19  Oreth, die Schlange
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Thurvishar D’Lorus sich nach Shadrag Gor zurückgezogen hatte, um an seiner Chronik zu arbeiten
»Du warst also mit diesem Oreth verlobt und solltest ihn heiraten?«, fragte Kihrin.
»Mit dem zweitgeborenen Sohn des Markreev, ja«, antwortete Janel. »Aber Oreth und ich hatten sehr verschiedene Vorstellungen, was meine Rolle in unserer Beziehung betraf. Ich bin keine Stute und werde nie eine sein.«
»Und Stute bedeutet in diesem Zusammenhang nicht … weiblich?« Kihrin wollte sichergehen, dass er alles richtig verstanden hatte.
Ninavis lachte. »Kein bisschen. Stuten bleiben daheim und kümmern sich um das Haus, das schon, aber sie bestellen auch die Felder, sie unterrichten, reparieren und organisieren. Hengste sind die stolzen, schillernden Krieger, die um die Herde patrouillieren und sie vor den Löwen beschützen. Wenn du einen Hengst fragst, wird er sagen, dass er das Sagen hat, aber die Stute, die alles am Laufen hält, lacht nur darüber.«
»So einfach ist es auch wieder nicht«, brummte Janel. »Und es sind nicht alle gleich.«
»Richtig«, bestätigte Dorna, »aber Ihr werdet nie diejenige sein, die zu Hause bleibt und sich um die Fohlen kümmert, während Euer Hengst in den Kampf zieht, so viel ist mal sicher.« Sie wackelte mit dem Zeigefinger in Kihrins Richtung. »Vergesst das nicht.«
»Oh, bestimmt nicht«, erwiderte Kihrin und breitete die Hände aus. »Wie ein alter Freund mal gesagt hat: Ich lasse mich nur mit Frauen ein, die mir in einem Kampf den Hintern versohlen könnten.«
Ninavis wandte sich an Janel. »Scheint, als wäre er in Ordnung.«
»Danke, wie nett von dir. Jetzt, da ich das Einverständnis der Altvorderen habe …« 110 Janel bedachte Dorna und Ninavis mit einem genervten Blick und wandte sich dann an Qaun. »Du bist dran.«
Qaun räusperte sich und begann zu lesen.
Qauns Schilderung. Atrine, Jorat, Quur.
Als sie die Gemächer erreichten, die für den Grafen von Tolamer und dessen Familie reserviert waren, hatte Bruder Qaun jede Orientierung verloren. Die verwinkelten Straßen und Sackgassen bildeten einen Irrgarten, in dem jeder Fremde sich unweigerlich verlief.
Außerdem benutzte niemand die Straßen.
Das taten die Menschen hier nur, wenn es absolut nicht anders ging: Wenn sie beispielsweise eines der Stadttore passieren mussten oder zum Grün gingen, der großen parkartigen Anlage in Atrines Zentrum. Bei allen anderen Gelegenheiten erklommen sie die Wendeltreppen, die hinauf zu den Brücken und Durchgängen auf der dritten Ebene führten (eigentlich die vierte, wenn man den Boden mitzählte). Dort oben befanden sich die wahren Straßen von Atrine.
Graf Janel blieb vor einer hölzernen Tür stehen, die exakt genauso aussah wie all die anderen, an denen sie vorbeigekommen waren. Während Dorna eine angelaufene Messinglaterne entzündete, zog Janel einen sehr alt aussehenden Schlüssel aus ihrem Sallí-Umhang und sperrte auf.
Sie wartete.
Niemand rief etwas. Niemand kam. Nichts rührte sich.
Janel öffnete die Tür und bat alle nach drinnen. Sie gingen durch einen Empfangsraum mit einer Sitzecke, vorbei an einer Küche zur Rechten und dann die Haupttreppe hinunter.
Am Fuß der Treppe stieß Bruder Qaun sich das Schienbein an einem Beistelltischchen und hätte beinahe laut geflucht. Stute Dorna hob die Laterne und beleuchtete die großzügigen Räumlichkeiten. Bei dem Gedanken, dass die Theranons diese Räume schon seit Gründung der Stadt durch Kaiser Kandor vor einem halben Jahrtausend benutzten, überkam Bruder Qaun ein ehrfürchtiges Schaudern.
