22  Der Preis des Idorrá
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nach Ausbruch der Brände in der Hauptstadt
Janel musterte Qaun einen Moment lang. »Dann hast du es also die ganze Zeit über gewusst.«
Qaun wand sich unter ihrem Blick. Er schaute zu den anderen Wirtshausgästen hin und betrachtete schließlich seine Hände. »Gewusst?«
»Woher meine Kraft kommt.«
»Ich wusste es nicht mit Sicherheit«, gestand er, immer noch unbehaglich, »aber wir hatten so einen Verdacht. Schreckliche Erlebnisse bringen oft eine Zaubergabe mit sich, und, nun ja, die Eure hat sich direkt nach einer ganzen Serie von schrecklichen Erlebnissen manifestiert.«
»Ts-ts-ts«, machte Stute Dorna und schüttelte den Kopf. »Armes Fohlen.«
»Hast du immer noch Kontakt zu diesem Vater Zajhera?«, fragte Kihrin.
Janel und Qaun tauschten einen Blick aus.
»Ich vermute, wir könnten ihn jederzeit kontaktieren. Warum?«, erwiderte Janel.
»Tja, ich weiß, dass ihr ihn beide sehr hoch schätzt, aber etwas an dieser Geschichte stößt mir auf, auch wenn ich nicht genau sagen kann, was.« Kihrin schnippte mit den Fingern. »Moment. Ich hab’s. Qaun, du hast gegenüber Vater Zajhera nie erwähnt, dass Senera eine entflohene doltarische Sklavin ist, oder?« 120
Bruder Qaun blinzelte. »Ich … was?«
»Du hast ihm nie erzählt, dass sie eine Sklavin war, ob entflohen oder nicht. Woher wusste er es dann?«
»Oh.« Qaun hob die Augenbrauen. »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Er hatte recht«, überlegte Janel laut. »Aber wir fanden es erst später heraus. Qaun, bist du sicher, dass er das über Senera gesagt hat?«
Der Priester zuckte zusammen. »Ich bin sicher.«
»Aber was hat das schon zu bedeuten?«, warf Stute Dorna ein. »Vielleicht hat er nur geraten. Außerdem ereilt die meisten Dolta-Dingsbums in Quur dieses Schicksal, wie ich gehört habe. Oder nicht?«
Kihrin zuckte die Achseln und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Möglich. Es kam mir nur seltsam vor. Aber vielleicht liegt Dorna ja richtig, und er ist einfach davon ausgegangen, dass sie eine Sklavin gewesen sein muss.«
»Nein.« Qaun schloss für einen Moment die Augen. »Nein, er hat sich wahrscheinlich versprochen – oder er hat mich auf die Probe gestellt. So oder so, es hätte mir auffallen müssen.«
Janel bedachte Qaun mit einem eigenartigen Blick. »Wie meinst du das?«
»An diesem Punkt der Geschichte sind wir noch nicht«, entgegnete der Priester. »Ihr seid dran.«
Janels Schilderung. Barsine-Gemächer, Atrine, Jorat, Quur.
Ich habe mich gefragt, ob es vielleicht besser wäre, wenn ich mich an die Ereignisse der letzten Nacht nicht erinnern könnte. Hätte ich mich reiner gefühlt, glücklicher, wenn ich am nächsten Morgen aufgewacht wäre, unsicher, was ich getan hatte – unschuldig durch Unwissen? Könnte ich dann so tun, als hätte ich nichts Böses getan, oder würde ich von Zweifeln geplagt? Was wäre schlimmer: mit der Hoffnung aufzuwachen, dass ich niemanden getötet hatte, oder genau zu wissen, was geschehen war?
Es spielte keine Rolle. Ich wusste es. Ich erinnerte mich an alles.
Ich stieß meine Bettdecke weg und griff mir eine Robe.
»Ach, Fohlen!«, schimpfte Dorna. »Ihr solltet doch im Bett bleiben.« Sie saß vor einem kleinen Tisch neben der Feuerstelle und flickte die Risse in meiner blutverschmierten Tunika. Dorna gab unumwunden zu, dass sie nicht kochen konnte, aber mit Nadel und Faden wirkte sie wahre Wunder. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, würde niemand mehr auf die Idee kommen, dass der Stoff einmal Löcher gehabt hatte. Außerdem würde sie die Tunika färben, um die Blutflecken zu überdecken.
