24  Der Schwarze Ritter
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem der Wert von Grundstücken im Hafenviertel der Hauptstadt jäh gefallen war
»Mithros«, sagte Kihrin. »Hmm.« Er grinste Ninavis an. »Hast du seinen Antrag angenommen?«
»Nein!«, antwortete Ninavis. »Mach dich nicht lächerlich. Ich bin keine Zuchtstute, die für einen alterslosen Vané, der sich gerne mit Sterblichen abgibt, Fohlen wirft. Heiraten, ich? Das mache ich nicht noch mal.« Sie stützte einen Ellbogen auf die Theke und grinste. »Ich meine, natürlich hatte ich Sex mit ihm. Ich bin schließlich nicht blöd
Kihrin unterdrückte ein Lachen. »Nein, bestimmt nicht.«
Ninavis schürzte die Lippen. Ihr Blick ging in die Ferne. »O ja, ich kann es dir nur empfehlen. Such dir einen Vané. Wenn man ein paar Tausend Jahre alt ist, lernt man so einiges, wie es scheint.«
»Wenn er nur eine Frau wäre«, seufzte Dorna.
Janel krümmte sich vor Lachen und stieß sich beinahe den Kopf an der Theke.
»So lustig ist es auch wieder nicht«, protestierte Ninavis.
Janel hob den Kopf. Sie grinste immer noch. »Ach, Ninavis, du hast ja keine Ahnung.«
Janels Schilderung. Auf dem Grün, Provinz Barsine, Jorat, Quur.
Es war schwierig, eine ausdruckslose Miene zu wahren. Ich hatte nicht geglaubt, dass Dorna Mithros tatsächlich kannte. Dann hatte der Hauptmann also auch meine Mutter Frena gekannt, die damals unter Dornas Anleitung begann, an Turnieren teilzunehmen. Meine Eltern hatten sich auf einem solchen kennengelernt.
Mein Problem mit Hauptmann Mithros war jedoch ein anderes: Er sah dem grünäugigen Teraeth, Sohn der Todesgöttin, so ähnlich, dass das kein Zufall sein konnte. Sie waren eindeutig nicht dieselbe Person, aber diese Ähnlichkeit … Im Gegensatz zu Teraeth hatte Mithros ein strahlendes Lächeln und zwinkerte ständig kokett. Aber wenn er gestikulierte oder eine Hand auf den Schwertgriff legte, war die Ähnlichkeit zu Teraeths tödlicher Eleganz unverkennbar. Doch da war noch etwas, als würde Mithros mich noch an jemand anderen erinnern.
Da ich außer ihm nur einen weiteren Manoler kannte, war das ein beunruhigendes Gefühl.
»Hölle und Eis. Lasst Eure Kapuze oben.« Dorna zog mir die Kapuze meines Ersatzumhangs tiefer ins Gesicht.
Ich blinzelte sie kurz an und zog gehorsam den Kopf ein.
Ich hatte es kaum getan, da sah ich Rot und Gold am Rand meines Gesichtsfelds aufblitzen. Ich schaute verstohlen genauer hin und erkannte die Uniformen der Ehrenwache von Stavira.
Es waren die Farben des Markreev von Stavira. Die Farben meines Lehnsherrn Aroth Malkoessian.
Jeder, der nach Atrine kam, besuchte früher oder später den Tempel des Khored, um ihm seine Ehrerbietung zu erweisen und um Erfolg auf dem Turnier zu beten. Rund um die Uhr war der Tempel vom Flüstern der Bittsteller erfüllt.
Andere Herrschaftsgebiete Quurs hatten Gottheiten, die nur für Spiele und Wettstreite zuständig waren, aber die waren alle ehemalige marakorische Gottkönige. Ein Jorater würde sich eher mit flüssigem Blei übergießen, als zu ihnen zu beten. Manche würden behaupten, vor einem Turnier sollte man am besten zur Glücksgöttin Taja beten, aber wir Jorater glauben nicht daran, dass Turniere durch Glück entschieden werden. Deshalb wenden wir uns an Khored, den Patron der Kämpfe, Konflikte und Kriege.