Graf Janel stand eine Weile da und inspizierte den Boden, als versuchte sie, anhand der Abdrücke im Staub auf den Dielen herauszufinden, ob jemand hier gewesen war. Schließlich zuckte sie die Achseln und ging zu den Wandschränken im großen Wohnzimmer. Sie öffnete die steinernen Türen, die mit einem feinen Gittermuster verziert waren, durchwühlte die Schränke und holte diverse Kisten daraus hervor.
»Sobald ich hier fertig bin, sehe ich unten nach«, sagte Dorna und begann, die Wandlaternen anzuzünden.
Sir Baramon setzte sich auf eine niedrige Steinbank. »Bei dem Anblick werden Erinnerungen wach …«
»Die könnt Ihr gerne für Euch behalten«, blaffte Dorna. »Sitzt nicht so herum und helft mir lieber.«
Janel zog eine kleine Metallkassette aus einem der Schränke und betrachtete sie. »Schon gut, Dorna. Ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe.« Sie stellte die Kassette auf einem Tisch ab und öffnete den Deckel.
Darin befand sich Schmuck. Kostbare Metallkettchen, eine Muschelgemme, eine Brosche aus Jade und ebensolche Haarnadeln, ein Karneolanhänger mit einem eingravierten Löwen, eine Kette aus Feueropalen sowie eine aus makellosen schwarzen Perlen.
Janel seufzte erleichtert. »Ich bin so froh, dass alles noch da ist. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, mein Großvater hätte sie vielleicht verkauft.«
»Warum hat er es nicht getan?«, fragte Dorna. »Hätte ihm helfen können, seine Schulden zu bezahlen.« Janels Entdeckung hatte sie Sir Baramon und das untere Stockwerk ganz vergessen lassen.
»Weil es Diebstahl gewesen wäre. Dieser Schmuck hat meiner Mutter gehört, und jetzt gehört er mir.« Sie schloss die Kassette wieder und reichte sie Dorna. »Könntest du das bitte mit Sir Baramons Hilfe für mich verkaufen?«
Dorna blinzelte. »Aber Ihr sagtet doch gerade, der Schmuck gehörte Eurer Mutter.«
»Um mich an sie zu erinnern, brauche ich ihn nicht.«
Dorna schaute sie mit funkelnden Augen an. Schließlich nickte sie und schnippte Sir Baramon zu. »Also dann, kommt mit. Gehen wir nachsehen, ob Gerios immer noch diesen Glitzersachenladen hat.« Sie nahm die Kassette und machte sich über die Treppe auf den Weg zurück zum Eingang.
»Hör auf, mit den Fingern nach mir zu schnippen, Weib. Und tu nicht so, als wäre ich dein Lakai.«
»Ach, das hättet Ihr wohl gern.« Sie schnippte noch einmal mit den Fingern und klopfte dann in einer rhythmischen Abfolge gegen die Tür. »Wenn wir zurückkommen, Graf, klopfen wir genau diesen Rhythmus, damit Ihr wisst, dass wir’s sind.«
»Danke, Dorna.« Janel machte sich ans Aufräumen. Sie stellte alle Kisten zurück, schloss die Türen und ging weiter zum nächsten Wandschrank.
»Kann ich irgendwie helfen?«, fragte Bruder Qaun.
Janel überlegte kurz, dann deutete sie auf ein Schreibpult, das an der Wand stand. »Da drinnen sind möglicherweise Briefe. Korrespondenz. Im Moment habe ich nicht einmal Aufzeichnungen über die Schulden meines Großvaters.« Sie lächelte. »Seine Gläubiger könnten jede beliebige Summe von mir verlangen, und ich wäre nicht in der Lage, ihnen zu widersprechen.«
Bruder Qaun nickte und durchsuchte die Schubladen, bis er es einfach nicht mehr aushielt. »Was auf dieser Brücke passiert ist …«, begann er, verstummte jedoch, da der Graf nicht auf seinen Ausbruch reagierte.
