28  Anschuldigungen wegen Hexerei
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Thaena ein Hintertürchen im quurischen Auswahlverfahren für die Thronfolge gefunden hatte
»Du nicht auch noch«, stöhnte Kihrin, als Bruder Qaun eine Trinkpause einlegte.
Der Priester lächelte. »Meine Kehle ist staubtrocken.«
Janel lachte und stieß Qaun mit dem Ellbogen an.
»Aha, so ist das also«, murmelte Kihrin und wandte sich an Ninavis. »Und was hast du in letzter Zeit so getrieben?«
»Ich? Am Niedergang des Quurischen Reichs gearbeitet und den Sturz des Hochadels betrieben.« Sie lächelte. »Das Übliche eben.«
Kihrin merkte, dass sie keine Witze machte. »Und wie läuft’s?«
»Ehrlich gesagt nicht schlecht, aber sobald die Regierenden anfangen, uns ernst zu nehmen, dürfte es schwierig für uns werden. Sie kämpfen mit harten Bandagen.« Ninavis drehte sich Janel zu und schlug mit der Hand auf die Theke. »Jetzt komm schon. Ich will ebenfalls wissen, wie es weitergegangen ist.«
»Gut.« Janel nahm einen tiefen Atemzug; ihr Lächeln verschwand.
Janels Schilderung. Im Palast des Herzogs, Atrine, Jorat, Quur.
Ich war so auf Relos Var konzentriert, dass ich die dritte Person im Raum zuerst gar nicht bemerkte. Diese kniete auf die Hände gestützt und mit gesenktem Kopf zu Vars Füßen. Wegen der Kapuze über ihrem Kopf konnte ich nichts Genaueres erkennen.
»Ist bei der Befragung etwas herausgekommen?«, erkundigte sich Herzog Xun. Er zeigte keinerlei Furcht vor Relos Var, schien sich nicht im Geringsten bewusst, wie gefährlich der Mann war.
Der Mann, den nicht einmal Thaena aufhalten konnte, wie sie selbst gesagt hatte.
»Aber ja, eine Menge«, antwortete Var und sah den Herzog dabei kaum an. Sein Blick glitt an ihm vorbei und verweilte schließlich auf mir. »Janel Danorak. Wie sehr Euer Anblick mein Herz erfreut. Ich habe nie daran gezweifelt, dass Ihr überleben würdet.«
»Ja, ist das nicht wunderbar?« Der Herzog klatschte in die Hände. »Ich bin ihr auf dem Flur begegnet. Sie ist genauso besorgt wegen der Hexen wie Ihr, Var. Ich dachte mir, es würde sie beruhigen, wenn sie sieht, wie weit Ihr den Übeltätern bereits auf der Spur seid.«
»Ich bin sicher, sie denkt an nichts anderes«, stimmte Relos Var zu. Er legte eine Hand auf den Kopf des Mannes zu seinen Füßen und schaute mich weiter an.
Sein Idorrá hatte seit unserer ersten Begegnung kein bisschen nachgelassen. Genau wie in Mereina musste ich mich beherrschen, nicht zusammenzuzucken, wegzusehen oder mich zu verneigen. Und der Ausdruck in seinen Augen …
Es ist schwer zu erklären. Das Lächeln auf Vars Gesicht war auch in seinen Augen zu erkennen, trotzdem war es ein heimliches Lächeln: Er teilte einen subtilen Witz mit mir, dessen Pointe Herzog Xun niemals begreifen würde.
In diesem Moment wusste ich es. Relos Var war klar, dass ich ihn durchschaut hatte und nur hergekommen war, um ihn zu entlarven. Mit seinem Lächeln gab er mir zu verstehen, dass wir einander als das erkannt hatten, was wir waren: Feinde.
Und das gefiel ihm.
