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Das Grün
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nach der Flucht der Mimikerin Klaue aus ihrer Gefangenschaft
»Lass mich noch einmal nachfragen, ob ich auch alles richtig verstanden habe«, sagte Kihrin. »Du meinst also, in Jorat gelten Heldentaten als ein Akt der … Eroberung?
«
»Nicht unbedingt«, entgegnete Janel. »Wenn Zentauren in Tolamer auftauchen und ich sie zurückschlage, dann erfülle ich nur meine Pflicht als Graf. Heldenhaft und vollkommen akzeptabel. Die Aufgabe eines Hengstes ist, die Herde vor Gefahren zu beschützen. Wozu wäre ich denn gut, wenn ich dazu nicht in der Lage wäre?«
»Wenn du es aber nicht bist, und ein anderer kommt, der es kann … was dann? Wird dann von dir erwartet, dass du abtrittst und diesem anderen die Macht übergibst?« Kihrin konnte sich nicht vorstellen, dass die Jorater so naiv waren. Wer einmal Macht besaß, gab sie so schnell nicht wieder her. So funktionierte das einfach nicht.
Er dachte an Vater Zajheras Worte. Der
wusste, wie Macht funktionierte. Er wusste, dass Janels Wunsch, ihre Heimat zu retten, unweigerlich zu einem Konflikt führen würde. Einem Konflikt mit Leuten, die ihr Eingreifen als Bedrohung ihrer eigenen Macht sahen. Und dann? Was würde als Nächstes passieren?
Der Sturz von Herzog Xun? Janel hatte bereits gesagt, dass Xun ihren Tod wollte. Würde es zu einer Rebellion gegen das gesamte Reich kommen? Möglicherweise. Schon allein von seinen Grundsätzen her konnte das Quurische Reich einer Frau – noch dazu einer Hexe – keine echte Macht zugestehen. Allein dafür würde Quur sie vernichten. Kihrin dachte an die Prophezeiungen, die besagten, dass der Höllenkrieger Quur vernichten und neu erschaffen würde. Er dachte außerdem daran, dass es sich bei dem Höllenkrieger nicht um einen Einzelnen handelte, sondern um vier Leute.
Was wiederum bedeutete, dass er nicht unbedingt der Anführer der Armee sein musste, die nach Quur marschierte. Vielleicht würde diese Ehre Janel zuteil.
»So sollte
es gemacht werden«, antwortete Janel mit gesenktem Kopf. »Doch anscheinend haben unsere Herrscher vergessen, wozu sie ihre Macht eigentlich einsetzen sollten.«
Ninavis lächelte und zuckte die Achseln. »Tja, dann erinnern wir sie eben wieder daran. Du bist dran, oder, Qaun?«
Bruder Qaun nickte.
Qauns Schilderung. Atrine, Jorat, Quur.
Nur wenige im Quurischen Reich sind so bewandert in den magischen Künsten, dass sie allein ein Tor öffnen können. Bruder Qaun konnte es nicht. Seine Fähigkeiten beschränkten sich größtenteils aufs Heilen. Tatsächlich konnten selbst die Torwächter des Hauses D’Aramarin ohne Hilfe kein Tor öffnen. Dazu brauchten sie die Torsteine.
Das Haus D’Aramarin hütete sein Monopol und wäre entsetzt, wenn herauskäme, dass es jemanden gab, der einfach so ein Tor öffnen konnte und auf die Vorschriften pfiff. Schlimmer noch: dass dieser Jemand das Oberhaupt eines obskuren Ordens war, den die meisten schon fast als Sekte bezeichnen würden.
Vater Zajhera dabei zuzusehen, wie er an das Göttliche rührte, erfüllte Qaun jedes Mal mit Freude. Bei Zajhera sah Zaubern so einfach aus, nicht schwieriger, als schriebe er mit Pinsel und Tusche einen Gebetstext nieder. Bruder Qaun beneidete ihn darum, wie geschickt er das universelle Tenyé einfach umformte.