Gerade, als Qaun zu dem Schluss gekommen war, dass das auch so bleiben würde, sagte Janel: »Ich habe dich enttäuscht.«
»Ich verstehe Euch nicht. In Barsine habt Ihr Euch auch eingemischt …«
»Und das war ein Fehler. Barsine gehört nicht zu meinem Herrschaftsgebiet. Wenn jemand sagen würde, ich hätte meine Befugnisse überschritten, hätte er recht.«
»Ich begreife nur nicht …« Er schluckte. »Ich verstehe das einfach nicht.«
»Ist es wirklich so schwer?« Sie schaute ihn an. »Stell dir vor, du siehst Kinder beim Spielen, ein Elternteil passt auf. Eines der Kinder wird von den anderen gehänselt und fängt an zu weinen. Was tust du?«
Bruder Qaun blinzelte. »Ich sage den anderen Kindern, sie sollen den Kleinen in Ruhe lassen.«
»Und was sagst du damit?«
Er runzelte die Stirn. »Ich … Wie meint Ihr das? Ich sage, dass Kindern nicht erlaubt werden sollte, auf anderen herumzuhacken.«
»Nein, du sagst, dass das Kind jemanden braucht, der es beschützt. Und dass der Elternteil, der dabei ist, seiner Aufgabe nicht nachkommt.«
Bruder Qaun bemühte sich, seinen Ärger im Zaum zu halten. »Graf, dieser Vergleich hinkt, wenn der Elternteil seiner Aufgabe eindeutig nicht nachkommt.«
»Aber tut er das wirklich nicht? Woher willst du das wissen? Vielleicht hat das weinende Kind zuvor die anderen gehänselt, und die haben den Spieß nun umgedreht, um ihm zu zeigen, was für ein Gefühl das ist. Vielleicht weint das Kind bei jeder sich bietenden Gelegenheit, weil es die Süßigkeiten haben möchte, die es dann zum Trost immer von seinen Eltern bekommt. Vielleicht muss es lernen, sich gegen Hänseleien zu wehren, weil die Unterdrückung bestimmt nicht aufhört, sobald es erwachsen ist. Du platzt in etwas hinein, bildest dir übereilt ein Urteil und triffst dann auch noch eine vorschnelle Entscheidung, wie das Problem angeblich zu lösen ist. Alles, was du damit beweist, ist deine Arroganz.«
»Arrogant? Ich?«
Janel ließ nicht locker. »Liegt unter all deiner Demut nicht auch Arroganz verborgen? Die Arroganz, andere zu heilen und gute Taten zu vollbringen? Denkst du nicht tief in deinem Innern, dass deine Friedfertigkeit und Mildtätigkeit dich zu einem besseren Menschen machen als jemanden wie Dedreugh oder jemanden wie mich?«
»Dedreugh war ein Dämon!«
»Ich bin auch ein Dämon. Was sagt dieser Begriff aus? Vielleicht sollten wir nicht immer so schnell davon ausgehen, dass alle Ungeheuer böse sind.«
Janels Worte raubten ihm die Luft. »Graf …«
»Ich bin ebenfalls der Meinung, dass das, was auf der Brücke passiert ist, schrecklich war. Aber wenn ich dazwischengegangen wäre, hätte ich damit behauptet, besser zu wissen, was zu tun ist, als der Verantwortliche hier – als Herzog Xun.«
Der Priester seufzte und schüttelte den Kopf. »Das würde nur gelten, wenn es um Jorater ginge. Der Herzog gesteht den Marakorern nicht dieselben Rechte zu, die für Euer Volk selbstverständlich sind.«
Janel setzte sich auf eine Kiste. Ihr Blick wurde glasig.
Bruder Qaun ließ von den Schubladen ab und wandte sich ihr zu. »Täusche ich mich, mein Graf?«
»Nein, aber …«
Ein Geräusch von oben ließ Janel verstummen. Ein Geräusch, als steckte dort jemand einen Schlüssel ins Schloss.
Aber es hatte niemand geklopft, weder rhythmisch noch sonst wie.
Janel stand auf, packte Bruder Qaun am Arm und zog ihn, noch bevor er protestieren konnte, mit sich in den Wandschrank. Sie kauerten sich hinter die Kisten darin.
Als die Eingangstür aufging, fiel dem Priester auf, dass einige Kisten nach wie vor offen herumstanden und die Laternen noch brannten. Jeder würde sofort merken, dass jemand hier nach etwas gesucht hatte. Man würde sie unweigerlich entdecken – und sei es wegen des Lärms von Bruder Qauns pochendem Herzen.
»Was …? Bei Khored, jemand war hier!«
Der Priester zuckte zusammen. Er stand noch nicht lange in Janels Diensten, trotzdem erkannte er Sir Oreth Malkoessians Stimme – ehemaliger Verlobter von Graf Janel und zweitgeborener Sohn des Markreev von Stavira – sofort.
