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Ein unbedachtes Duell
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Kihrin ungefragt Talismane in der Hauptstadt verteilt hatte
»Das hast du nicht getan«, sagte Kihrin.
»O doch, habe ich«, gestand Janel.
»Aber du hast nicht gegen ihn gekämpft.« Kihrin hob eine Augenbraue. »Ich meine es ernst, wenn ich sage, dass Relos Var sich schon mit Göttern angelegt hat. Nicht nur mit Gottkönigen, sondern mit den Drei Schwestern höchstpersönlich: Glück, Tod und Magie. Und zwar alle gleichzeitig.«
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»Oh, sie hat gegen ihn gekämpft«, entgegnete Dorna. Sie sah zu Stern hinauf. »Ich komme von hier unten nicht an sie ran. Würde es dir etwas ausmachen, mir zur Hand zu gehen, mein Lieber?«
»Kein Problem«, erwiderte Stern. Er beugte sich vor und gab Janel einen Klaps auf den Hinterkopf.
»He!« Janel schaute Stern böse an. »Sieh dich vor!«
»Davon hast du noch tausend mehr verdient, Fohlen«, sagte Dorna. »Von mir hast du das nicht.« Sie klopfte mit dem Finger auf die Theke. »Lass dich nicht auf einen Kampf mit jemandem ein, der sogar den Göttern Angst macht. Das ist eine Merkregel, an die man sich besser hält.«
»Ich wusste genau, was ich tat«, protestierte Janel. »Mehr oder weniger.«
Qaun öffnete sein Buch. »Diesen Teil hasse ich wirklich.«
Qauns Schilderung. Im Lager der Malkoessians. Das Grün, Atrine, Jorat, Quur.
Die Wachen schleiften Bruder Qaun und Stute Dorna in das Zelt. Das Innere war mit roten und goldglitzernden Flammenstickereien verziert. Von jeder Oberfläche grinste ihnen der Jaguar von Stavira entgegen, als wollte er sie wegen ihres tolldreisten Eindringens
verspotten.
Bruder Qaun war Sir Oreth bereits einmal begegnet, als dieser ein paar Monate zuvor mit Soldaten und in mieser Stimmung im Schloss Tolamer eingetroffen war. Seither hatte Sir Oreth nichts von seinem guten Aussehen eingebüßt. Die Jorater bezeichneten eine Färbung wie seine als von der Sonne geküsst – ein weißgoldener Laevos, bronzefarbener Teint und dazu dunkelbraune Hände. Eines seiner braunen Augen war von einer weißen Blesse umgeben und heller als das andere.
Seine Laune hatte sich nicht gebessert. Als sie im Zelt waren, hielt Sir Oreth Stute Dorna sein Schwert unter die Nase.
»Nein, Sir Oreth«, tadelte Senera. Ihrem Akzent zufolge stammte sie aus der Hauptstadt Quurs.
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»Leichen führen zu Untersuchungen. Wir wollen doch keine Aufmerksamkeit erregen. Lord Var wäre darüber sehr enttäuscht.«
»Dieses Miststück kennt mich«, sagte Sir Oreth. »Wenn sie meinem Vater hiervon erzählt, wird er sein Darlehen zurückfordern. Und dann haben Eure Leute in Tolamer keinen Torstein mehr.«
»Sie ist eine alte Frau. Sie kann Euch nichts anhaben.« Senera sah Stute Dorna und dann die Wächter an. »Nehmt ihr den Knebel ab.«
Bruder Qaun rechnete mit einem Schwall Schimpfwörter aus Stute Dornas Mund. Doch als die Wächter den Knebel entfernt hatten, hielt sie sich zurück. Vielleicht weil sie begriff, in welcher Lage sie sich befanden.
»Und was geschieht jetzt?«, fragte Stute Dorna mit hocherhobenem Kinn.
»Ach, das Übliche«, erwiderte Senera. »Wir werden uns unterhalten. Ich stelle Fragen, und du versuchst, mir eine Geschichte aufzutischen – eine wahre oder erlogene, ganz wie du möchtest –, die mich dazu bringt, dir nicht von dem charmanten Sir Oreth hier den Hals aufschlitzen zu lassen.«
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Bruder Qaun schluckte.
