20  Banditen, schon wieder
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Thurvishar D’Lorus sich der Geschichtsfälschung schuldig gemacht hatte
»In der Rückschau glaube ich, dass Relos Var die Wahrheit gesagt hat. Vielleicht hat er meinem Großvater das Angebot tatsächlich unterbreitet«, gestand Janel. »Dann hätte Oreth ihm mit seiner Einmischung einen Strich durch die Rechnung gemacht, was ich ziemlich ironisch finde.«
Dorna blinzelte. »Euer Großvater hätte nie das Geld eines Fremden angenommen.«
»Ja, das weiß ich«, erwiderte Janel. »Aber ich hätte es getan.«
»Janel!«
»O doch, Dorna, das hätte ich. Tolamer war auf Hilfe angewiesen. Wenn Relos Var oder einer seiner Leute mir diese Hilfe im Austausch für ein paar ›kleinere Gefälligkeiten‹ angeboten hätte, wäre ich sofort darauf eingegangen. Nur dass Oreth, noch bevor irgendjemand etwas tun konnte, meine Ländereien und das Schloss beschlagnahmt hat, als er vom Tod meines Großvaters erfuhr.«
»Aber wieso interessiert Relos Var das alles überhaupt?«, fragte Kihrin.
»Es gibt nicht viele Gebirgspässe, die von Yor nach Jorat führen«, antwortete Janel, »und einer davon liegt in Tolamer. Neben dem Pass haben wir sogar noch eine Seeroute und den Torstein als Verbindung. Seit ich Kovinglass entlassen habe, gibt es in Mereina keinen Torwächter mehr, der das Haus D’Aramarin davon unterrichtet hätte, sobald jemand den Torstein widerrechtlich benutzt. Aber wenn du in einem Land einmarschieren willst, möchtest du so viele Zugangswege für deine Truppen wie nur möglich, oder vielleicht nicht?«
»Das ist nicht der einzige Grund, aus dem Relos Var Tolamer ausgewählt hat«, warf Bruder Qaun ein. »Herzog Kaen möchte Euren Kanton gerne unter seine Kontrolle bringen, aber ich bezweifle, dass das Vars einzige Motivation war.«
»Wohl wahr«, stimmte Janel zu. Sie fing Kihrins Blick auf. »Was du über Xaltorath gesagt hast, warum sie gerade mich ausgesucht hat … Relos Var macht Jagd auf die Freiwilligen, die den Acht in ihrem Kampf beistehen wollten. Er macht Jagd auf mich .« Sie lächelte. »Ich sollte Taja danken, dass du an diesem Tag auf dem Versteigerungspodest in Kishna-Farriga gelandet bist. Nur deshalb hatte Relos Var in Barsine keine Zeit für mich.«
»Hmm. Das ist zugegebenermaßen ein Vorteil, an den ich noch gar nicht gedacht habe«, sagte Kihrin.
»Wie dem auch sei, ich glaube, ich sollte diesen Teil zu Ende erzählen«, sprach Janel weiter. »Was jetzt kommt, gehört nicht zu meinen Lieblingsstellen.«
Janels Schilderung. Atrine, Provinz Barsine, Jorat, Quur.
Ich habe mich in Städten noch nie wohlgefühlt.
Das liegt zum Teil daran, dass sie mir nicht vertraut sind. Tolamer ist schließlich ein ländlicher Kanton. Wie es ist, in einer Stadt zu sein – was man in West-Quur unter einer Stadt versteht, diese hohe Menschendichte –, habe ich am ehesten noch auf den Turnieren erlebt. Atrine lag weit außerhalb meiner Erfahrungswelt und meiner Vorstellung von Wohlbefinden.
Aber wie sich herausstellte, sind Städte in einer wichtigen Hinsicht gar nicht so anders als Wälder: In beiden wimmelt es von Banditen.
Wir waren erst ein paar Minuten unterwegs, da begegneten wir schon welchen.
»Also gut«, sagte der Anführer und trat aus einer Seitengasse. »Ein angenehmer Abend für einen kleinen Spaziergang, nicht wahr?«
Er und seine Bande hatten uns aufgelauert, ihre Absichten waren alles andere als angenehm. Er trug eine Flickenmaske und einen dunkelgrauen Umhang über seinem abgewetzten Lederwams. Ich konnte nicht sagen, ob er aus Jorat kam, aus Marakor oder irgendeinem anderen, weit entfernten Land. Aber seine gespannte Armbrust sah ich sofort.
Ebenso die seiner Begleiter.
Ich seufzte und stellte mich vor die anderen. »Es ist in der Tat ein schöner Abend, und wir wollen keinen Ärger, also lasst uns durch.«
Ich rechnete mir keine allzu großen Chancen aus, damit durchzukommen. Ich wurde nicht enttäuscht.
»Das hast du nicht zu entscheiden, Mädel«, erwiderte der Kerl. »Wenn ihr hier durchwollt, müsst ihr Wegezoll zahlen. Sagen wir fünf Throne für jeden von euch, dann ist die Sache erledigt.«
Aus Marakor also. Ein Jorater hätte mich niemals Mädel genannt.