»Einen Moment, Herr. Lasst mich nachsehen.« Die zweite Stimme kam ihm nicht bekannt vor.
Bruder Qaun hörte Schritte näher kommen und duckte sich. Eine Schranktür wurde aufgerissen, aber glücklicherweise nicht die, hinter der sie sich versteckten. Er hörte, wie Kisten herumgeschoben wurden. Falls der Neuankömmling auch in dem anderen Wandschrank nachsah, waren sie verloren.
»Es tut mir leid, Herr. Sie haben die Schmuckkassette mitgenommen.«
»Bist du sicher, dass sie in diesem Schrank war?«, knurrte Oreth, der offensichtlich vor Wut schäumte.
»Ja, Sir. Absolut sicher. Wie es scheint, wurden wir bestohlen, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie jemand auf die Idee kommt, dass es hier irgendetwas von Wert geben könnte.«
»Ach nein, Kovinglass?«, blaffte Oreth. »Glaubst du etwa, die Enkelin deines ehemaligen Herrn wusste nichts von der Schmuckkassette ihrer eigenen Mutter?«
»So dumm, dass sie sich hier blicken lässt, kann sie nicht sein, Sir«, entgegnete Kovinglass.
»Ich brauche diesen Schmuck, um die Zinsen zu bezahlen, die mein Vater von mir verlangt!«
»Vielleicht könnt Ihr ihn überreden, Euch Aufschub zu gewähren?«
Sir Oreth schnaubte. »Das bezweifle ich. Er betrachtet das als eine Art charakterbildende Maßnahme.«
»Sehr wohl, Sir.« Kovinglass hielt seinen Tonfall betont neutral.
»Er will, dass ich scheitere. Nichts würde ihm besser gefallen, als zu sehen, wie ich zu ihm zurückgekrochen komme.« Oreths Stimme troff nur so von Hass. »Die Diener sollen hier aufräumen. Vielleicht finden sie etwas von Wert.«
»Störe ich?«, meldete sich eine dritte Stimme mit angenehmem Klang und westquurischem Akzent zu Wort.
Ein Klirren, wie von einer Rüstung. »Wer seid Ihr? Was habt Ihr hier zu suchen?«
»Verzeiht mein Eindringen. Ich suche den Grafen von Tolamer.«
»Ich frage Euch noch einmal: Wer seid Ihr?«
»Ich? Mein Name ist Relos Var.«
Stille. Bruder Qaun stellte sich vor, wie die beiden Männer sich überrascht anschauten. Was in Janel vorging, konnte er nur raten. Das musste der Mann sein, den sie in Mereina getroffen hatte.
»Ich bin der Graf von Tolamer«, erklärte Oreth.
Relos Var lachte leise. »Ach ja? Was habt Ihr mit Euren Haaren gemacht? Ich habe Euch gar nicht erkannt. Vermutlich, weil Ihr ein Mann seid und kein bisschen wie Janel Danorak ausseht …«
»Ihr Name ist Janel Theranon.«
»Ja, so heißt sie auch. Eine nette junge Dame. Wie nennt Ihr ihre Farbe? Von der Nacht geküsst? Passend.«
»Janel ist meine Verlobte«, berichtigte Oreth. »Ich werde bald der Graf von Tolamer sein.«
»Bestimmt zählt sie schon die Minuten bis zu diesem glücklichen Tag.« 111
»Sie ist nicht hier«, warf Kovinglass ein. »Vielleicht solltet Ihr jetzt besser gehen.«
»Aber ja, Ihr habt bestimmt recht.« Bruder Qaun hörte, wie jemand Richtung Treppe ging und dann wieder stehen blieb. »Ich bitte nochmals um Verzeihung. Ich habe Eure Unterhaltung zufällig mit angehört und glaube, dass wir alle von der momentanen Lage profitieren könnten. Es wäre nachlässig von mir, das nicht zu erwähnen.«
»Redet Klartext«, sagte Sir Oreth. »Wie meint Ihr das?«
Die Schritte kamen wieder näher. »Ganz offensichtlich seid Ihr niemand, der sich von den eigenartigen Gebräuchen der Jorater einschränken lässt. Idorrá und Thudajé sind interessante Konzepte, aber ein kluger Mann nutzt alle Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen.«
»Überlegt Euch gut, was Ihr sagt, alter Mann.«
»Falls ich mich täuschen sollte, entschuldige ich mich. Ich habe versucht, mit dem alten Grafen einen Vertrag abzuschließen, aber er war nicht interessiert. Weshalb, verstehe ich nicht, denn die Übereinkunft wäre die Lösung all seiner finanziellen Probleme gewesen. Ich dachte, seine Enkelin würde mein Angebot möglicherweise in Erwägung ziehen, doch dann hörte ich von Eurer misslichen Lage und …« Relos Var hielt inne. »Verzeiht, ich verschwende Eure Zeit. Guten Abend, meine Herren.«
Er entfernte sich wieder.