»Mir geht’s gut, Dorna.« Das war nicht gelogen. Ich hatte keine Schmerzen, nicht einmal, wenn ich die Wunde an meinem unteren Rücken befühlte.
Ich nahm mein Mieder, das vor ihr auf dem Tisch lag. »Wer hat mich geheilt? Qaun?« Ich steckte einen Finger in das Loch auf der Rückseite. Auch das ließ sich flicken. Noch nicht lange her, da hätte ich es einfach weggeworfen und die Dienerschaft angewiesen, mir ein neues zu machen.
Jetzt musste ich so zurechtkommen.
Dorna antwortete nicht. Als ich versuchte, ihren Blick aufzufangen, war sie so auf ihre Arbeit konzentriert, dass ich mich fragte, was passiert sein mochte, während ich bewusstlos gewesen war. »Dorna? Hat Qaun meine Verletzung geheilt?«
Dorna überging meine Frage und legte Nadel und Faden weg. »War die Wunde schlimm? Beim letzten Mal wurdet Ihr ja nicht in den Rücken getroffen, und …«
Ich legte das Mieder zurück auf den Tisch. »Wo sind wir? Sind das die Barsine-Gemächer?«
»Ja, Fohlen«, sagte Dorna mit einem Lächeln. »Wir dürfen sogar ganz offiziell hier sein. Kalazan hat uns die Erlaubnis erteilt.«
»Das weiß ich. Hast du Arasgon und Talaras getroffen?«
Sie warf mir einen strengen Blick zu, machte Anstalten, etwas zu sagen, und presste dann die Lippen aufeinander. »Fohlen …«
»Und was ist mit dem Schmuck meiner Mutter? Habt ihr ihn verkauft?«
Dorna seufzte. »Nein. Aroth war schon immer ein ausgekochtes Schlitzohr. Er lässt auch die Pfandhäuser beobachten, aber ich kenne seine Tricks.« Sie sah den Ausdruck auf meinem Gesicht. »Wir werden schon einen Weg finden. Ich habe ein bisschen Geld angespart, wir sind noch nicht bankrott, und den Feuerblütern geht es gut. Sie tollen auf dem Grün herum, feiern Wiedersehen mit alten Freunden und schäkern schamlos mit den Stuten.« Sie stand auf. »Ninavis hat mir alles erzählt, was passiert ist. Seid nicht so hart zu Euch selbst. Das waren böse Männer.«
»Verzweifelte Männer«, berichtigte ich. »Über ihren Charakter weiß ich nichts.« 121
»Sie hätten Euch getötet.«
»Das weiß ich nicht mit Sicherheit. Und du auch nicht. Und falls ich ihren Seelen nicht das nächste Mal begegne, wenn ich im Nachleben bin, werde ich es auch nie erfahren.« Ich legte die Fingerkuppen aneinander. Dorna oder jemand anderer – Qaun vielleicht – hatte meine Hände gewaschen, während ich schlief. Allerdings nicht sonderlich gründlich; unter den Fingernägeln klebte immer noch getrocknetes Blut.
»Ich weiß nur, dass ich sie abgeschlachtet habe.« 122
Dorna erwiderte nichts, entweder weil sie der gleichen Meinung war, oder weil sie glaubte, dass ich es mir ohnehin nicht würde ausreden lassen. »Lasst mich Frühstück für Euch holen.«
»Nein. Kehren wir noch einmal zu meiner ursprünglichen Frage zurück: Hat … Qaun … mich … geheilt?«
Dornas beharrliches Schweigen hatte mich stutzig gemacht.
»Oh. Ich denke, das hat er, mit Zajheras Hilfe …«
Zajhera? Meine Augen weiteten sich.
»Ihr sollt Euch ausruhen!«, rief Dorna mir hinterher, als ich in den Salon ging.
Die meisten Gemächer in Atrine unterscheiden sich kaum voneinander. Ihre Grundrisse sind beinahe identisch, aber weil ein Baron einen niedrigeren Rang bekleidet als ein Graf, sind die Barsine-Gemächer kleiner als die Tolamer-Gemächer. Die gleiche Feuerstelle am gleichen Ort, die gleichen Kragsteine, der gleiche Stuck an den Decken, der gleiche Salon. Durch jahrhundertelange Benutzung war der Putz an den Wänden so glatt poliert, dass man ihn für Marmor halten konnte.