Außerdem war Khored Kaiser Kandors Schutzgott, und damit jetzt auch unserer.
Khoreds Tempel ist in jeder Hinsicht Ehrfurcht gebietend: Am Rand halten Pferdestatuen Wache, in der Mitte steht ein Schlachtfeldaltar aus rotem Marmor, in den auffliegende Krähen graviert sind. Die Luft ist erfüllt von nach Blut und Zimt duftendem Räucherwerk. Durch die bunten Fensterscheiben fällt rotes und violettes Licht herein. 138
Und vor dem Hauptaltar betete Aroth Malkoessian, der Markreev von Stavira.
Dorna zupfte mich am Ärmel. »Nicht langsamer gehen. Und seht woanders hin.«
Ich zwang mich weiterzulaufen, sandte ein stummes Gebet zu den Acht und rang meine Panik nieder, als mir wieder einfiel, dass Bruder Qaun seine verräterische Vishai-Robe trug. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass Aroth dem Mönch nie begegnet war. Höchstwahrscheinlich wusste der Markreev nicht einmal, wie ein Vishai-Priester aussah.
Egal, wohin man im Tempel wollte, jeder ging als Erstes zum Altar. Kein Gesetz schrieb vor, dass ich mich direkt neben Aroth knien musste. Also suchte ich mir für meine rituellen Gebete einen Platz etwas weiter hinten. Dorna setzte sich mehrere Plätze von mir entfernt, und die anderen verteilten sich unauffällig. Mir fiel auf, dass Qaun sich am weitesten von allen weg setzte, um mich nicht zu verraten. Während ich betete, sah ich, wie Aroth sich erhob, seine Soldaten zu sich rief und sich zum Gehen wandte.
Ich atmete erleichtert auf.
Wenige Sekunden später gab Dorna einen erstickten Laut von sich, als Aroth Malkoessian auf dem Kissen gleich links von mir Platz nahm.
Die Luft im Tempel wurde plötzlich schwer und stickig, sie wurde wie zu einem Sumpf, in dem ich mich weder bewegen noch atmen konnte. Meine Haut brannte, und ich musste nicht erst aufblicken, um zu wissen, dass Aroths Soldaten uns umzingelt hatten. Bestimmt trugen sie auch hier drinnen ihre Waffen bei sich.
Ich schaute den Markreev nicht an, und er mich nicht. Keine Begrüßung, nichts.
»Ich war nicht sicher, ob Ihr bei dem Turnier Eure Aufwartung machen würdet.«
»Es ist meine heilige Pflicht«, erwiderte ich.
»Eure übereilte Abreise aus Tolamer hat die ein oder andere Frage bezüglich Eures Pflichtbewusstseins aufgeworfen.«
»Es ist schon eigenartig«, begann ich und versuchte, nicht mit den Zähnen zu knirschen, »wenn man die Herrscherin eines Kantons ist und dort kein Land mehr besitzt, ja nicht einmal mehr das eigene Familienschloss.«
»Mein Beileid zum Tod Eures Großvaters«, flüsterte Aroth. »Er war ein guter Mann.«
»Und viel zu vertrauensselig«, ergänzte ich.
»Er wusste, wo er hingehörte.« Die Zurechtweisung in seinen Worten war nicht zu überhören.
Ganz offensichtlich wusste ich das nicht. Aroths Meinung nach gehörte ich als Ehefrau an Oreths Seite.
Eher hätte ich einen Kuhfladen gegessen.
Ich ballte die Fäuste. »Vielleicht habt Ihr nie versucht, ihm eine Ehe aufzuzwingen.«
»Eure Worte sind ungebührlich.«
»Genauso ungebührlich ist es, einen Schuldner, der unter Eurem Idorrá steht, von seinem Besitz zu vertreiben.«
»Oreth hätte Euch diese Schulden als Hochzeitsgeschenk erlassen.«
»Soll das ein Trost sein oder eine Drohung?«
Aroth saugte die Luft ein und stieß sie mit einem leisen Knurren wieder aus. »Ich habe Euch beschützt, in vielerlei Hinsicht, aber das begreift Ihr nicht.«
Ich rang den Impuls nieder, etwas Unüberlegtes zu erwidern. Mir lag so einiges auf der Zunge. Zum Beispiel wollte ich den Markreev fragen, wie er es geschafft hatte, eine so widerliche Kreatur wie Oreth in die Welt zu setzen. Sein älterer Sohn Ilvar unterschied sich so grundlegend von Oreth wie die Nacht vom Tag. Und ich wollte wissen, warum Aroth das Vertrauen meines Großvaters so rücksichtslos enttäuscht hatte.