»Wartet«, rief Sir Oreth. »Was ist das für ein Angebot?«
»Oh, Ihr wollt mich anhören?« Vars Stimme klang, als lächelte er.
»Was … ja. Deshalb frage ich«, erwiderte Sir Oreth zähneknirschend.
»Freunde von mir wollen eine Handelsroute nach Jorat aufbauen und brauchen einen … sagen wir, einen sicheren Hafen. Im übertragenen Sinn, nicht im wörtlichen. 112 Der Kanton Tolamer ist geographisch ideal gelegen. Als Gegenleistung für bevorzugten Zugang zu Eurem Torstein und für Eure Diskretion bieten meine Partner Euch eine großzügige finanzielle Entschädigung.«
»Eine finanzielle Entschädigung dafür, dass wir gegen die Statuten der Torwächtervereinigung verstoßen?«, fuhr Kovinglass auf. »Ihr würdet ein Vermögen sparen, indem Ihr die gesetzlichen Gebühren umgeht.«
»Ich bin sicher, wir könnten diesbezüglich zu einer Einigung kommen«, erwiderte Relos Var. »Hätte der verstorbene Graf mich angehört, wäre seine finanzielle Notlage behoben gewesen.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass der Graf Euch je erwähnt hätte«, erklärte Kovinglass misstrauisch.
»Oh, ich trat an ihn heran, als Ihr nicht da wart. Schließlich seid Ihr ein Torwächter. Hätte ich es in Eurem Beisein getan, hättet Ihr meinen Plan gewiss sofort an das Haus D’Aramarin verraten.«
»Und diese Sorge plagt Euch inzwischen nicht mehr?«
Relos Var lachte. »Inzwischen weiß ich, dass Ihr käuflich seid.«
»Was erdreistet Ihr Euch …?«
Qaun hörte ein kurzes Handgemenge, dann ein Gurgeln. Er hielt den Atem an. Er war Kovinglass nie begegnet, doch er kannte den Namen: Kovinglass war der Torwächter des Kantons Tolamer gewesen. Und der Mann, dessen schlechte Ratschläge Janels Großvater in finanzielle Bedrängnis gebracht hatten.
Anscheinend hatte dieser Relos Var sich diesmal mit dem Falschen angelegt, dachte Bruder Qaun gerade, da merkte er, dass es umgekehrt war.
»Ähm …«, sagte Sir Oreth. »Würde es Euch etwas ausmachen, ihn am Leben zu lassen? Ich brauche ihn noch.«
Etwas Schweres fiel zu Boden.
»Danke«, sagte Sir Oreth.
»Keine Ursache. Aber seid Ihr sicher, dass Ihr ihn braucht? Nach meiner Erfahrung ist jemand, dessen Treue käuflich ist, nicht nur für eine Person käuflich.«
Sir Oreth lachte. »Ach ja? Und wie erkauft Ihr die Treue Eurer Leute?«
»Durch Sinn, Zielgerichtetheit und Wertschätzung«, antwortete Var ohne Zögern. »Meine Leute sind mir nicht nur wegen des Geldes treu, das ich ihnen bezahle. Sie halten mir die Treue wegen der Sache, für die ich kämpfe.« Er hielt kurz inne. »Das Geld schadet allerdings nicht.«
Bruder Qaun begann zu verstehen, warum Graf Janel diesen Mann für die eigentliche Bedrohung hielt.
