen wie alle anderen auch, aber die Dämonen haben sie nicht getötet. Stattdessen hat ihr Anführer, dieser Dämonenprinz, beschlossen, von ihr Besitz zu ergreifen, um noch mehr Dämonen herbeizurufen. Er hat ihren Körper getragen wie ein Reitgewand. Und dann hat ein Dämonenheer, kommandiert von einem achtjährigen Mädchen, ganz Jorat mit Tod und Vernichtung überzogen. Selbst als der Kaiser dem ein Ende machte, konnte er das Schwein nicht dazu bringen, seine hübsche neue Hülle aufzugeben.«
»Vater Zajhera glaubt, der Dämonenprinz wollte den Kaiser zwingen, ein Kind zu töten«, warf Bruder Qaun ein.
»Und wer ist das schon wieder?«
»Vater Zajhera. Er ist der Anführer meines Ordens.« Qaun legte sich eine Hand auf die Brust. »Xaltorath hatte von Janel Besitz ergriffen, und niemand konnte den Dämon austreiben. Der Kaiser hoffte, Vater Zajhera hätte vielleicht mehr Glück. 80 Und das hatte er tatsächlich. Er heilte Janel von ihrer Besessenheit und sorgte dafür …«
»Wofür hat er gesorgt?«, hakte Ninavis nach.
»Besessenheit hat verheerende Auswirkungen auf den menschlichen Geist. Die meisten erholen sich nie wieder davon. Vater Zajhera hat dafür gesorgt, dass Janel sich dennoch regenerierte. Sie brauchte geistige und spirituelle Heilung, nicht körperliche.«
»Ist ja gut«, sagte Dorna. »Wahrscheinlich ist dein Ordensoberhaupt ganz in Ordnung. Janel hat sechs Monate in seinem schicken Kloster verbracht, bis er den Dämon aus ihr herausgefischt hatte. Und als sie nach Tolamer zurückkam, hat er sie begleitet. Ist drei Jahre oder so geblieben, bis er sicher sein konnte, dass sie wieder richtig im Kopf war. Das war sie ja auch … Trotzdem war sie nicht mehr dieselbe. Diese sechs Monate müssen für Janel gewesen sein wie Jahre. Als sie zurückkam, was sie stark wie ein Elefant und dazu verflucht, jede Nacht ihres Lebens in der Hölle zu verbringen, als hätte Xaltorath immer noch Macht über ihre Seele.«
»Wie oft soll ich dir noch erklären, dass sie ihre Nächte nicht in der Hölle verbringt?«, brummte Bruder Qaun.
Ninavis starrte das schlafende Mädchen an. »Und was ist sie jetzt?«
»Hast du nicht zugehört?« Dorna setzte sich kopfschüttelnd. »Das habe ich dir die ganze Zeit über zu erklären versucht: Ich habe nicht den geringsten Schimmer.«