»Herzog«, begann ich, »was auch immer dieser Mann Euch erzählt hat …«
»Janel? Bist du das?« Die Stimme klang näselnd, klagend und gebrochen. Der Kniende hob den Kopf, um mich anzusehen. Die Kapuze rutschte von seinem goldenen Laevos.
Tamin.
Seine Wangenknochen waren grün und blau, die Augen zugeschwollen, mehrere Zähne fehlten ihm. Ein intensives Gefühl, dass etwas hier ganz und gar nicht stimmte, überkam mich.
Eigentlich hätte Tamin seine Verletzungen heilen können. Hatte er aber nicht.
»Sei ein braver Junge und erzähl dem Herzog von den Hexen, Tamin.« Relos Var streichelte Tamins Laevos, als wäre er sein Schoßhündchen.
Tamin wollte etwas sagen, da ging ein Zittern durch seinen Körper. »Es ist ein ganzer Hexenzirkel. Sie haben mich gezwungen … sie haben mich verhext und mich gezwungen, zu tun, was sie mir befehlen.«
»Und ihre Anführerin? Wer ist ihre Anführerin?«, fragte Relos Var mit einer leisen Drohung in der Stimme und schaute weiterhin nur mich an.
Ich hatte das Gefühl, als bliebe die Zeit stehen. Der Herzog, seine Mutter, die Soldaten, alle hingen an Tamins Lippen und warteten auf die schicksalhaften Worte.
»Ich habe ihren Namen nie erfahren, aber ihre Haut war weiß« – Var verstärkte den Griff um Tamins Laevos – »mit schwarzen Flecken. Sie war weiß mit schwarzen Flecken. Es tut mir leid, Janel, so unendlich leid. Es war eine alte Frau mit schwarz gefleckter Haut. Bitte verzeih mir.«
»Du …« Ich kannte dieses Spiel. Nachdem Tamin als Erstes Dorna beschrieben hatte, würde er weitere Leute beschreiben. Als Nächstes vielleicht Bruder Qaun. Dann Ninavis. Dann mich.
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Graf, habt Ihr nicht eine Frau in Euren Diensten, die so aussieht?« Der Herzog ging im Kreis um uns herum und war so auf Tamin konzentriert, dass er das Blickgefecht zwischen mir und Relos Var gar nicht mitbekam.
»Aber nein, Herzog«, antwortete ich mit zuckersüßer Stimme. »Die Haut meiner Dienerin ist schwarz, nicht weiß.«
»Ah, richtig. Jetzt fällt es mir wieder ein.«
Relos Vars Lippen zuckten. Das Schwein musste sich beherrschen, nicht zu lachen. 155
»Mein Herzog«, sagte ich, immer noch nicht in der Lage, den Blickkontakt mit Var abzubrechen. »Ich würde sehr gerne an den heutigen Festlichkeiten teilnehmen, doch ich fürchte, mein Schmuck und meine Abendgarderobe haben die Reise von Barsine hierher nicht überlebt. Wärt Ihr so gnädig und großzügig, mir mit Eurer Kleiderkammer auszuhelfen?«
Ich hatte selbstverständlich mitnichten vor, an den Festlichkeiten teilzunehmen. Ich wusste nur nicht, ob Var nicht etwas versuchen würde, hier und jetzt, und wollte Xuns Mutter aus dem Weg wissen.
»Ach, armes Ding! Aber natürlich, ich bin sicher, ich werde etwas Passendes für Euch finden.« Lady Xun schniefte. »Und Ihr habt schrecklich viel zu besprechen. Würdest du mich entschuldigen, Liebes?«
»Du willst jetzt gehen? Es wird gerade erst spannend. Tamin nennt uns gleich die Namen der Hexen.«
»Ach, ich bin sicher, du kommst auch ohne mich zurecht.« Ich hörte den Stoff ihres Umhangs rascheln, als sie sich zum Gehen wandte.