»Ihr wisst aber schon, dass man das hier nicht so handhabt. Unbefugtes Eindringen gilt in diesem Herrschaftsgebiet nicht als Kapitalverbrechen. Es würde sehr merkwürdig wirken, wenn Ihr uns deswegen tötet. Niemand wird glauben, dass wir in flagranti ertappte Attentäter sind. Wenn Sir Oreth uns umbringt, wird das Folgen haben.«
Senera sah ihn zum ersten Mal an. Ihre warmen grauen Augen waren nicht von den Göttern berührt. Die göttlichen Farben der Adelshäuser sahen anders aus.
Sie zwinkerte ihm zu.
»Da hat der Priester recht«, sagte sie zu Sir Oreth.
»Die Alte ist eine schlimme Hexe mit einer vorwitzigen Zunge«, sagte Sir Oreth.
»Das hat Eure Mutter auch immer über mich gesagt«, erwiderte Stute Dorna.
Er zog erneut sein Schwert und trat einen Schritt auf sie zu. Einer der Wächter versperrte ihm den Weg.
»Dorna!«, sagte Bruder Qaun. »Das ist nicht hilfreich.«
»Entschuldigung«, murmelte sie. »Ich konnte es mir nicht verkneifen.«
Senera schaute sie alle ungläubig an. Sie ging zu einem Tisch und schenkte mehrere Tassen Tee ein. »Ich muss mich korrigieren. Die alte Frau kann Eure Gefühle
verletzen.« Sie hielt eine Tasse in die Höhe. »Möchte jemand Tee?«
»Ja, ich«, antwortete Stute Dorna. »Wenn Ihr mich nur losbinden würdet …« Sie wackelte hinter dem Rücken mit den Armen, um auf ihre Fesseln hinzuweisen.
Senera musterte sie und hielt ihr die Tasse hin. »Befrei dich selbst von deinen Fesseln. Wir wissen doch beide, dass sie für jemanden wie dich nicht hinderlicher sind als Zuckerwatte.«
»Was machen wir denn jetzt?« Sir Oreth deutete auf den Vordereingang des Azhocks. »Meine Familie wird jeden Moment zurückkommen. Wir haben keine Zeit für Plaudereien mit diesen zwei Bauern. Du bist zwar nett anzuschauen, Senera, aber niemand kauft dir ab, dass du ein Hengst bist.
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Überlass die beiden denjenigen, die etwas davon verstehen.« Er winkte die Wachen heran. »Nehmt sie mit. Wir stecken sie in die südliche Scheune und überlegen uns später, was wir mit ihnen machen.«
»Reizend wie eh und je«, murmelte Dorna.
Seneras Miene verhärtete sich, und sie schloss einen Moment lang die Augen. Dann setzte sie die Teetasse ab. »Was ist das für ein Geräusch, Sir Oreth?«
Der Ritter drehte sich zu ihr um. »Was meint Ihr?«
Bruder Qaun stellte fest, dass Senera nicht nur Konversation treiben wollte. In der Ferne hatte sich ein dumpfes Tosen erhoben. Es klang, als befänden sie sich zu nahe
an den Dämonenfällen.
Es war Jubel. Die Turnierbesucher jubelten.
Ein in Rot und Gold gekleideter Läufer kam keuchend ins Zelt gestürmt. »Edle Damen und Herren«, stieß er atemlos hervor. »Zum bisherigen Veranstaltungsplan ist noch ein Wettkampf hinzugekommen. Der Graf von Tolamer kämpft gegen Relos Var.«
»Oh, so ein Dummkopf«, sagte Stute Dorna.
Bruder Qaun wusste, dass Dorna nicht Relos Var meinte.