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Vater Zajheras Anwesenheit war wie ein Segen. Qaun wusste, dass von nun an alles besser werden würde.
»Vater …« Sie waren gerade durch das Portal getreten, da sah Bruder Qaun, wie der alte Priester ihm ein warmes Lächeln schenkte.
Er hob die rechte Hand und machte eine kreisende Bewegung mit den Fingern.
»Nein, wartet …« In diesem Moment wusste Bruder Qaun, dass Zajhera nie vorgehabt hatte, sie zu begleiten. »Vater!«
Das Tor verschwand.
Graf Janel stellte die Reisetasche mit ihren Habseligkeiten darin ab und schlug die
Kapuze hoch. »Er ist doch nicht dortgeblieben, oder? Senera wird …«
»Aber nein«, versicherte Bruder Qaun. »Er ist bestimmt schon wieder in Eamithon. Schließlich ist Vater Zajhera ein beschäftigter Mann. Er kam nur her, um Eure Verletzung zu heilen.«
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Sie legte eine Hand auf die Stelle, an der sie der Armbrustbolzen getroffen hatte. »Ja, bestimmt. Ich bin sicher, Vater Zajhera kann ganz gut allein auf sich aufpassen. Und wir sollten das Gleiche tun. Das ist jetzt schon das zweite Versteck, aus dem wir fliehen mussten.«
»Nun ja, Fohlen, es waren auch nicht gerade die besten Verstecke.« Stute Dorna blickte sich mit zusammengekniffenen Augen um. »Mal sehen, ob wir im Schoß der Herde mehr Glück haben.«
Bruder Qaun biss sich auf die Unterlippe. Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Janel vom Namen aller Dinge zu berichten. Keine Gelegenheit, ihr zu sagen, dass Senera sie überall aufspüren konnte – ganz egal, wo sie sich versteckten.
Sie musste nur ihren Eckstein befragen.
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Erst jetzt sickerten Dornas Worte zu ihm durch, und Bruder Qaun begriff, dass sie nicht bildlich gesprochen hatte. Er war in Gedanken so sehr mit Vater Zajheras Abgang beschäftigt gewesen, dass er ihr Umfeld noch gar nicht beachtet hatte.
Sie waren von Pferden umgeben.
Hunderten von Pferden. Sie wieherten, stampften mit den Hufen und schnaubten. Der Duft von Gras und Moschus erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem etwas stechenderen, aber ebenfalls natürlichen Geruch nach Pferdedung. Sie streiften über eine weitläufige, parkähnliche Freifläche. Die Häuser von Atrine umgaben sie wie eine gigantische Mauer. Die spitzen Dächer des Herzogspalasts und die Türme des Tempels des Khored reckten sich Schwertern gleich dem Himmel entgegen.
Sie waren auf dem Grün, das sie bei ihrem gescheiterten Versuch, beim Herzog vorzusprechen, schon einmal gesehen hatten. Das Grasmeer war beinahe so groß wie eine Stadt und der einzige Ort in Atrine, an dem sämtliche für das Große Turnier nötigen Pferde Platz finden konnten. Farbenfrohe Azhocks und flatternde Banner, galoppierende Pferde und trainierende Ritter überwältigten die Sinne. Sich hier zu verstecken, schien unmöglich. Andererseits war
es wahrscheinlich schwierig, inmitten all der Zwei- und Vierbeiner, die hier durcheinanderliefen, eine einzelne Person ausfindig zu machen.
Irgendwo hier trafen die Feuerblüter Arasgon und Talaras sich mit ihrer Verwandtschaft, tauschten Neuigkeiten und den letzten Tratsch aus. Irgendwo hier grasten die Pferde, die sie vom Tiga-Pass mitgebracht hatten. Genau wie ihre eigenen Pferde, die Arasgon von Barsine hergeführt hatte. Bruder Qaun freute sich schon auf ein Wiedersehen mit Wolke. Der kleine Graue war ihm ans Herz gewachsen, obwohl das Pferd sich nur ungern schneller als im Schritttempo fortbewegte.