Ein vor sich hin köchelnder Topf verströmte einen würzigen Geruch. Bei dem Inhalt konnte es sich also unmöglich um den traditionellen joratischen Frühstücksbrei handeln. Ein großer Altar beanspruchte den Ehrenplatz im Salon, doch es gab nur wenige Gemälde und Wandteppiche. Keine Skulpturen, keine Bücher. Das passte zu Tamins Vater, wie ich ihn in Erinnerung hatte: als grimmigen Mann, in dessen Anschauung jegliche Form von Kunst ein potenzielles Einfallstor für Laster und Dämonen darstellte.
Sir Baramon, Bruder Qaun und Ninavis saßen im Salon und unterhielten sich mit einer vierten Person. Der Betreffende hörte ihnen mit aufrichtiger Begeisterung zu und ignorierte den gewürzten Frühstücksbrei, der in einem Teller gleich neben seinem Ellbogen allmählich kalt wurde. Sein Bart und seine geflochtenen Zöpfe hoben sich wolkenweiß von seinem braunen Gesicht ab. Er hatte weise Augen und ein freundliches Lächeln.
Ohne diesen Mann hätte ich das Erwachsenenalter niemals erreicht. Vater Zajhera hatte mich in vielerlei Hinsicht gerettet. Er hatte mir geholfen, die Schreie in meinem Kopf auszublenden, und mich darin bestärkt, dass ich mehr war als nur Xaltoraths Tochter.
»Habt Ihr sie schon einmal so erlebt? Es ist beängstigend …« Sir Baramon stieß Ninavis mit dem Fuß an, und sie verstummte. Eine unbehagliche Stille senkte sich über die Gruppe, als sie merkten, dass ich den Salon betreten hatte.
Über alle außer einen.
»Meine liebe Janel!« Der alte Vishai-Priester erhob sich und kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen. »Mein liebes Kind, es ist so lange her. Es tut mir entsetzlich leid, das von deinem Großvater zu hören. Sein Licht strahlte bis in die tiefsten Tiefen unserer Seelen.«
»Vater Zajhera«, erwiderte ich und unterdrückte mit aller Macht das Zittern in meiner Stimme. Ich musste den Drang niederkämpfen, mich ihm in die Arme zu werfen und mich an seiner Brust auszuweinen. Stattdessen legte ich ihm eine Hand an den Hinterkopf und presste meine Stirn an die seine. Zajhera erwiderte den Gruß. Wahrscheinlich hatte er seit unserer letzten Begegnung keine anständige joratische Begrüßung mehr erlebt, und das war Jahre her. »Ich dachte, Ihr seid jenseits der Drachenspitzen.«
Bruder Qaun stand ebenfalls auf. »Oh, das war er, Graf. Ich habe ihm eine Nachricht geschickt.« Qaun hielt inne, ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Ich hielt es für das Beste.«
Ich trat einen Schritt von dem Ordensoberhaupt zurück und senkte die Arme. »Verstehe. Danke, Bruder Qaun.« Ich musterte die Anwesenden, und der Anblick brach mir das Herz. Bruder Qaun war nervös, Sir Baramon rot im Gesicht vor Scham, und Ninavis …
Ninavis schaute mich nicht einmal an. 123
»Lasst uns allein«, sagte ich. »Vater Zajhera und ich haben etwas zu besprechen.«
Die Stille hielt an, schließlich schlurften die anderen nach draußen.
»Ninavis?«
Sie blieb in der Tür stehen und drehte sich um.
»Ich komme zu dir, sobald wir hier fertig sind.«
Ninavis setzte zu einer Erwiderung an, runzelte dann aber nur die Stirn, nickte knapp und folgte den anderen.