Die Antwort schien Sir Oreth zu erstaunen. »Wo sagtet Ihr, dass Ihr herkommt?«
»Jetzt gerade? Aus Kazivar.«
Eine Kiste knarrte, als Sir Oreth aufstand. »Warum bleibt Ihr nicht noch ein bisschen, dann könnten wir die Angelegenheit beim Abendessen besprechen? Ich …« Er überlegte. »Nein, die Diener müssen hier erst noch aufräumen. Es brennt nicht einmal Feuer im Kamin. Dürfte ich Euch auf das Grün einladen? Ich kenne dort ein hervorragendes Wirtshaus.«
»Nichts lieber als das.« Var schnippte mit den Fingern. »Wach auf.«
»Wie, was?«, stammelte Kovinglass. »Was ist passiert …?«
»Ich gehe mit Relos Var zum Abendessen. Räum inzwischen hier auf.«
Es folgte eine lange Pause. Ein Torwächter war schließlich kein Diener. Sie traten zwar oft als Berater auf, weil ihre hohe Bildung sie für diese Aufgabe prädestinierte. Doch vor allem waren sie Magier, die ihre Gebühren an das Haus D’Aramarin entrichten mussten.
»Ja, Sir«, knurrte Kovinglass schließlich.
Bruder Qaun schickte ein Dankgebet zum Himmel, als Relos Var und Sir Oreth gingen. Es wurde sehr still in dem Raum hinter der Schranktür, und der Priester fragte sich schon, ob Kovinglass doch mit ihnen gegangen war.
Dann trat der Torwächter zu dem Schrank, in dem Janel und Bruder Qaun sich versteckten, und riss die Türen auf.
Der Priester musste einen Aufschrei unterdrücken, als Kovinglass die oberste Kiste des Stapels öffnete, hinter dem Qaun und der Graf kauerten. Er wühlte darin herum und hörte erst auf, als jemand oben die Eingangstür öffnete.
Bruder Qaun hielt den Atem an und klammerte sich an die unwahrscheinliche Hoffnung, dass es nicht Dorna und Sir Baramon waren. Das Glück war ihm hold.
»Wieso hat das so lange gedauert?«, bellte Kovinglass. »Die Betten müssen frisch bezogen werden, und jemand muss die Küche saubermachen. Sie ist seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Macht schon!«
Als Antwort auf seine Tirade ertönte ein: »Ja, Meister Kovinglass.« Die Dienerschaft war also hier.
»Möchtet Ihr etwas Tee, Meister Kovinglass?«, fragte eine Frau. »Ich habe welchen vom Schloss mitgebracht und außerdem gedämpfte Sesamteigtaschen. Sinon bereitet gerade die Küche vor.«
»Oh, aber ja.« Der Gedanke an Tee und etwas zu essen schien Kovinglass’ Ärger augenblicklich zu vertreiben. Er entfernte sich vom Schrank und sprach wieder sanfter. »Was würde ich nur ohne dich tun, Siva?«
Sie lachte. »Ihr müsstet hungern und ohne Tee auskommen, Meister Kovinglass. Nun lasst uns allein. Wer vom Blut des Joras ist wie Ihr, muss sich nicht mit Putzen abgeben. Ich werde das übernehmen.«
Bruder Qaun runzelte die Stirn. Die Stimme der Frau kam ihm bekannt vor.
Kovinglass’ Schritte verhallten auf der Treppe, kaum eine Sekunde später sprang Janel auf.
»Ninavis, was tust du hier?«, zischte sie.
Bruder Qaun stand ebenfalls auf und spähte blinzelnd über den Kistenstapel.
Ninavis stand vor ihnen, sie trug die traditionelle joratische Bedienstetentracht – eine stumpfbraune Tunika, dazu einen geschlitzten Rock. Eine Hand war mitten in der Bewegung erstarrt, als wollte sie nach einer Waffe greifen, die sie nicht mehr am Gürtel trug.
»Bei den Acht!«, flüsterte Ninavis. »Mach das nie wieder. Was zur Hölle hast du hier verloren?«
»Ich habe zuerst gefragt.«
Bruder Qaun trat aus dem Wandschrank. »Das kann warten. Wir müssen von hier verschwinden, bevor sie zurückkommen.«
Janel schaute Richtung Küche, dann packte sie Ninavis’ Hand und zog sie mit sich eine weitere Treppe hinab. Bruder Qaun folgte den beiden. Er kam sich nackt und schutzlos vor, als würden sie jeden Moment entdeckt. Waren die Diener ebenfalls nach unten gegangen? Würden sie den Mund halten? All die Fragen ließen seinen Magen krampfen.