Vielleicht auch genau deshalb
.
»Sir Baramon«, sagte Janel, »helft mir mit dieser Truhe. Und wo hat Hauptmann Mithros seinen Exerzierplatz?« Sie deutete auf den roten Umhang auf ihren Schultern. »Ich glaube, ich sollte ihm das hier zurückgeben.«
»Ganz recht, Fohlen. Ein Söldnerlager ist jetzt genau das Richtige – die Bewerber dort kommen und gehen, niemand beachtet sie.« Dorna legte grinsend eine Hand auf ihre Hüfte. »Außerdem ist der Hauptmann ein alter Freund von mir.«
»Der Markreev von Stavira ist auch ein ›alter Freund‹ von dir«, warf Sir Baramon ein. »Aber irgendwie scheinen die meisten von deinen alten Freunden nichts mehr mit dir zu tun haben zu wollen.«
Dorna schnaubte. »Der Markreev ist nur nach wie vor sauer wegen seiner Frau, das ist alles.«
Sir Baramon verdrehte die Augen und hob die Truhe an. »Wirklich? Sonst gibt es keinen Grund?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich an den Grafen. »Ihr solltet Euch etwas anderes anziehen. Es wird den Roten Speeren nicht gefallen, wenn Ihr diesen Mantel tragt, selbst wenn Ihr ihn zurückgeben wollt.«
Janel zögerte, dann nickte sie. Sie trug den roten Umhang schon seit Mereina, auch wenn Bruder Qaun nicht sicher war, weshalb. Schließlich zog sie sich den Mantel über den Kopf und legte ihn gefaltet über ihren Arm. Dorna reichte ihr einen schlichten braunen Sallí, den Janel stattdessen anzog. Bruder Qaun fragte erst gar nicht, wo sie ihn herhatte.
»Hier entlang.« Sir Baramon deutete mit dem Kopf in die Richtung, in der der Tempel des Khored lag. Sie gingen darauf zu, bogen kurz vor dem Tempel ab und erreichten eine mit Seilen
abgesperrte Fläche im Schatten der Türme. Bruder Qaun sah rote Azhocks mit bunten Wimpeln daran, leuchtende Banner flatterten im Wind. Auf einer weiteren mit Seilen abgetrennten Fläche in der Größe eines Turnierkampfplatzes übten sich die Ritter. Darum herum befanden sich weitere Übungsplätze, alle eigens auf Wettkämpfe ausgelegt, die mit Pferden ausgetragen wurden. Bei den Übungen waren genauso viele Männer wie Frauen vertreten, und die meisten trugen einen roten Umhang oder wenigstens eine rote Armbinde. Nur einer nicht: der Schwarze Ritter.
Wenn sie die abgesperrte Fläche betreten wollten, mussten sie sich entweder unter dem Seil hindurchducken oder sich mit den Wachen herumschlagen, die vor dem einzigen Eingang standen.
»Ich bin hier, um mit Hauptmann …« Der Soldat entriss Janel den roten Umhang, noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte.
»Danke fürs Zurückbringen. Hier dürfen nur Speere rein. Keine Ausnahmen. Einen schönen Tag noch.«
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Er drehte sich weg und unterhielt sich weiter mit den anderen Wachen, offensichtlich in der Erwartung, dass der Graf mit seinem Gefolge abziehen würde.
Der Graf starrte den Soldaten mit offen stehendem Mund an.
Bruder Qaun wurde bewusst, dass Janel nicht aussah wie eine Adlige, nicht einmal wie ein Hengst. Ihre schmutzigen und geflickten Kleider, der fehlende Schmuck und der ungekämmte Laevos schienen ihr Geschlecht deutlich anzuzeigen.
Wer würde bei diesem Anblick an etwas anderes denken als an eine Stute?
»He da! Hast du überhaupt eine Ahnung, wer das ist …?« Dorna verstummte erst, als Janel ihr eine Hand auf die Schulter legte.
»Ich bin hier, um mich zu bewerben«, sagte der Graf.