Ich schaute ihr lange hinterher, bevor ich mich wieder Vater Zajhera widmete. »Euer Heiligkeit, Ihr wisst, wie tief ich in Eurer Schuld stehe, aber Ihr hättet nicht herkommen sollen.«
Der alte Mann lächelte. »Setz dich zu mir. Erzähl mir, wie es dir ergangen ist.«
»Warum? Soll ich etwa glauben, Bruder Qaun hätte Euch nicht schon alles brühwarm berichtet?«
Er schüttelte mit einem milden Lächeln den Kopf und klopfte auf den Stuhl neben sich. »Sei nicht so hart zu ihm, mein Kind. Bruder Qaun hat mich hergerufen, als er merkte, was ich schon seit Langem weiß: dass es nicht einfach ist, dich zu heilen. Du wehrst dich dagegen. Und zwar so, wie ein Zauberer sich gegen den Zauber eines anderen wehrt.« 124 Sein Blick wurde streng. »Und jetzt setz dich.«
Der Unterton in seiner Stimme, den alle Kinder von ihren Eltern kennen, brachte mich dazu, die Anweisung zu befolgen. Ich nahm ihm gegenüber vor dem Kamin Platz. »Wie viel hat er Euch erzählt?«
»Er sprach von einem bösen Zauberer, einer genauso bösen Hexe und davon, dass du eine Audienz beim Herzog brauchst. Außerdem erzählte er von Ärger mit den Malkoessians, der einfach nicht aufhören will.« Er beugte sich nach vorn. »Nichts, womit du nicht zurechtkämst, meine Liebe. Ich habe größtes Vertrauen in dich.«
Ich atmete tief durch und rang den Impuls nieder, mich in seine Arme zu werfen wie ein kleines Mädchen und mich von dem Priester trösten zu lassen, der schon immer für mich da gewesen war. Oder zumindest seit meinem achten Lebensjahr.
Stattdessen sagte ich: »Ich habe gestern sechs Menschen ermordet. Hat Bruder Qaun Euch auch das erzählt?«
»Ein Mord«, begann Vater Zajhera, »setzt Vorsatz und böse Absicht voraus, aber wenn ich die Gesetze richtig verstehe, hattest du jedes Recht, dich gegen diese Männer zu verteidigen und sie für ihre Unverschämtheit zu bestrafen.« Ich wollte widersprechen, doch Vater Zajhera hob den Zeigefinger. »Sie gehörten nicht zu deiner Herde. Sie waren keine Saelen, sondern gefährliche Männer, die ein Verbrechen begehen wollten. Doch das ist nicht das eigentliche Problem, oder?«
Ich seufzte und starrte meine schwarzen Finger an. »Nein. Das eigentliche Problem ist, dass ich die Kontrolle verloren habe.«
»So scheint es. Hat jemand von dir Besitz ergriffen? Ist Xaltorath zurückgekehrt?«
»Nein, ich …« Ich drehte mich weg und starrte in die tanzenden Flammen. »Ich war außer mir vor Zorn. Er wallte in mir auf wie ein Feuer, das sich nur mit Blut löschen ließ. Ich habe Angst … ich habe Angst, zu dem zu werden, was ich am meisten hasse.«
»Hmm.«
Ich drehte mich zu ihm um. »Hmm? Mehr habt Ihr dazu nicht zu sagen? Hmm?«
Er zuckte die Achseln, setzte sich auf seinen Stuhl und machte sich daran, seinen Getreidebrei zu essen. »Das schmeckt köstlich. Hat Dorna das gekocht?«
»Wenn es köstlich schmeckt, wohl kaum.«
»Du kannst dich glücklich schätzen, sie an deiner Seite zu haben, mein Kind. Das ist doch kein Reis, oder?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Gerste vielleicht? Ihr wechselt das Thema.«
Er kicherte und aß weiter, während ich wartete. Schließlich, als ich ihn schon anschreien wollte, schob er seine Schüssel weg. »Ich glaube, dass die Jugend die Dinge immer sehr dramatisch sieht.«
»Dramatisch?« Ich blinzelte ihn an. »Ich habe sechs Männer …«
»Ja, gewiss. Du bist eine junge Frau, die sich wegen einer schwierigen Situation dazu gezwungen sieht, schwierige Entscheidungen zu treffen. Ein unglaublicher Druck lastet auf dir, und bei all dem steht dir eine sogar noch unglaublichere Waffe zur Verfügung: du selbst. Braucht es da wirklich einen Dämon als Erklärung, warum du die Kontrolle verloren hast? Auch wenn du schon sehr viel erlebt hast für dein Alter, befindet sich dein Körper immer noch auf der Reise vom Kind zum Erwachsenwerden. Wenn du ab und zu Probleme hast, ist das keine Überraschung.« Er faltete die Hände im Schoß. »Was mir weit größere Sorgen bereitet, ist diese Sache mit dem Baron von Barsine. Was hast du dir dabei gedacht?«