Aber ich fragte nicht. Ich hatte es schon weiter getrieben, als der Anstand gebot. Aroth hätte mich auf der Stelle verhaften lassen können.
Ich sah ihn an, so gut es ging, ohne mich vom Altar abzuwenden. »Oreth hält es für sein angeborenes Recht, über mich zu gebieten. Er glaubt, er wäre der Hengst und ich die Stute. Aber das bin ich nicht und werde es auch nie sein.«
Der Markreev warf einen finsteren Blick zu Dorna hinüber, die regungslos dasaß und kaum zu atmen wagte. »Dann hättet Ihr das Fest der sich wandelnden Blätter besuchen sollen.«
Zorn kochte in mir hoch, Zorn auf Oreth und auf seinen Vater, aber auch auf meinen eigenen Großvater, der mich in diese Lage gebracht hatte. Die Worte des Markreev brannten in meinem Innern. Und das nicht, weil ich ein Problem mit den Leuten hatte, die für die Gewährung eines Wunsches ein Jahr ihres Lebens dem Dienst an der Göttin Galava widmeten. Wenn Dorna als Frau glücklicher war als mit dem Geschlecht, mit dem sie zur Welt gekommen war, na und? Der Markreev hatte einst beschlossen, ein Mann zu werden, und auch das war sein gutes Recht.
Aber ich wollte eine Frau bleiben.
Wohingegen Aroth der Meinung schien, Hengste müssten im Körper eines Mannes stecken. Da wurde mir klar, von wem Oreth seine widerwärtige Einstellung hatte.
Das Polster unter meinen Knien wurde heiß.
Nein … nein, bloß nicht. Nicht hier. Nicht jetzt.
Ich atmete tief durch und versuchte, mich zu beruhigen. Ich betete zu Khored und stimmte leise die Litanei der Herausforderungen an.
Ich schloss die Augen und spürte eine tiefe Bitterkeit in mir aufsteigen. »Falls Ihr glaubt, Oreth würde nicht mehr über mich herrschen wollen, wenn ich eine Stute wäre, kennt Ihr Euren Sohn schlecht.«
»Oreth mag Euch sehr gerne.«
»Er glaubt, dass seine Meinung die einzige ist, die zählt.«
Ich hörte, wie Aroth aufstand. »Das ist keine Rechtfertigung dafür, Euch Eurer Pflicht zu entzieh… Was ist?«
Ich öffnete die Augen und drehte mich um.
Mithros stand hinter uns. Er hielt Dorna die Hand hin und half ihr beim Aufstehen. »Verzeiht, dass ich euch aus den Augen verloren habe. Lasst mich euch den Weg zeigen.« Nachdem Dorna sich erhoben hatte, reichte er auch mir die Hand.
Aroth Malkoessian kniff die Augen zusammen. »Du scheinst nicht zu wissen, mit wem du es hier …«
Mithros wandte sich ihm zu.
Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Markreev. »Ich …« Er verstummte und blinzelte mehrmals.
Mithros machte einen Schritt auf den Markreev zu. Hier drinnen wirkte der Söldnerhauptmann noch größer als draußen. Er nahm unglaublich viel Raum ein.
Die beiden Männer standen ein gutes Stück voneinander entfernt, doch Aroth wich ein Stück zurück, als käme Mithros ihm viel zu nahe.
Niemand außer meinen und Aroths Begleitern sah zu. Alle anderen Tempelbesucher waren damit beschäftigt, Räucherwerk zu entzünden, zu beten oder den Pferdestatuen Blumenkränze umzuhängen.
