27  Die Jagd auf die Weiße Hexe
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Darzin D’Mon bekommen hatte, was er verdiente
»Im Ernst?« Kihrin warf Janel einen strafenden Blick zu. »Du hörst an dieser Stelle auf? Ninavis hat recht: Du bist ein Ungeheuer.«
Janel lachte nur und griff nach ihrem Wasserglas. »Ach, meine Kehle ist staubtrocken.« Sie prostete ihm zu. »Wie dem auch sei, wenigstens kann ich jetzt darüber lachen. Damals fand ich es gar nicht lustig.«
»Moment«, sagte Ninavis. »Ich dachte …« Sie nickte nachdenklich. »Gibt es auch nur einen Adligen auf dieser Seite der Drachenspitzen, den das Schwein nicht mit seinen Einflüsterungen manipuliert hat?«
Qaun schüttelte den Kopf. »Wohl kaum.«
»Den Herzog von Marakor vielleicht?«, warf Kihrin ein.
»Seit dem Lonezh-Höllenmarsch gibt es keinen Herzog von Marakor mehr«, entgegnete Janel. »Und aus irgendeinem Grund scheint niemand im Hohen Rat von Quur – du weißt schon, die Ratsversammlung des Hochadels – es sonderlich eilig zu haben, den Kerl zu ersetzen.«
Kihrin schüttelte den Kopf. »Das hat Mithros also gemeint, als er sagte, es würde nicht viel bringen, wenn du den Herzog warnst. Wegen Relos Var.«
»Es gibt noch eine andere mögliche Erklärung.« , sagte Janel.
»Und die wäre?«
Sie zuckte die Achseln. »Herzog Xun ist ein Trottel, der nicht einmal weiß, dass man im Regen nass wird.«
»Aha«, meinte Kihrin. »Dann gibst du ihm wohl ebenfalls kein Thudajé?«
»Das wäre verdammt schwer bei jemandem, von dem man glaubt, dass selbst ein Pferd ein besserer Herrscher wäre als er.« Janel hob einen Finger. »Kein Feuerblüter wohlgemerkt. Ein Pferd.«
»Jetzt will ich aber wirklich wissen, wie es weiterging.«
Bruder Qaun räusperte sich. »Ich bin dran.«
Kihrin stützte sich auf die Schanktheke. »Stimmt. Verzeih.«
Qauns Schilderung. Auf dem Grün, Atrine, Jorat, Quur.
»Ah, das ist mal ein schöner Haufen«, sagte Stute Dorna und zählte die Münzen in ihrer Hand.
Bruder Qaun blinzelte sie an. Beim letzten Mal hatte sie noch eine andere Geldbörse in der Hand gehalten. Diese hier war aus dem gleichen Stoff wie das Kleid einer Frau, mit der Dorna sich gerade unterhalten hatte.
»Woher hast du …?« Er hielt inne und räusperte sich. »Hat sie dir die Börse geschenkt?«
Dornas Grinsen ließ sich am ehesten als lasziv beschreiben. »Sagen wir, sie war dankbar für meine Nachhilfe.«
»Welche Art von Nachhilfe sollte sie von dir …?« Bruder Qaun verstummte. »Egal. Vergiss die Frage. Ich glaube, ich will es gar nicht wissen.« 152
Dorna grinste ihn an.
Ninavis überließ den Priester Dornas Obhut, als hätte sie ihr ein entlaufenes Hündchen wiedergebracht, und kehrte zu den Roten Speeren zurück. Sir Baramon war verschwunden, um seine Kontakte in den Kreisen der Turnierteilnehmer aufzufrischen, und Janel spielte weiterhin den Schwarzen Ritter. Somit war Bruder Qaun nun allein mit Dorna, die auf dem Grün umherstreifte, als wäre sie in einem Selbstbedienungsladen für Münzen, alkoholische Getränke und ihre beträchtlichen Gelüste.
Manchmal glaubte er beinahe, sie tue das alles nur, um ihn zu schockieren.
Ein leiser, anerkennender Pfiff von Dorna ließ ihn den Kopf in ihre Richtung drehen. Er folgte ihrer Blickrichtung und sah, was er erwartet hatte: Dorna schaute einer Frau auf einer der Himmelsbrücken hinterher.
Im Pferde-Jargon der Jorater würde man sagen, dass es sich bei dem Objekt von Dornas Begierde um einen weißen Hengst handelte. Nicht um einen Schimmel, dessen Fell im Lauf der Jahre immer heller wurde, sondern um einen echten Weißen. Die Sorte, die normalerweise noch als Fohlen stirbt. Haut und Haare dieser Frau waren so weiß und schimmernd wie das Sonnenlicht. Die Kleidung, die sie über ihren üppigen Rundungen trug, war die eines Mitglieds des Hochadels, aber nicht aus Jorat, sondern aus der Hauptstadt: eine graue Seiden-Misha mit hohem Kragen, dazu eine silberne Kef-Hose, deren Beine in hohe Stiefel gesteckt waren. Auf ihrem matt glänzenden Agolé schimmerten Diamanten wie Schneeflocken an einem Winterabend. Die Soldaten, die sie als Leibwache begleiteten, machten den Eindruck, als würden sie spielend mit jedem fertig, der mehr wollte, als Senera nur neidisch hinterherzuschauen. 153
Da drehte die Frau den Kopf, und Bruder Qaun sah ihr Gesicht.