»Die Bewerbungsfrist ist vor zwei Wochen abgelaufen«, erwiderte der Wachposten. »Wir sind komplett, danke.«
Ninavis holte kichernd ihren Bogen hervor und spannte die Sehne ein, ohne dass die Wachen es bemerkten.
»Ich will nur mit Hauptmann Mithros sprechen.«
Der Wachposten grinste sie an. »Schon komisch, wie viele hübsche Stuten das wollen.«
Janel atmete einmal tief durch.
Bruder Qaun zuckte zusammen und fasste sie am Arm, bevor sie etwas Unüberlegtes tun konnte. »Graf …«
Der Soldat wedelte mit der Hand. »Macht schon, verschwindet. Der Hauptmann begrüßt
seine Anhänger erst später. Im Moment ist er beschäftigt.«
Ninavis legte blitzschnell einen Pfeil ein und schoss.
Der Pfeil war so verflucht schnell, dass Bruder Qaun nur einen verschwommenen Fleck sah, doch er glaubte, dass das Geschoss knapp vor dem Gesicht des Wachpostens vorbeiflog, dann den Federbüschel auf dem Helm des Schwarzen Ritters streifte und sich schließlich zitternd in die Zielscheibe am anderen Ende des Übungsplatzes bohrte.
Erst einen Moment später merkte Bruder Qaun, dass Ninavis exakt die Mitte getroffen hatte.
Dann brach die Hölle los.
Sowohl Graf Janel als auch Sir Baramon stutzten, fuhren herum und schauten Ninavis ungläubig an.
Ninavis senkte mit einem Achselzucken den Bogen und grinste den Wachposten frech an. »Ihr seid komplett, wie?«
Janel sah aus, als hätte sie alle Mühe, nicht laut loszulachen.
»Hast du den Verstand verloren? Ich werde dir gleich …« Das Geräusch von galoppierenden Hufen schnitt dem Wachposten das Wort ab.
Der Schwarze Ritter kam herangeritten.
Im Gegensatz zu Sir Baramon auf dem Turnier in Mereina war er nicht als Spaßmacher kostümiert. Auf seine schimmernde Rüstung waren Motive von Raben und kreischenden Dämonen graviert, sein Umhang war mit schwarzen Federn besetzt, und das schwarze Federbüschel auf seinem Helm hatte die Form eines Laevos. Sein Rappe war zwar kein Feuerblüter, aber nichtsdestotrotz eine beeindruckende Erscheinung.
Als der Ritter seinen Helm abnahm, sah Bruder Qaun, dass auch seine Haut schwarz war. Seine Augen waren von einem hellen Grün, doch Haut und Haare waren sogar noch dunkler als die Rabenfedern.
Bruder Qaun hatte sich in Jorat so sehr an den Anblick von scheckiger Haut gewöhnt, dass er im ersten Moment gar nicht begriff, was er da sah. Dann merkte er, dass die Gesichtszüge des Mannes nicht die eines Quurers waren – weder von hier noch von jenseits der Drachenspitzen.
Der Schwarze Ritter war ein Vané. Ein manolischer Vané, genauer gesagt, und das verwirrte Bruder Qaun, der mit offenem Mund
dastand.
Was hatte ein Manoler in Jorat zu schaffen?
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»Wer hat diesen Pfeil abgeschossen?« Der Vané sprang aus dem Sattel und kam auf die Gruppe zu.
»Verzeiht, Hauptmann. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass jemand so dreist sein könnte …«
Doch Mithros beachtete den Wachposten gar nicht. Sein sengender Blick schweifte über die Gruppe, verweilte einen Moment bei Janel und blieb schließlich an Ninavis’ weinrotem Muttermal hängen.
Sie winkte ihm mit dem kleinen Finger zu.
Der Ritter grinste, zwei blendend weiße Zahnreihen blitzten in seinem ebenholzfarbenen Gesicht auf. »Kannst du das auch von einem Pferderücken aus?«
Wie sich herausstellte, konnte Ninavis es tatsächlich.