Ein Soldat legte die Hand auf sein Schwert, doch der Markreev schüttelte den Kopf, und der Soldat ließ seine Waffe, wo sie war.
Aroth war ganz auf Mithros konzentriert, mich beachtete er gar nicht mehr. Ich hatte keine Ahnung, was er denken oder fühlen mochte, doch seine Augen waren weit aufgerissen und voller Furcht.
Als der Söldnerhauptmann die Hand hob, zuckte Aroth zusammen, aber Mithros fasste ihn lediglich am Nacken und legte seine Stirn auf die seine. Es war die traditionelle Begrüßung, irgendwie schaffte Mithros es jedoch, sie wie einen Akt der Aggression aussehen zu lassen, feindselig. Aus der Begrüßung unter Ebenbürtigen wurde ein Machtkampf, bis Aroth einen unartikulierten Laut ausstieß und Mithros von ihm abließ.
»Gehen wir«, sagte der Söldnerhauptmann.
Der Markreev von Stavira taumelte mehrere Schritte zurück und murmelte eine leise Entschuldigung, als er über einen der Betenden stolperte. Dann drehte er sich um, bedeutete seinen Soldaten, ihm zu folgen, und ging.
Er hatte mich kein einziges Mal mehr angeschaut.
»Verzeih«, sagte Mithros mit einem Lächeln zu mir.
»Khored?« Das Wort kam einfach so aus mir heraus, ich konnte es nicht verhindern. Es war Frage, Gebet und Feststellung zugleich. Immerhin war ich in dieser Woche schon einmal einer Gottheit begegnet. Warum sollte es nicht noch einmal passieren? Aus meiner Kindheit kannte ich Tausende von Geschichten über Götter, aber in keiner einzigen davon war Khored ein dunkelhäutiger Vané.
Andererseits wurde auch in keiner das Gegenteil behauptet.
Sein Lächeln verblasste für einen Moment lang, um dann umso strahlender zurückzukehren. »Bitte nenn mich Mithros. Jetzt komm. Hier entlang.«
Mithros brachte uns in ein Hinterzimmer, von dem aus eine viel benutzte Treppe nach unten führte. Ich sah Priester des Khored, manche nickten Mithros zu oder grüßten ihn mit einer Geste, beachteten uns aber nicht weiter.
Wir hatten das Hauptschiff des Tempels gerade verlassen, da fragte mich Sir Baramon: »War das Aroth Malkoessian? Was ist passiert? Geht es Euch gut?«
»Alles in Ordnung. Er war nur zum Beten hier.«
»Aber was …?«
Ich schüttelte den Kopf. »Darüber unterhalten wir uns später.«
Alle verstummten. Ninavis musterte mich eindringlich. Sie wusste, dass etwas vorgefallen war. Aber sie hatte nicht alles hören können. Qaun sah aus wie ein Kind, das so tat, als hätte es nicht mitbekommen, dass seine Eltern sich gerade gestritten hatten.
Und Mithros schien keinerlei Bedürfnis zu verspüren, jemandem etwas zu erklären.
Er führte uns durch lange Gänge mit Wohn- und Meditationsräumen für die Priester. Wie die anderen zuvor beachteten sie uns kaum.
Als wir die nächste Treppe erreichten, kam ich mir vor wie eine Närrin. Wie hatte ich meine übereifrige Fantasie so mit mir durchgehen lassen können? Zugegeben, das war eine eindrucksvolle Zurschaustellung von Idorrá gewesen, aber Mithros gehörte immerhin einem unsterblichen Volk an. Um Aroth einzuschüchtern, brauchte es keinen Gott. Ein tausend Jahre alter Mann genügte vollkommen.
Außerdem behandelten die Priester Mithros nicht sonderlich ehrerbietig. Wenn sie ihn überhaupt anschauten, dann eher leicht genervt – wie einen Onkel der Familie, der beim Abendessen immer anzügliche Witze erzählte. Seine Gegenwart schien für sie vollkommen selbstverständlich.
Nicht gerade die Art, wie man einen der Acht behandelte.