Die Treppe führte zu einem langen Flur, in dem die Bediensteten bereits die Laternen entzündet hatten. Gesprächsfetzen drangen heran, während die Dienerschaft die Räume saubermachte, das Mobiliar abdeckte und die Zimmer vorbereitete. Janel ignorierte die Geräusche und bedeutete allen, ihr in einen dunklen Abstellraum zu folgen.
Drinnen nahm der Graf eine Laterne von der Wand und reichte sie Bruder Qaun. »Zünde sie an«, sagte Janel und beugte sich über ein schweres, mit einem Schloss verriegeltes Eisengitter im Boden.
»Was hast du …?«, begann Ninavis.
Janel brach das Schloss mit bloßen Händen auf. »Folgt mir.«
Sie hob das Gitter an und legte es zur Seite.
Bruder Qaun entzündete die Laterne und hielt sie über die Öffnung, während Janel Ninavis hinabließ. Danach machte sie das Gleiche mit dem Priester.
»Was zum …?«
Mehrere Marakorer, offensichtlich eine Familie, fuhren von ihren Bettrollen hoch und blinzelten die Eindringlinge an. Die Wand aus Kisten, die sie als Sichtschutz um sich herum errichtet hatten, machte deutlich, dass sie illegal hier wohnten. Sie nutzten die Tatsache, dass das Erdgeschoss der Wohnhäuser in Atrine nur selten bewohnt oder auch nur aufgesucht wurde.
Mehrere Sekunden lang sprach niemand ein Wort.
»Verzeihung«, sagte Graf Janel. »Ich entschuldige mich für die Störung, empfehle euch aber, augenblicklich zu verschwinden. Früher oder später werden unsere Verfolger auch hier unten suchen.« Sie stieg über einen alten Mann hinweg und ging Richtung Tür.
»Bedaure«, sagte Bruder Qaun zu der Familie. »Kann ich irgendetwas für euch tun?« 113
Ninavis packte ihn am Arm und schleifte ihn mit sich.
Graf Janel entriegelte die Tür und trat hindurch. Sie fanden sich auf den von Müll übersäten Straßen Atrines wieder. Der Geruch sagte Bruder Qaun, dass die Flüchtlinge den Gehweg draußen als Latrine benutzt hatten.
Graf Janel blieb stehen und drehte sich zu Ninavis um.
»Und jetzt sag mir, was du in Kovinglass’ Diensten zu suchen hast«, flüsterte sie mit versteinerter Miene.
Bruder Qaun kannte den Grafen inzwischen gut genug, um den Gesichtsausdruck deuten zu können: Janel war außer sich vor Wut.
Ninavis verdrehte die Augen. »Ich freue mich auch, dich zu sehen.«
Janels Nasenflügel bebten.
»Ninavis, bitte«, sagte Bruder Qaun.
Die Banditenanführerin zuckte die Achseln. »Es war die Idee des Barons. Kalazans Idee, meine ich. Wir dachten uns, da ihr zu Fuß unterwegs seid, dürfte es eine Weile dauern, bis ihr in Atrine ankommt. Die Armee war inzwischen in Mereina eingetroffen, und ihr Torwächter hat angeboten, jeden, der gehen möchte, an einen Ort seiner Wahl zu bringen. Ich ließ mich nach Tolamer befördern, dachte mir, ich könnte im Schloss arbeiten und Sir Oreth im Auge behalten. Dich warnen, sobald er weitere Versuche unternimmt, dich absetzen zu lassen.«
»Khorsals Köttel«, murmelte Janel und massierte sich den Nasenrücken. »Ich brauche deine Hilfe nicht.«
Angesichts der Unterhaltung, die sie kürzlich über das Thema Schutz geführt hatten, konnte Bruder Qaun verstehen, warum der Graf das sagte. Auch wenn es seiner Meinung nach dreist gelogen war. Janel brauchte durchaus Hilfe. So viel Hilfe, wie sie nur bekommen konnte.