Ich schnappte nach Luft. Auf die Idee, dass er mich ausgerechnet deshalb zur Rede stellen würde, wäre ich niemals gekommen. »Ich habe keine Ahnung, was Ihr meint.«
Der alte Priester seufzte. »Dies ist nicht mein Land, aber ich weiß genug über Jorat, um die Konsequenzen zu erkennen.«
Ich kniff die Augen zusammen. »Die Konsequenzen? Ich habe einen Höllenmarsch verhindert, Vater Zajhera. Ihr erinnert Euch doch noch, wie der letzte ausgegangen ist, als ich ein Kind war? In Barsine wurde versucht, mithilfe der dem Dämon Kasmodeus geopferten Seelen einen Dämonenprinz zu erschaffen. Sie wollten ihm die ganze Provinz in den Rachen werfen.«
»Richtig, aber du hast den Baron entmachtet und einen Mann aus deinen Reihen als neuen Herrscher eingesetzt …«
»Ich habe niemanden entmachtet, und Kalazan stammt nicht aus meinen Reihen …«
Vater Zajhera winkte ab. »Ich weiß, wie Idorrá und Thudajé funktionieren, meine Liebe. Kalazan gehört dir. Du bist es, die jetzt über Tolamer herrscht …«
»Oreth würde etwas anderes sagen.«
»Solange Sir Oreth keinen Weg findet, dir den Titel wegzunehmen, bist du der Graf von Tolamer. Und was, meine Liebe, passiert, wenn du zum Herzog gehst, ihm die Gefahr schilderst und er … sie einfach ignoriert?«
»Das wird er nicht«, protestierte ich.
»O doch, wird er. Denn abgesehen vom letzten Höllenmarsch herrscht in Jorat nun seit beinahe zweihundert Jahren Frieden. Der junge Herzog hat nicht die geringste Ahnung, wie schnell sich das ändern kann. Er wird glauben, dass du lediglich versuchst, deinem Spitznamen, Janel Danorak , alle Ehre zu machen. Dass du überreizt bist, immer noch durcheinander wegen dem Tod deines Großvaters, und versuchst, dir in deiner Fehde mit Oreth Malkoessian einen Vorteil zu verschaffen, indem du durchs ganze Land reitest und alle vor dieser angeblichen Gefahr warnst. Er wird deine Befürchtungen als die Fantasie eines jungen Mädchens abtun, das sich für einen Hengst hält, wo es doch eigentlich mit seinem Platz als Stute zufrieden sein sollte. Und was tust du dann?«
Starr vor Schreck stand ich da, während die Bedeutung seiner Worte zu meiner Seele durchdrang. Nein. Nein, das konnte nicht sein …
Ich erschauerte. »Ich muss Relos Var aufhalten. Ich muss einfach! Die Einwohner von Tiga sind alle tot, Vater. Die Einwohner von Kaltwasser ebenfalls. Wie viele Städte und Dörfer sollen noch das gleiche Schicksal erleiden wie Mereina? Wie viele Menschen sollen noch sterben?« 125
Er beugte sich nach vorn, die Ellbogen auf die Knie gestützt. »Und hast du auch einen Gedanken daran verschwendet, was es bedeutet, wenn du diejenige bist, die all diese Städte, Provinzen und Kantone rettet? Während der Herzog den Kopf in den Sand steckt? Was wird Xun tun, wenn seine Untertanen dir mehr Thudajé schulden als ihm?«
Alles Blut wich aus meinem Gesicht, als ich begriff, worauf er hinauswollte. In meiner wilden Entschlossenheit, das Richtige zu tun, diese Dämonen und Verrückten aufzuhalten, hatte ich den wichtigsten Grundsatz der joratischen Politik vergessen:
Wer beschützt, herrscht.
»Ich würde …« Ich schluckte. »Ich würde es im Namen des Herzogs tun. Er würde die Lorbeeren ernten, nicht ich.«
Vater Zajhera nickte. »Ein lobenswertes Vorhaben, vorausgesetzt, Herzog Xun ist so klug, deine Treue ihm gegenüber zu erkennen. Aber das werden wir ja sehen, nicht?«
Er legte mir einen Arm um die Schultern.