Alle hatten ihre Übungen eingestellt und sahen zu. Mithros, der Hauptmann der Roten Speere, hatte einen Slalomkurs aus Zielscheiben aufgestellt, sodass Ninavis, während sie zielte und schoss, auch noch das Pferd lenken musste, das er ihr zur Verfügung gestellt hatte.
Viel wichtiger aber war, dass Mithros die gesamte Gruppe als Zuschauer auf den Übungsplatz führte.
»Achtung, fertig, los
!« Mithros senkte die Hand.
Ninavis ließ ihr Pferd in Galopp fallen.
Bruder Qaun hatte auf dem Turnier in Mereina keinen vergleichbaren Wettkampf gesehen, ging aber davon aus, dass eine ganz ähnliche Demonstration Teil des Rahmenprogramms gewesen war. Und Ninavis mochte keine gebürtige Joratin sein, aber ihrem Reitstil tat das keinen Abbruch: Mühelos dirigierte sie ihr Pferd durch den Parcours und landete einen Volltreffer nach dem anderen, als wäre es ein Kinderspiel.
Am Ende bremste sie ab, wendete das Pferd und trabte zurück zu der Gruppe.
Die Zuschauer applaudierten, und zahlreiche Münzen wechselten den Besitzer, was einmal mehr bewies, dass Jorater sich keine Gelegenheit zum Wetten entgehen ließen – selbst wenn sie ihr Geld auf jemanden setzen mussten, den sie noch nie zuvor gesehen hatten.
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Ninavis stieg ab.
Mithros verneigte sich lachend vor ihr. »Solche Schießkünste habe ich nicht mehr gesehen, seit ich das letzte Mal in meiner Heimat war. Heirate mich, schöne Frau. Unsere Kinder werden die Welt retten.«
Ninavis blinzelte den Hauptmann sprachlos an, während einer der Roten Speere das geliehene Pferd wegführte. Sie warf Mithros einen mürrischen Blick zu und spannte die Bogensehne aus. »Du bist ein bisschen jung für meinen Geschmack.
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Aber wie dem auch sei, der Graf möchte mit dir sprechen.« Sie nickte in Janels Richtung. »Und wenn ich auf dem Turnier unter deiner Flagge antreten soll, musst du das ebenfalls mit ihr besprechen.«
Der Hauptmann schien ihre Antwort gar nicht krummzunehmen und grinste nur noch breiter. Den Rest der Gruppe würdigte er keines Blickes, nicht einmal Janel. »Wo hast du gelernt, so zu schießen?«
Ninavis kniff die Augen zusammen. »Mein Mann hat im Heer gedient.«
Die Miene des Vané wurde nachdenklich. »Dann müssen die quurischen Bogenschützen seit meinem letzten Besuch in einem ihrer Ausbildungslager um einiges besser geworden sein.«
Janel stellte sich neben Ninavis. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass einem Manoler gestattet wird, ein quurisches Ausbildungslager zu betreten.«
Bruder Qaun stutzte. Er hätte nicht für möglich gehalten, dass der Graf wusste, wie ein manolischer Vané aussah. Dann rief er sich ins Gedächtnis, dass Janel drei Jahre in Vater Zajheras Obhut verbracht hatte. Selbstverständlich hatte sie in dieser Zeit das ein oder andere von ihm gelernt.