Relos Var hob den Kopf. Er grinste immer noch. »Soll ich Tamin bitten, mit seiner Aufzählung fortzufahren?«
Ich sprach, noch bevor der Herzog antworten konnte. »Er hat schon genug durchgemacht. Außerdem möchte der Herzog sicherlich auch meinen Bericht dazu hören.«
»Aber ja, das möchte ich. Bei den Göttern, stimmt etwas nicht? Ihr beide schaut einander an, als würdet ihr entweder gleich eure Schwerter ziehen oder miteinander durchbrennen.«
Also hatte er doch etwas gemerkt.
An dieser Stelle brach Relos Var den Blickkontakt zu mir ab – nach den Worten des Herzogs konnte er das Lachen nicht mehr länger zurückhalten. Es war ein tiefes, wohlklingendes Lachen. »Aber nein, mein Herzog. Ich fürchte, der Graf ist etwas zu jung für mich. Nichts gegen Euch, Janel.«
»Kein Problem«, murmelte ich. »Vielleicht wäre Euer jüngerer Bruder besser geeignet. Habt Ihr ihn mitgebracht?«
Ah, seine unerschütterliche Selbstkontrolle wurde brüchig. Aus dem Blick, den er mir nun zuwarf, sprach die blanke Bosheit. Anscheinend war die Angelegenheit mit seinem »Bruder« nicht zu Vars Zufriedenheit verlaufen. Ob mich das glücklich oder traurig machen sollte, wusste ich allerdings nicht.
Ich ging langsam im Kreis um Relos Var herum und zwang ihn, sich mit mir zu drehen, wenn er mich im Auge behalten wollte. »Ich habe die Hexe in Mereina ebenfalls gesehen. Sie war weißhäutig und eine Ausländerin. Sie hat einen der Verweser verhext und sich als seine Dienerin ausgegeben.«
»Seht Ihr, Herzog, das passt genau zu der Beschreibung, die uns der ehemalige Baron gegeben hat.« Relos Vars Lächeln war wieder da, seine Maske saß perfekt. »Aber sie muss Komplizen gehabt haben. Hexen arbeiten niemals allein.«
»Ihr müsst es ja wissen, schließlich seid Ihr der Anführer.« Ich brachte meine Anschuldigung als schlichte Tatsache vor. Ich konnte nicht zulassen, dass Var den Gesprächsverlauf weiterhin steuerte und den Herzog gegen mich und meine Freunde aufbrachte.
»Wie bitte?«, rief Xun empört. »Janel! Relos Var ist unser Gast!«
»Wählt Eure nächsten Worte mit Bedacht«, sagte Relos Var.
»Oh, das habe ich. Wisst Ihr, Euer Gnaden, dieser Relos Var mag ja ganz harmlos wirken mit seinem Lächeln und den weisen Augen, aber die Hexe von Mereina schuldet ihm ihr Thudajé, genau wie Tamin. Mit honigsüßen Worten will er Euch glauben machen, ich oder einer meiner Leute wäre eine Hexe, damit wir Euch die Wahrheit nicht verraten können: dass er diese Dämonen herbeigerufen hat. All die Menschen in Mereina sind auf sein Geheiß hin gestorben.«
Relos Var verzog das Gesicht zu einer Fratze. »Ihr enttäuscht mich. Dies ist nichts anderes als die verzweifelte und zum Scheitern verurteilte Anklage einer Frau, die weiß, dass ihre Schuld jeden Moment ans Licht kommen wird.«
Ich prustete laut los, auch wenn ich die Situation alles andere als komisch fand. Ich hatte schon immer gewusst, dass mich eines Tages jemand als Hexe beschuldigen würde. Genau wie mein Großvater. Deshalb hatte er ja auch immer darauf bestanden, dass ich die falschen Gerüchte über den Lonezh-Höllenmarsch auf sich beruhen ließ.