Ninavis hob eine Augenbraue. »Euer Idorrá interessiert mich nicht, Graf. Ich helfe, wem immer ich will, und ich erwarte auch kein Händchenhalten oder sonst was als Gegenleistung dafür.«
»Ich wollte damit nur sagen …« Janel atmete einmal tief durch. »Du hättest das nicht tun sollen. Kalazan hätte das nicht tun sollen.«
»Ich bitte um Verzeihung, aber wir konnten gar nicht anders. Kalazan schuldet dir sein Thudajé, oder willst du das etwa abstreiten? Er ist nur wegen dir Baron. Glaubst du, das hat er einfach vergessen?«
»Und was ist mit dir? Hast du nicht gerade gesagt, du hältst nichts von Idorrá und Thudajé? Warum bist du hier?«
»Meine Gründe …«
Bruder Qaun räusperte sich. »Ich unterbreche nur äußerst ungern, aber wie wollen wir Dorna und Sir Baramon finden? Wenn es uns nicht gelingt, laufen sie Kovinglass direkt in die Arme. Oder schlimmer noch Sir Oreth oder Relos Var.«
Ninavis zuckte zusammen. »Relos Var? Er ist hier?«
»Ja«, bestätigte Janel. »Und noch genauso voller finsterer Absichten wie bei unserer letzten Begegnung.«
Der Priester wandte sich ihr zu. »Hat er Eurem Großvater dieses Angebot tatsächlich unterbreitet?«
»Nein«, antwortete Janel. »Ich bin ihm nie begegnet, und ich habe auch nirgendwo in den Aufzeichnungen meines Großvaters seinen Namen gesehen. Er hat Oreth belogen und ihm Honig ums Maul geschmiert, und so blöd, wie Oreth nun mal ist, hat er es nicht einmal gemerkt.« Sie schlug mit der Faust in die flache Hand. »Gerade erfahre ich, dass Oreth endlich da ist, wo ich ihn haben will – so nahe am Rande des Bankrotts, dass er seine Intrigen nicht mehr weiterspinnen kann –, da taucht dieser Relos Var auf und bietet ihm eine Lösung für all seine Probleme an. Ich habe mich getäuscht. Oreth steckt doch mit den Yorern unter einer Decke. Jetzt zumindest. In der Hölle soll er schmoren.«
Bruder Qaun war nicht sicher, welchen der beiden Männer sie meinte. Wahrscheinlich beide.
»Aber weshalb hat er Sir Oreth dieses Angebot gemacht?«, fragte er. »Was will Var damit erreichen? Will er sich rächen?«
»Nein«, widersprach Janel. »Wir haben ihn um den unbewachten Torstein in Mereina gebracht, aber jetzt bekommt er dafür einen noch besseren: meinen.« Sie überlegte kurz. »Vielleicht hat es doch auch ein bisschen mit Rache zu tun.«
»Das können wir später besprechen«, warf Ninavis ein. »Kommt mit. Hier sind wir nicht sicher. Ganz zu schweigen von den Krankheiten, die wir uns beim Einatmen der Dämpfe hier holen könnten.«
Der Graf nickte, nahm Bruder Qaun die Laterne ab und betrachtete angewidert das schmutzige Pflaster. »Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es am Ende dieser Straße eine Treppe.«
»Hier«, sagte Ninavis und zog einen schmiedeeisernen Schlüssel aus ihrer Schürze. »Das ist der Schlüssel zu den Gemächern des Barons von Barsine. Kalazan möchte, dass ich ihn dir gebe. Wenn sich in der Zwischenzeit nichts geändert hat, bleibt er nur so lange in Atrine, bis er seinen Treueeid abgelegt hat, und kehrt noch vor dem Turnier wieder nach Barsine zurück. Es gibt einfach zu viel zu tun dort.«
»Moment, du kommst nicht mit uns?« Janel machte keine Anstalten, den Schlüssel entgegenzunehmen.
Ninavis schüttelte den Kopf. »Ich kann nur für dich spionieren, wenn ich hierbleibe.«
»Ich habe dich nicht gebeten, für mich zu spionieren«, protestierte Janel. Schließlich fügte sie hinzu: »Außerdem kenne ich den Weg zu den Barsine-Gemächern nicht. Hat Kalazan ihn dir erklärt?«
Ninavis knirschte mit den Zähnen. »Unerträgliches Ding.«
Der Graf grinste – einer der seltenen Momente, in denen man sah, wie jung Janel tatsächlich war. »Genau das magst du doch so an mir.«
»Die Sonne segne euch beide«, sagte Bruder Qaun mit einem Kopfschütteln, »aber können wir das anderswo weiter besprechen?«
Ninavis machte ein finsteres Gesicht und steckte den Schlüssel wieder ein. »Na schön, folgt mir. Und passt auf, wo ihr hintretet.«