Die zweite Treppe führte in einen Raum, der so groß war, dass sich die Wände irgendwo in der Dunkelheit verloren. Die Luft fühlte sich kalt und feucht an. In der Ferne hörte ich das Plätschern von Wasser. In einer Estava wäre das nichts Besonderes gewesen, doch Atrine war von einem quurischen Kaiser erbaut worden, der weder Estavas noch unterirdische Wohnräume gekannt hatte. Es war sogar so, dass es in Atrine meines Wissens gar keine Keller gab. Nicht einen einzigen. Die Treppen waren nicht für Pferde gemacht; selbst ein Feuerblüter wäre sie nur ungern hinabgestiegen.
Die steinernen Bodenplatten wirkten schon sehr alt, aber sorgfältig behauen. Kleine Laternen beleuchteten den Raum, ihr Licht war zu weiß für Kerzen oder Öllampen. In einem Bereich standen Sofas und Tische wie in einem Wirtshaus, daran saßen Männer mit roten Armbinden – anscheinend Mitglieder der Roten Speere. Sie winkten Mithros zu und musterten uns interessiert, um sich dann wieder wichtigeren Dingen zuzuwenden: Essen, Trinken, Spielen.
»Obwohl sie ihre Heimstätten unterirdisch erbauen, empfinden die meisten Jorater die Räumlichkeiten hier als erdrückend«, erläuterte Mithros. »Deshalb haben die Priester sie uns zur Verfügung gestellt. Ich finde, hier kann man sich gut ungestört unterhalten. Wollen wir weiter so tun, als wäre ich nur an den Diensten deiner Bogenschützin interessiert« – er deutete auf Ninavis – »oder erklärst du mir jetzt, was das alles soll?« Er hielt inne und schenkte Ninavis ein Lächeln. »Das Heiratsangebot war ernst gemeint, möchte ich hinzufügen.«
Ninavis verdrehte die Augen.
»Wir müssen unter vier Augen miteinander sprechen«, begann ich und sah mich um. »Soweit das hier möglich ist.«
»Alle mal hergehört: Kümmert euch um meine Gäste!«, rief Mithros. Er deutete auf die Männer und Frauen, die an der Schanktheke saßen. »Aber nimm ihnen beim Würfeln nicht all ihr Geld ab.«
Dorna horchte auf. »Beim Würfeln? Niemals. Ich bin eine schreckliche Würfelspielerin.«
»Ach ja?«, murmelte Mithros. »Ich wette, du wirst sie bis auf den letzten Kelch ausziehen.« Er deutete auf die nächste Treppe, die noch weiter in die Dunkelheit hinabführte. »Wollen wir?«
Meine Begleiter schauten mich verwirrt an. Sie wussten nichts von meiner Unterhaltung mit Thaena und dachten, ich wollte mit Mithros Ninavis’ Zukunft als Söldnerin besprechen und uns eine neue Bleibe verschaffen – wozu also die Geheimniskrämerei?
Ich ignorierte ihre fragenden Blicke und folgte dem Hauptmann nach unten.
Es blieb nicht lange dunkel – Mithros zauberte ein paar magische Lichter herbei, die uns den Weg beleuchteten. Am Ende der Treppe gelangten wir auf eine Art Terrasse mit einem Steingeländer. Das Geräusch von fließendem Wasser war lauter geworden, ein feiner, kalter Nebel erfüllte die Luft. Die Terrasse war heimelig zurechtgemacht, ich sah Bambusmatten, Stühle und Leuchtgirlanden. Auf einem Holztisch stand ein Zaibur-Brett mit Spielfiguren. 139
»Wie weit sind wir von den Dämonenfällen entfernt?«
Er deutete in die Dunkelheit. »Sie sind eine ganze Meile über uns. Wären wir näher dran, würden wir das Wort des anderen nicht verstehen. Möchtest du etwas zu trinken?«
»Nein, ich …« Ich blickte mich um. Ich sah keine Karaffen oder Flaschen, fragte aber nicht nach. Mithros mochte kein Gott sein, doch er war ziemlich sicher ein Zauberer.