»Ihr seid ein Ausländer. Ihr versteht uns und unsere Kultur nicht. Ihr habt seine Worte gehört, Euer Gnaden, und Ihr habt die meinen gehört. Ihr wisst, dass diese Angelegenheit nur auf eine Art beigelegt werden kann.«
Der Herzog nickte. »O ja. Wie aufregend. Aber … Janel, bitte sag mir, dass du keine Hexe bist.« Er schaute mich an, als hätte er gerade erfahren, dass sein Lieblingspferd in den Palast gemacht hatte.
»Bin ich nicht, Euer Gnaden. Das schwöre ich.« Mittlerweile hatte ich den Eindruck, dass Bruder Qauns Definition von Hexerei – dass Hexen Leute waren, die Dämonen beschworen – richtig war. Das sogenannte Verbrechen, wenn jemand ein angeborenes Talent zum Zaubern hatte, rechtfertigte noch lange nicht die Todesstrafe.
»Wer von uns beiden ist jetzt der Lügner?«, bellte Relos Var.
Der Herzog schien seine Worte nicht gehört zu haben, und falls doch, überging er sie einfach. »Nun dann … ist es entschieden.«
Ich atmete erleichtert auf. »Hier oder auf dem Haupthof?«
»Auf dem Haupthof«, antwortete Xun. »Schließlich findet gerade das Große Turnier statt. Es gibt keinen Grund, dies dem Publikum vorzuenthalten.«
Nun wirkte Var doch ein wenig verunsichert. »Moment. Was ist entschieden?«
Foran Xun und ich schauten einander an.
»Er ist Ausländer, mein Herzog«, sagte ich möglichst herablassend. 156
Relos Var setzte ein etwas weniger wütendes Gesicht auf. »Das leugne ich nicht. Dennoch glaube ich, das Recht zu haben, darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, wovon Ihr beide sprecht.«
Der Herzog wedelte mit der Hand. »Nun ja, Ihr habt Euch gegenseitig schwerer Verbrechen bezichtigt. Eine solche Angelegenheit lässt sich nur auf eine Art beilegen: durch einen Zweikampf.«
Ich lächelte Relos Var an. »Wir werden uns duellieren. Weigert Ihr Euch, weiß jeder, dass Ihr ein Heuchler seid.«
Var starrte mich entsetzt an – oder wenigstens ein bisschen erschrocken. Dann begann er zu kichern. »Mein gutes Mädchen, Ihr solltet wissen, dass Ihr gegen mich nicht gewinnen könnt.«
»Ihr meint, gegen einen Zauberer Eures Kalibers?« Ich legte eine Hand auf meinen Gürtel, nicht direkt auf den Schwertknauf, aber auch nicht weit davon entfernt. »Ja, das weiß ich.«
Er verzog das Gesicht. »Ist das Euer Spiel? Ihr glaubt, Ihr könntet mich in eine Situation bringen, in der ich mich nur noch mit Magie verteidigen kann? Wie töricht. Ich hatte etwas Schlaueres erwartet.« 157
»Wir werden es ja sehen«, flüsterte ich.
»Ich unterbreche nur ungern, doch es ist Brauch, die Kontrahenten jetzt voneinander zu trennen. Relos, warum begleitet Ihr mich nicht? Wir müssen jemanden finden, der an Eurer Stelle kämpft.«
»Ich werde selbst kämpfen.«
»Wie bitte?« Der Herzog schaute einen Moment lang bestürzt drein, dann zuckte er die Achseln. »Schön, wie Ihr wünscht. Dann müssen wir eben Waffe und Rüstung für Euch besorgen. Kommt mit.«
Ich lächelte. Der Blickkontakt zwischen mir und Var riss erst ab, als der Herzog ihn und Tamin wegführte. Die Tür schloss sich hinter ihnen, und ich hatte das Gefühl, als kehrte die Luft in den Raum zurück. Mein Herz begann wieder zu schlagen.
»Was habe ich getan?«, flüsterte ich in die Stille.
Doch niemand antwortete.