»Ich wusste schon immer, dass du etwas ganz Besonderes bist, Janel. Einst hast du eine Armee quer durch Jorat geführt …«
Ich stieß ein Geräusch aus, irgendetwas zwischen Protest und Wimmern. »Nein, habe ich nicht. Xaltorath …«
»Es war kein Zufall, dass sie dich ausgewählt hat. 126 Oreths Fehler – der gleiche, den sein Vater Aroth begeht, und den auch Herzog Xun begehen wird – ist, dass er dich als seine Untergebene betrachtet, als hätte er Idorrá über dich. Als Braut, Vasallin, Bittstellerin, Dienerin. Doch dem ist nicht so. Ich sage dir, Tochter: Noch bevor dies zu Ende ist, wirst du erneut eine Armee quer durch Jorat führen. Du wirst das gesamte Reich mit deinem Idorrá überziehen, und Quur wird sich vor dir verneigen.«
Seine Worte trafen mich wie Ohrfeigen. Ich starrte ihn an, mein Mund war trocken und meine Kehle wie zugeschnürt. »Ich habe Euren Rat immer hoch geschätzt. Ihr habt mir geholfen, als niemand sonst es konnte. Aber das … Ihr täuscht Euch, Vater. Ihr täuscht Euch.« Ich hielt inne und sammelte mich. »Ihr stellt mich auf die Probe, nicht wahr? Wie damals, als Ihr sichergehen wolltet, dass ich Xaltoraths Klauen auch wirklich entkommen war. Ihr wollt verhindern, dass ich zu stolz und ehrgeizig werde.«
Vater Zajhera lächelte. »Wie schnell du mich durchschaust.«
»Ich weiß, ich bin eigensinnig«, erklärte ich, »aber ich bin kein Thorra. Ich kenne meinen Platz. Wenn es an der Zeit ist, mich Herzog Xuns Idorrá zu unterwerfen, werde ich es tun.«
Zajhera schlug mir auf die Schulter. Er wollte gerade etwas sagen, da erklangen schnelle Schritte auf der Treppe. Ninavis kam in den Salon gerannt.
»Janel! Du hast gesagt, die Hexe in Mereina wäre eine weißhäutige Doltari, oder?« Sie sah zwar nicht aus, als wäre sie in Panik, aber die Dringlichkeit in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Ja. Warum, was ist passiert?«
»Nun ja, ich unterbreche nur sehr ungern, aber sie ist hier.« 127
Weil Kaiser Kandor bei der Gründung von Atrine eher ein Schlachthaus als eine Hauptstadt im Sinn gehabt hatte, ragten von den meisten Hausdächern Türme auf, von denen aus man mehrere der ineinander verschlungenen Straßen gleichzeitig einsehen, bei Bedarf Alarm schlagen und die Verteidigung organisieren konnte. Sir Baramon saß gerade auf einem dieser Türme, als er eine schneeweiße Frau 128 an der Spitze eines Trupps Soldaten Richtung Barsine-Gemächer marschieren sah und Ninavis nach mir schickte.
»Ich täusche mich doch nicht, oder?« Sir Baramon kniff die Augen zusammen, um die Gestalten besser erkennen zu können. Die Soldaten waren in einer Sackgasse stecken geblieben und stritten, in welche Richtung sie weitergehen sollten.
»Nein«, bestätigte ich. »Ihr täuscht Euch nicht. Das ist Senera.« Ich erkannte sie selbst aus dieser Entfernung: Ihre Körperhaltung und die Art, wie sie ihre Hüfte hielt, hatten einen genauso unauslöschlichen Eindruck in mir hinterlassen wie ihre Hautfarbe. Furcht durchzuckte mich. Diese Frau hatte mit einem Zauber eine ganze Stadt ausgelöscht.
Und jetzt war sie in Atrine. Auf dem Weg zu den Barsine-Gemächern.
Man musste kein Genie sein, um sich denken zu können, was der Grund dafür war: Nur jemand, der wusste, dass Baron Tamin entweder tot oder entmachtet war, konnte auf die Idee kommen, sich in seinen leeren Gemächern einzuquartieren. Jemand, der den Anschlag in Mereina überlebt hatte. Also hatte Senera entweder die gleiche Idee gehabt wie wir und suchte nach einer Unterkunft für sich und ihre Männer …
Oder sie suchte nach uns . 129
»Da.« Ninavis zupfte an meinem Ärmel. »Die Himmelswege.« Sie deutete zu den anderen Dächern hinüber. Dort sah ich weitere Männer, die auf uns zukamen.