Ich merkte, dass unsere Legenden nicht das Geringste über die Magie der Vané berichteten. Nachfahren des Joras waren sie schon mal nicht, aber das Blut der Marakorer floss auch nicht in ihren Adern …
»Ich bin hier, weil eine gemeinsame Freundin Euch empfohlen hat.«
Er setzte sich an das Zaibur-Brett und nahm zwei Figuren zur Hand – eine aus Holz, die andere aus Metall. »Niemand kann uns hören, also kannst du genauso gut ihren Namen nennen. Thaena schickt dich, weil sie etwas erledigt haben möchte und keine Ahnung hat, wie sie es anstellen soll. Also sendet sie dich zu mir, damit ich das Problem aus der Welt schaffe. Kennst du das Spiel?« Er zeigte mir die beiden Figuren, schloss die Hände darum und versteckte sie hinter seinem Rücken.
»Mein Großvater hat es mir beigebracht«, antwortete ich. Mithros brachte die Hände wieder nach vorn; ich tippte auf die linke. »Und was Thaena betrifft: Zu den Beweggründen einer Göttin kann ich nichts sagen.«
Mithros öffnete die Hände. Ich hatte die Holzfigur erwischt, was bedeutete, dass er zuerst am Zug war. Glück für ihn. »Ich kenne sie schon lange.« Sein Tonfall legte nahe, dass er nicht gerade begeistert von ihr war.
»Ist Teraeth Euer Sohn?« Die Frage kam mir über die Lippen, noch bevor ich es verhindern konnte.
Mithros blinzelte mich an, öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schien es sich dann aber anders zu überlegen. »Du bist Teraeth begegnet?«, fragte er nur und drehte das Brett quer, sodass wir über die lange Kante spielten.
Ich betrachtete die Figuren. Sie waren bei jedem Spiel anders. Dieses hier beinhaltete selbstverständlich einen Khorsal, und jeder würde davon ausgehen, dass ein joratischer Hengst mit genau dieser Figur anfangen würde. Also überlegte ich kurz und entschied mich dann für die Hexenkönigin Suless. »Er muss mit Euch verwandt sein. Das ist nicht als Beleidigung gemeint, aber Ihr ähnelt ihm einfach zu sehr. Ist er Euer Sohn? Euer Bruder?«
Er lächelte, als kümmerte ihn die Frage nicht, und entschied sich für den Gottkönig Nemesan – eine gute Eröffnung mit starker Offensive. »Genau genommen ist er mein Enkel.«
»Genau genommen? Man sollte meinen, er ist entweder mit Euch verwandt oder eben nicht.«
Mithros lachte überrascht. »Da hast du vermutlich recht! Bitte missverstehe mich nicht. Ich schäme mich nicht wegen Teraeth, ganz im Gegenteil. In seinem letzten Leben stand er sehr hoch in meiner Gunst.«
Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken. »Ihr habt ihn in seinem letzten Leben gekannt? Wie ist das möglich? Ich dachte, wenn man wiedergeboren wird, verliert man jede Erinnerung an sein vorangegangenes Leben.« Ich griff nach einem Drachen und hielt inne.
Insgesamt gab es acht Drachen in dem Spiel. Wie kam es, dass mir das noch nie aufgefallen war? Hatten sie Namen, lautete einer davon möglicherweise Aeyan’arric?
»Nicht ich wurde wiedergeboren, sondern er.« Mithros deutete auf mich. »So wie du.« Als er meinen fragenden Blick sah, trat ein eigenartiges Lächeln auf sein Gesicht, das seine Schönheit ins Gegenteil verkehrte. »Komm schon, bist du noch nie jemandem begegnet und hast sofort eine tiefe Verbindung zu ihm gespürt, obwohl du ihn noch nie zuvor gesehen hast? Jemandem, dem du entweder spontan misstraut hast oder für den du, ohne zu zögern, durchs Feuer gegangen wärst? Beziehungsweise er für dich? Man kann sich leicht vorstellen, dass Seelen, die sich aus einem vergangenen Leben kennen, auch im nächsten nach einander Ausschau halten.« Er zuckte die Achseln. »Oder dass die Acht bestimmte Seelen auch in ihrer nächsten Inkarnation im Auge behalten.«
Ich räusperte mich und schaute weg. Bei Teraeth hatte ich genau dieses Gefühl gehabt, diese spontane Verbindung zwischen uns gespürt.