»Dorna!« Er fasste die alte Dienerin am Arm. »Dorna, das ist die Doltari aus Mereina. Das ist Senera!«
»Wirklich? Ich wusste gar nicht, dass sie ihr Mieder zum Melonenschmuggeln benutzt.« 154 Dorna hörte auf mit dem Geldzählen und steckte die Börse weg. »Beim letzten Mal habe ich sie gar nicht richtig zu Gesicht bekommen.«
»Beim letzten Mal war sie auch nicht so skandalös gekleidet.«
»Sie ist gekleidet wie ein Hengst, als Skandal würde ich das aber nicht bezeichnen.«
Bruder Qaun reckte den Hals und starrte der Hexe hinterher. »Wir müssen ihr folgen.«
»Das brauchst du mir nicht zu sagen.« Dorna reichte ihre Tasse dem Mann neben ihr. »Würdest du das kurz für mich halten?« Dann packte sie Qauns Ärmel und zerrte ihn von der Tribüne weg.
Allein hätte Bruder Qaun es niemals geschafft, Senera zu folgen. Er hatte keine Ahnung, wie man vom Grün zu den labyrinthartigen Himmelsbrücken gelangte, auf denen sie Senera entdeckt hatten. Zum Glück kannte Dorna sich in Atrine aus, als wäre sie hier geboren worden (was, soweit Bruder Qaun wusste, durchaus möglich war), sie kannte alle Abkürzungen und Nebenwege.
Ansonsten war die Verfolgung nicht schwer. Seneras weißes Haar strahlte wie ein Leuchtfeuer. Jedes Mal, wenn Bruder Qaun glaubte, sie hätten sie verloren, sahen sie es irgendwo aufleuchten oder entdeckten in der Menge vor sich ihre Leibwache, und schon waren sie wieder auf ihrer Spur.
Bruder Qaun stieß einen erschrockenen Laut aus, als Dorna ihn plötzlich hinter eine Ecke zog. Er war so auf die Verfolgung konzentriert gewesen, dass er gar nicht gemerkt hatte, wohin Senera die beiden führte: zum Lager des Markreev von Stavira.
Er sah die Soldaten von Stavira in Rot und Gold auf dem Gelände patrouillieren. Keiner von ihnen schien in Alarmbereitschaft. Ihre Aufmerksamkeit war eher auf das jubelnde Publikum gerichtet, als seien sie neidisch, dass sie das Turnier nicht selbst besuchen konnten. Doch Bruder Qaun hegte keinen Zweifel daran, dass sie sofort kampfbereit wären, sollte es nötig werden.
Dorna zupfte ihn am Ärmel. Senera war gerade auf dem Weg zu dem größten Azhock. Zu Qauns Überraschung kam ihr ein Mitglied der Malkoessian-Familie entgegen, um sie in Empfang zu nehmen. Es war Sir Oreth höchstpersönlich.
Oreth begrüßte seinen Gast herzlich, als würden die beiden sich schon länger kennen. Qaun beschlich das Gefühl, dass Relos Var keine Zeit vergeudet und die beiden vor Längerem miteinander bekannt gemacht hatte.
»Die Rückseite ist unbewacht«, flüsterte Dorna.
»Das ist zu gefährlich. Wir sollten zurückgehen und Graf Janel unterrichten.«
»Warte noch einen Moment …«
Einer der Stavira-Ritter kehrte gerade vom Turnierplatz zurück. Seine Rüstung sah mitgenommen aus. Einer der Flügel auf seinen Schultern war fast vollständig durchgebrochen und baumelte lose auf den Rücken seines Feuerblüters hinab.
Da riss der Sattelgurt.
Der Ritter in seiner kopflastigen Rüstung tat genau das, was man erwarten würde: Er stürzte. Der Feuerblüter rief sogleich Hilfe herbei, wie Bruder Qaun vermutete, denn mehrere Wachen kamen angerannt.
Stute Dorna rannte ebenfalls.
Bruder Qaun wagte nicht zu protestieren – nicht dass die Soldaten noch auf sie aufmerksam würden.
In dem allgemeinen Trubel lief Dorna zur Rückseite des Azhocks, das Senera und Sir Oreth betreten hatten. Dort versteckte sie sich mit Bruder Qaun hinter einem Heuhaufen und mehreren Fässern Reiswein. Dann hielt sie ihr Ohr an die Zeltplane, um zu lauschen, und bedeutete Bruder Qaun, dasselbe zu tun. Er gehorchte und betete zu Selanol, dass sie nicht entdeckt würden.
»Ich höre überhaupt nichts«, flüsterte Stute Dorna. »Du vielleicht?«
Der Priester lauschte. Der Ritter, dessen Sattelgurt gerissen war (wie hatte Dorna das überhaupt angestellt?), schien sich bei seinem Sturz nicht verletzt zu haben; zumindest legten das die herzhaften Flüche nahe, die er ausstieß. Die Wachen kehrten auf ihre Posten zurück. Doch aus dem Azhock drang nicht ein Laut.
»Vielleicht sind sie gerade dabei, ähm, du weißt schon …« Bruder Qaun errötete.
»Auch das würde man hören, Priester«, brummte Stute Dorna.
»Oder sie pirschen sich an die beiden Lauscher heran«, erklärte Senera. Die Stimme kam aus Bruder Qauns Rücken.
Er drehte sich um.
Senera und Sir Oreth standen vor ihnen. Oreth hatte sein Schwert gezogen, das halbe Dutzend Wachen hinter ihm ebenso. Er schaute Stute Dorna mordlüstern an.
Senera lächelte. »Wir haben viel zu besprechen. Warum begleitet ihr uns nicht nach drinnen?«