Ich drehte mich zu Bruder Qaun und Ninavis um. Beide waren unbewaffnet, oder zumindest Bruder Qaun – ich hatte nicht vergessen, wie Ninavis treten konnte. Ich besaß mein Schwert, das in der Enge der Gasse aber nicht leicht zu benutzen war, und trug keinerlei Rüstung. Und Arasgon graste nicht irgendwo in der Nähe, um mir mit einem schneidigen Flankenangriff zur Seite zu springen. Die Banditen waren in der Überzahl, und sie hatten Schusswaffen.
Vor allem aber hatten wir kein Geld dabei, um den Wegezoll zu bezahlen.
»Das wird nicht möglich sein«, entgegnete ich, »aber da deine Forderung gegen das Gesetz verstößt, könnten wir es doch einfach dabei belassen und alle unserer Wege gehen.«
Der Bandit kicherte. »Für so ein kleines Ding hast du eine ganz schön große Klappe. Aber du gefällst mir, also mache ich dir einen Vorschlag: Du lässt uns dein hübsches Schwert da, und wenn du es zurückhaben willst, kommst du einfach wieder und gibst uns unser Geld.« Er richtete die Armbrust auf meinen Kopf. »Nicht dass du eine Wahl hättest.«
Ich biss die Zähne zusammen. Seine Bedingungen waren nicht nur unverschämt, sie waren vollkommen inakzeptabel. Dieses Schwert befand sich seit fünfhundert Jahren im Familienbesitz, seit der Gründung von Jorat.
Ninavis schien meinen Gesichtsausdruck gesehen zu haben. Sie stellte sich neben mich. »Bist du wirklich so blöd? Du weißt genau, dass wir von Gesetzes wegen keine Schwerter besitzen dürfen. Sobald du versuchst, es zu verkaufen, ist allen klar, dass du es gestohlen hast.«
»Deshalb ist das hier ja auch eine Lösegeldzahlung, kein Diebstahl. Ich werde das verfluchte Ding einschmelzen und …« Er verstummte und musterte Ninavis mit zusammengekniffenen Augen. »Moment. ›Wir‹ hast du gesagt? Zu welchem Klan gehörst du, Weib?«
»Das spielt keine Rolle.«
»O doch, tut es.«
Ninavis musterte den Anführer von oben bis unten. »Und ihr? Seid ihr Leumiten?«, höhnte sie. »Verzieht euch. Den Ärger, den ihr bekommt, wenn ihr euch mit mir anlegt, ist es nicht wert. Geschweige denn mit ihr. Sie würde euch nach eurer alten Gottkönigin schreien lassen.« Ninavis nahm ihre Schürze ab und rollte sie auf.
Ich glaubte nicht, dass es sich um eine nervöse Geste handelte.
»Sieh dir ihr Gesicht an.« Einer der Banditen deutete auf Ninavis’ rotweinfarbenes Muttermal. »Sie ist eine Diraxon, würde ich wetten.«
Ich verzog keine Miene. Diraxon, Leumiten. Die Namen sagten mir nicht das Geringste. Waren das Regionen in Marakor? So wie ich aus Tolamer stammte, einem Kanton von Stavira?
Die Banditen schienen den Namen von Ninavis’ Klan schon das ein oder andere Mal gehört zu haben. Ein paar senkten ihre Armbrüste ein Stückchen, einer sogar ganz. »Diraxon, aber …« Er machte einen Schritt zurück.
Der Anführer war nicht so leicht einzuschüchtern. »Genauso gut könnte ich mich einen quurischen General schimpfen, aber das ändert überhaupt nichts. Jetzt holt eure Wertsachen raus und legt sie auf den Boden.«
»Gerade wolltest du doch nur das Schwert haben?«, entgegnete ich, zog die Waffe und hielt sie mit der Spitze nach unten.
»Das war, bevor ich wusste, dass dieses Miststück eine Diraxon ist.« Er deutete mit Kinn und Ellbogen auf Ninavis, seine Armbrust nach wie vor auf mich gerichtet. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich ihr nicht sofort die Kehle aufschlitze. Die meisten rechtschaffenen Leute halten das für ihre heilige Pflicht, nachdem die Diraxon den letzten Höllenmarsch verschuldet haben.«
Den letzten Höllenmarsch verschuldet …
Meine Kiefermuskeln zuckten. Ich schaute fragend zu Ninavis hinüber, doch die beachtete mich weder, noch wies sie die Anschuldigung zurück – weil sie gar nicht zuhörte.
Sie machte sich bereit zum Kampf.
»Nicht«, sagte ich ohne recht zu wissen, wen ich damit meinte – Ninavis oder den Banditenanführer. Ich senkte den Schwertarm. Gegen eine Armbrust konnte ich damit zwar nicht viel ausrichten, aber wenigstens hatte ich es bereits aus der Scheide gezogen.
»Weißt du was? Lassen wir das Ganze einfach. Ich habe meine Meinung geändert«, sagte der Anführer und hob die Hand zu einem Befehl, der mir gewiss nicht gefallen würde.