Und bei Relos Var ebenfalls, wenn auch nicht im positiven Sinn.
»Was ist das für ein Problem, das Thaena nicht lösen kann?«, fragte der Söldnerhauptmann.
»Ich muss einen Speer namens Khoreval stehlen.«
Er starrte mich an, als hätte ich eben behauptet, Eis sei flüssig. »Wozu?«
»Thaena glaubt, dass dieser Speer Aeyan’arric töten kann.« Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus, beinahe wie ein Geständnis. »Relos Var lässt sie immer wieder in Jorat einfallen. Ich kann zwar nicht direkt gegen Var vorgehen, aber gegen seine Verbündeten – seinen Rückhalt schwächen. Ohne Aeyan’arric wird es ihm weit schwerer fallen …« Ich hielt inne und überlegte. »Nun ja, zu tun, was auch immer er eben vorhat. 140 Thaena hat gesagt, Ihr könntet mir dabei helfen.«
»Sie hat gelogen.«
Ich zuckte zusammen und warf eine der Figuren um. »Wie bitte?«
Der Vané seufzte. »Ich soll dir helfen, den Palast von Herzog Kaen zu infiltrieren, richtig?«
Ich blinzelte. Ich hatte nicht erwähnt, wo der Speer sich befand. »Thaena sagte, Ihr wüsstet, wie man das anstellt.«
»Das ist so weit richtig. Aber wenn sie außerdem behauptet hat, ich würde dir helfen, hat sie gelogen. Denn das werde ich nicht.«
»Was? Aber …«
»Es wäre dein strategischer und buchstäblicher Selbstmord. Vielleicht begreift eine Frau, die über den Tod herrscht, nicht, was der Tod für andere tatsächlich bedeutet.« Er begann, seine Figuren auf das Brett zu stellen.
Ich musterte Mithros mit zusammengekniffenen Augen. »Hat Teraeth mit Euch über diese Angelegenheit gesprochen?«
»Er hat versucht, es dir auszureden? Dann mag ich ihn auch in dieser Inkarnation. Wie wär’s, wenn du jetzt deine Figuren aufstellst?«
»Was? Verflucht …« Ich hatte das Spiel ganz vergessen und beeilte mich, meinen Fehler zu korrigieren.
Mithros grinste schief. »Du bist jung und talentiert, ganz die Tochter deiner Mutter, aber begehe nicht denselben Fehler wie Thaena. Den Fehler, den sie wieder und wieder begeht: Unterschätze niemals Relos Var.«
»Tue ich nicht. Ich weiß, dass er gefährlich ist.«
»Ah, du weißt es also. Das ist schon mal ein guter Anfang.« Mithros machte seinen ersten Zug und griff meine Figuren sofort an. »Um Herzog Kaens Palast zu infiltrieren, bräuchtest du Relos Vars Zustimmung. Er müsste glauben, dass du die Seiten gewechselt hast und in seine Dienste treten willst. Und das würde er dir nicht so einfach abkaufen. Denn dann wäre er ein Narr, und dass Relos Var kein Narr ist, haben wir bereits festgestellt. Was sollte ihn also davon abhalten, dich zu gaeschen?«
Meine Kinnlade klappte nach unten. Wieder verspürte ich diesen eisigen Schauer.
»Er wird deine Seele in Ketten legen«, fuhr Mithros fort. »Warum auch nicht? Er hat nicht den geringsten Grund, an deine Treue zu glauben. Aber er kann es dir unmöglich machen, dich seinen Befehlen zu widersetzen. Um ihn zu überzeugen, dass er dich nicht gaeschen muss, müsstest du ihm einen Treuebeweis liefern, der so entsetzlich wäre, dass du niemals damit leben könntest. Mit weniger wird Relos Var sich nicht zufriedengeben. Mag sein, dass seine Getreuen noch keine Ungeheuer waren, als sie in seine Dienste traten. Aber am Ende werden sie dazu, alle.« 141
Ich kämpfte meine Panik nieder und den Drang, ihn anzuschreien, dass er sich täuschte. Ihm zu sagen, dass ich mich niemals von Relos Var gaeschen lassen würde.