Vielleicht war es Zufall. Schließlich benutzten die Atriner die Himmelswege weit häufiger als die labyrinthartigen Straßen.
Dennoch konnte ich nicht umhin zu bemerken, dass sie uns den Fluchtweg abschnitten. Außerdem hielten sie sich, als wären sie Soldaten.
»Sie sind wegen uns hier«, murmelte ich. »Ganz bestimmt. Schnell, holt eure Sachen.«
»Möglicherweise kann ich helfen«, meldete Vater Zajhera sich zu Wort.
Sir Baramon schaute ihn mit gerunzelter Stirn an. »Ich wüsste nicht, was Ihr tun könntet, Priester. Aber danke für das Angebot.«
Vater Zajhera nahm Sir Baramons Ablehnung gelassen. Ein amüsiertes Glitzern trat in seine Augen. »Wo möchtet ihr denn hin? Irgendwo in Atrine, nehme ich an.«
Ich blinzelte ihn an, und Bruder Qaun stammelte: »Vater! Wir sind hier in Jorat. Haltet Ihr es für klug, das zu tun?«
»Mach dir keine Sorgen. Man wird mich schon nicht als Hexe verbrennen. Dieses drollige Gottkönig-Märchen über Joras und seine Nachfahren muss schließlich zu irgendetwas gut sein. Aber verrate dem Haus D’Aramarin nichts. Ich habe noch nie auch nur einen halben Thron an sie bezahlt.« 130 Vater Zajhera rückte sein Agolé zurecht, dann hob er die Arme und nahm eine Positur ein wie ein Tänzer, kurz bevor sich der Vorhang hebt. Er flüsterte etwas. Seine Stimme war so leise, sanft und samtig, dass sie ein ganzes Heer schreiender Babys in den Schlaf gewiegt hätte. Fäden aus purer Energie strömten aus seinen Fingerspitzen, flossen ineinander und verdichteten sich zu geometrischen Formen. Den Formen wohnte eine Ordnung inne, ein Muster. Es zupfte an meinem Geist, forderte mich auf, es zu entschlüsseln. Schließlich bildete es eine leuchtende Scheibe, die allmählich verlosch, und zurück blieb eine kreisrunde Spiegeloberfläche.
Ein Spiegel, in dem die Häuserdächer in unserem Rücken nicht zu sehen waren.
»Hexenwerk …«, stammelte Sir Baramon.
»Blut des Joras, alter Esel. Schon von Rechts wegen kann er gar keine Hexe sein.« Stute Dorna kam gerade mit mehreren Taschen über der Schulter die Treppe herauf. »Und jetzt nehmt mir etwas von diesem Plunder ab. Es gibt da so ein Sprichwort über geschenkte Gäule, denen man nicht ins Maul schaut, das gut zu unserer Situation passt. Also hört mit dem Gejammer auf.«
Sir Baramon wollte schon protestieren, da sagte ich: »Folgt mir«, und duckte mich zurück nach drinnen. Ich konnte nicht zulassen, dass Baramons Vorbehalte gegen Magie unsere Flucht vereitelten. Ich wies ihn an, sein Gepäck zu holen, schlang mir meine Reisetasche über die Schulter und überlegte, wie praktisch es doch war, dass ich sie seit meiner Vertreibung aus Tolamer stets gepackt ließ. Wie viel Nippes aus den Gemächern den Weg in Dornas Taschen gefunden hatte, konnte ich nicht sagen. Aber ich beschloss, Kalazan bei der ersten sich bietenden Gelegenheit meine untertänigste Entschuldigung sowie entsprechenden Ersatz zu schicken.
Als alle wieder auf dem Dach versammelt und bereit waren, sah ich, dass sich die Soldaten schon ganz in der Nähe befanden. Sie waren so nahe, dass ich ihre blassen Gesichter sehen konnte, die höchstwahrscheinlich nur geschminkt waren, um ihre yorische Herkunft zu verbergen.
Jemand hämmerte gegen die Eingangstür unten.
»Los!«, rief ich. Ich salutierte noch kurz vor den Soldaten, dann trat auch ich durch das Tor.