Endlich wurde Hauptmann Mithros auf den Grafen aufmerksam. »Das würde voraussetzen, dass ich zuvor um Erlaubnis gefragt habe …«
Graf Janel bedachte ihn mit einem finsteren Blick und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Mithros, du notgeiler Esel, hör auf, mit den Kindern herumzualbern, und komm her. Du schuldest mir immer noch hundert Throne von unserem letzten Kartenspiel, und die hole ich mir jetzt aus deiner hübschen schwarzen Mähne.« Dorna grinste von einem Ohr bis zum anderen und zwinkerte ihm zu. »Außerdem müssen wir uns einmal unter vier Augen unterhalten.«
Mithros neigte den Kopf und schaute Dorna überrascht an. Plötzlich weiteten sich seine Augen. »Wann bist du eine Frau geworden?«
Dorna seufzte. »Vor Jahren schon, du blinder Ochse. Ich hab dir doch gesagt, dass ich zum Fest der sich wandelnden Blätter – Huch!«
Mithros rannte zu ihr, riss Dorna mit seiner Umarmung von den Beinen und wirbelte sie im Kreis herum. »Ich habe dich gar nicht wiedererkannt! Was ist passiert?«
»Lass mich runter, du Wüstling, bevor ich dir einen Tritt verpasse, dass du nie wieder reiten kannst. Was passiert ist? Ich habe dir gerade erklärt …«
»Das meine ich nicht. Aber du bist so alt
!«
»Oh, du großgewachsener Trottel«, erwiderte Dorna. »Das alles ist jetzt dreißig Jahre her. Menschen altern nun mal.«
Mithros trat einen Schritt zurück, als schämte er sich. »So lange schon? Wie schnell die Zeit vergeht.« Er lächelte Dorna sanft und traurig an. Die Art, wie er das tat, deutete darauf hin, dass die beiden einmal mehr als Freunde gewesen waren. Andererseits behauptete Dorna, seit Bruder Qaun sie kannte, steif und fest, dass sie ausschließlich mit Stuten galoppierte, und das schon immer. Außer …
Bruder Qaun beugte sich an Janels Ohr. »Ähm … habe ich das eben richtig verstanden?«
Janel schaute ihn verwirrt an. »Welchen Teil?«
»Dorna war früher ein Mann? Wie ist das möglich?«
Der Graf blinzelte. »Das Fest der sich wandelnden Blätter, auf dem Galava die Gebete der Bittsteller erhört. Es wird jedes Jahr in Nivulmir gefeiert.« Janel stutzte. »Macht ihr das im Westen anders?«
Bruder Qaun blinzelte. »Und ob, nämlich überhaupt nicht! Nie.«
Janel runzelte die Stirn. »Wirklich? Wie seltsam.«
Sir Baramon räusperte sich und machte eine angedeutete Verneigung vor dem Manoler. »Sir Baramon, Hauptmann. Wir sind uns vor vier Jahren auf dem Turnier hier in Atrine begegnet.«
»Aber ja! Schön, Euch wiederzusehen. Wo ist Euer charmanter …?« Er verstummte und legte dem Ritter eine Hand auf die Schulter. »Mein Beileid. Ist es erst vor Kurzem passiert?«
Sir Baramon nickte. »Trotzdem danke.«
»Aber selbstverständlich. Der Verlust einer geliebten Person hört nie auf zu schmerzen.«
Sie tauschten einen vielsagenden Blick aus.
Schließlich drückte Mithros noch einmal Sir Baramons Arm und ließ dann von ihm ab.
»Alle mal hergehört: weitermachen!«, rief er den Bogenschützen zu und bedeutete Janels Gruppe, ihm zu folgen. »Schön, ihr habt mich überzeugt. Wir sollten uns irgendwo ungestört miteinander unterhalten.« Er ging los in Richtung Tempel, seine Schritte so schnell und lang, dass alle hinter ihm her traben mussten, um nicht abgehängt zu werden.
»Ihr wollt Euch in einem Tempel, der einem der Acht geweiht ist, mit uns unterhalten?« Der Graf klang empört.
Der Gerechtigkeit halber sei an dieser Stelle hinzugefügt, dass auch Bruder Qaun ein wenig empört war.
Mithros schnaubte. »Dieser Tempel ist nicht nur einem der Acht geweiht, sondern Khored persönlich.« Er schenkte Janel ein strahlendes Lächeln. »Keine Sorge, es ist mir gestattet, dort herumzuschleichen, so viel ich will.«
Bruder Qaun verspürte eine Kälte, deren Ursprung er sich nicht recht erklären konnte.
Dann folgten sie dem Hauptmann in den Tempel des Gottes der Zerstörung.