Aber was, wenn Mithros sich nicht täuschte? 142 Die allergrößte Dummheit wäre, mich der Gefahr auszusetzen, ohne zumindest in Erwägung zu ziehen, dass er recht haben könnte. 143
»Da könnte etwas dran sein«, erwiderte ich und schlug eine seiner Figuren, aber der kleine Sieg fühlte sich schal und unbedeutend an.
»Dann kann ich dir nicht helfen, und du solltest mich auch gar nicht darum bitten.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Falls du allerdings den Roten Speeren beitreten willst, nehme ich dich mit Freuden auf. Ach, und diese Marakori ebenfalls. Sie schießt wie eine Diraxon.«
Ich überging seine Antwort und räusperte mich. »Ich sagte, da könnte was dran sein. Doch Relos Var spielt nicht nach unseren Regeln, und das ist ihm bisher immer zugutegekommen. Ihr glaubt, ich sollte ihn in Ruhe lassen, aber ich gehe davon aus, dass er mich nicht in Ruhe lassen wird. Er hat schon jetzt jemanden einzig deshalb in seine Dienste genommen, weil derjenige mir feindselig gegenübersteht. Er ist längst auf mich aufmerksam geworden.«
Mithros presste die Lippen aufeinander. »Bedauerlich.«
»Thaena glaubt nicht, dass er mir etwas tun wird.«
»Thaena wird auch nicht umgebracht oder gegaescht, wenn sie falsch liegt. Ich glaube zwar, dass er dich in seine Dienste nehmen würde, wenn er deine Treue für aufrichtig hält …«
»Dann könnte es also funktionieren.«
»Unterschätze seinen Scharfsinn nicht. 144 Auf Lügen fällt er nur selten herein, und wenn er dich dabei erwischt, zerquetscht er dich, bis nichts mehr von dir übrig ist.«
Ich schluckte und schaute weg. »Ich habe gesehen, was er mit Tamin gemacht hat.«
»Und Tamin hat ihn nicht einmal belogen.«
»Var ist zu sehr von sich überzeugt«, erwiderte ich und wandte mich Mithros zu. »So überzeugt, dass er glaubt, er könnte mich umdrehen. Er hält sich für schlauer als alle anderen.«
»Er ist schlauer als alle anderen.« 145
»Nun gut. Selbst wenn das stimmen sollte, früher oder später werden unsere größten Stärken zu unseren größten Schwächen. Das kann ich gegen ihn verwenden. Ich weiß, wie gefährlich mein Plan ist, aber ich weigere mich, einen Rückzieher zu machen, nur weil die Aufgabe schwierig ist.«
Mithros setzte zu einer Erwiderung an und verstummte.
»Bitte, ich brauche Eure Hilfe.«
»Bitte mich um etwas anderes.« 146
Ich stand auf und begann ruhelos auf und ab zu gehen. Verzweiflung presste mir die Eingeweide zusammen. Ich war davon ausgegangen, dass Mithros Thaena diente oder einem anderen der Acht, dass er mir helfen würde.
Aber Mithros schien alles andere als hilfsbereit.
Andererseits hatte er mir die Erfüllung eines Wunsches angeboten. Es wäre dumm, das nicht anzunehmen.
Ich wandte mich ihm zu. »Könnt Ihr mich in das Turnier einschleusen? Ich möchte wenigstens den Herzog warnen. Irgendjemand muss es tun.«
Er verzog das Gesicht. »Auch das ist nicht so einfach, wie du glaubst.«
»Könnt Ihr oder könnt Ihr nicht?« Ich spürte, wie mir allmählich der Geduldsfaden riss.
Der Söldnerhauptmann seufzte. »In Ordnung, ich kann dich hineinschleusen. Aber ich mache mir ein bisschen Sorgen, wie du danach wieder herauskommst.«
Ich hob das Kinn. »Das ist mein Problem.«