»Nicht«, erwiderte ich, doch der Anführer hörte genauso wenig zu wie Ninavis. »So muss es nicht enden.«
Niemand beachtete mich, die Banditen waren voll und ganz auf Ninavis konzentriert.
»Ich bin ein Graf! Wenn ihr mir oder einem der meinen etwas antut, wird der Herzog nicht ruhen, bis er euch zur Strecke gebracht hat.«
»Der Herzog kann von mir aus in der Hölle erfrieren«, höhnte der Anführer.
»Bruder Qaun, geh in Deckung.«
»Graf, bitte …«
»Zur Hölle mit dir«, bellte der Anführer und drückte ab.
Ich drehte mich blitzschnell zur Seite. Der Armbrustbolzen jagte zischend heran, zerfetzte meinen linken Ärmel und schnitt die darunterliegende Haut auf. Dann schlug er in eine verdreckte Marmorwand ein.
Ich fluchte vor Schmerz.
»Verdammt«, schnaubte Ninavis und hieb mit ihrer aufgerollten Schürze nach der Armbrust eines der Banditen, während sie gleichzeitig einem anderen mehrmals gegen den Kopf trat. Der Getroffene sank zu Boden.
Aber die anderen waren noch auf den Beinen und kurz davor, eine Salve auf Ninavis abzufeuern, die sie für die größere Gefahr hielten.
Das musste ich ändern.
Ich stürzte mich auf den Anführer. Ihm blieb noch einen Wimpernschlag lang Zeit, über die Fehler nachzudenken, die er im Leben gemacht hatte, dann schlug ich ihm mit dem Schwertknauf den Schädel ein. Eine grässliche Blutfontäne ergoss sich über die Wand in seinem Rücken, doch ich sah gar nicht hin. Stattdessen packte ich seine Leiche, hob sie wie einen Schild und wehrte damit zwei Armbrustbolzen ab, die für Ninavis bestimmt gewesen waren. Dann schleuderte ich den Toten einem der Kerle zur Ablenkung entgegen, während ich ihn von der Hüfte bis zum Hals mit meinem Schwert aufschlitzte.
Jemand rief mir eine Warnung zu.
Ich wirbelte herum, und in diesem Moment …
In diesem Moment erkannte ich Ninavis nicht. Ich erkannte sie nicht als Verbündete. Sie starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an, schien zu merken, dass ich kurz davor war, auf sie loszugehen.
Die Banditen, die sie gerade hatten erschießen wollen, retteten ihr das Leben.
Ein Armbrustbolzen traf mich von hinten.
Ich spürte einen sengenden Schmerz im Rücken und fuhr herum, um mich auf den Angreifer zu konzentrieren.
Diesmal hielt ich mich nicht mit dem Schwert auf.
Ich riss dem Kerl mit bloßen Fingern den Kehlkopf heraus und warf ihn auf den Boden, während ich einem seiner Kumpane meine Klinge in den Bauch rammte. Dann zog ich die Klinge nach oben, bis seine Gedärme sich in einem dampfenden Sturzbach auf das Pflaster ergossen. Fäkaliengeruch, noch stärker als der Gestank von vorhin, vermischte sich mit dem Aroma von Blut und nassem Stahl.
Was in der Zwischenzeit mit Ninavis und Bruder Qaun passiert war, wusste ich nicht. Ich sah sie nicht mehr, und dafür werde ich auf ewig dankbar sein. Die beiden noch verbliebenen Banditen ließen ihre Armbrüste fallen und taumelten mit erhobenen Händen rückwärts. Vermutlich bettelten sie um ihr Leben, aber ich war taub für menschliche Sprache.
Ich tötete auch sie.
Wahrscheinlich ist es für alle Beteiligten besser, wenn ich nicht mehr weiter ins Detail gehe. 114
Ich glaube, es dauerte nicht lange, bis ich wieder zur Besinnung kam. Irgendwann merkte ich, dass ich inmitten eines halben Dutzends toter Marakorer stand, die nicht mehr aussahen wie Menschen, sondern wie abgeschlachtetes Vieh. Ich war von oben bis unten mit Blut bedeckt, ein Teil davon war mein eigenes.
Und ich hatte keine Ahnung, ob Ninavis und Bruder Qaun noch lebten.
»Ninavis? Qaun?«
Ich hörte ein Flüstern ein Stück neben mir. Hinter einem zerschmetterten und umgekippten Leiterwagen kam Bruder Qaun zum Vorschein. Ninavis versuchte nach Leibeskräften, ihn wieder nach unten zu ziehen, während er sich entsetzt umsah. Hätte er sich übergeben, hätte ich es ihm kaum verübelt. Aber ich vergesse immer wieder, dass dem Priester beim Anblick von Blut nicht schlecht wird.
Ich wollte gerade etwas zu ihm sagen, da wurde mir schwarz vor Augen.
»Wenn ich das so sehe, bin ich froh, dass du dein Schwert bei unserem Zweikampf damals nicht benutzt hast«, witzelte Ninavis und verstummte abrupt. »Janel? Janel!«
Der Boden unter meinen Füßen begann zu schwanken, dann stürzte ich in einen Abgrund.