»Hölle und Verdammnis«, sagte Sir Oreth. »Sie wird ihn umbringen.«
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Senera starrte Sir Oreth an. »Ihr seid wirklich neu bei uns, oder?«
»Janel ist so stark wie zehn Männer«, entgegnete Sir Oreth. »Euer Meister versteht sich zwar gut auf Worte, aber in einem Duell wird Janel ihn in Stücke reißen.«
Senera verdrehte die Augen. Sie sah verärgert, aber nicht besorgt aus. »Also dann.« Sie gab den Wächtern ein Zeichen. »Bringen wir die beiden zu den Zuschauertribünen. Sie sollen wenigstens den Tod ihres geliebten Grafen mit ansehen dürfen.«
»Wie konnte sie nur so blöd sein?«, flüsterte Stute Dorna, während sie nebeneinander hergingen und dabei gelegentlich von einem ungeduldigen Wächter vorwärtsgeschubst wurden. »Sie hat gesagt, sie will mit dem verdammten Herzog sprechen. Dass sie einen Zauberer zu einem Duell herausfordern wird, hat sie nicht erwähnt. Was zur eisigen Hölle hat sie sich dabei gedacht?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Bruder Qaun. »Wie hat Senera das mit den Fesseln gemeint?«
»Das ist nicht so wichtig, Priester.«
»Ich denke da an den Feuerblüter, dessen Sattelgurt gerissen ist«, sagte er. »Und an Kalazans Fesseln. Und was war mit all den Armbrüsten, die in Mereina auf Graf Janel gerichtet waren? Deren Sehnen sind auch einfach gerissen.«
»Ruhe, ihr zwei«, sagte der Wächter hinter ihnen. Sein Akzent klang joratisch, aber es schwang noch etwas anderes darin mit.
Bruder Qaun seufzte, befolgte jedoch den Befehl. Am Denken konnten sie ihn allerdings nicht hindern. Bruder Qaun fragte sich, ob dem Grafen klar war, dass Stute Dorna der joratischen Definition einer Hexe entsprach. Er erinnerte sich an all die Leute, die in Gegenwart der alten Frau ihre Geldbörsen eingebüßt hatten, obwohl er nie ein Messer
in ihrer Hand bemerkte. Er dachte auch daran, wie gut sie nähen konnte. Die Nähte, die sie setzte, waren so klein, dass er sie mit bloßem Auge nicht einmal sah. Vermutlich beherrschte sie nur einen einzigen Zauber – etwas verknoten oder entknoten –, aber den dafür perfekt.
»Was hat sie sich bloß dabei gedacht?«, murmelte Dorna erneut.
Senera schritt wie eine Königin einher. Ihrem Verhalten nach zu schließen, rechnete sie nicht damit, dass jemand sie wegen der Toten in Mereina zur Rechenschaft ziehen könnte. Sir Oreth dagegen wirkte zappelig und sah sich andauernd um, ob irgendwer sie beobachtete.
Wahrscheinlich hielt er nach seinem Vater Ausschau.
Senera führte die Gruppe zu einem weiter oben gelegenen, abgetrennten Bereich auf der Tribüne, wo alle Zuschauer ihre eigenen Diener und Wachleute dabeihatten.
»Ihr habt eine Loge
?« Dorna klang empört.
Senera nahm lachend Platz. Als sie saß, erwachte ein kleiner, vielleicht acht Monate alter Rothundwelpe und sprang, offensichtlich auf Leckereien und Streicheleinheiten erpicht, von seinem Samtkissen zu ihr hinüber. Senera kraulte die Ohren des Welpen und ließ zu, dass er den Kopf auf ihren Schoß legte.
Bruder Qaun blinzelte, als er das Tier erkannte. Es war der Welpe des Verwesers aus Mereina, den Senera mitgenommen hatte, während ihr Würgegas sich in der Stadt ausbreitete.
»Dann mach ich mich mal auf die Suche nach meinem Vater, damit nicht er mich suchen kommt«, sagte Sir Oreth. »Ich unterstelle, dass Ihr die Lage im Griff habt.« Damit verließ er sie und bedeutete seinen Soldaten, ihm zu folgen.
»Da geht er hin, der gut aussehende Trottel«, sagte Senera und schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, dass wir ihn für nichts wirklich Wichtiges brauchen.«
Bruder Qaun setzte zu einer Antwort an, da erhob sich erneut Gebrüll, und Graf Janel ritt in den Ring. Sie rief der Menge etwas zu.
Bruder Qaun erkannte, dass sie ihre Anklagerede hielt. Dass Relos Var ein Zauberer sei und mit der Hilfe einer Weißen Hexe aus dem Süden in der Provinz Überfälle von Dämonen und Drachen befehligt habe.
Senera hörte auf, den Welpen zu tätscheln. »Das könnte zu Unannehmlichkeiten führen.« Sie drehte sich zu Dorna um. »Gibt es
bei eurem Volk keine Gesetze gegen Verleumdung?«
»Doch. Ihr seht gerade bei deren Vollstreckung zu.«
Als Nächster kam Relos Var, der auf seinem Pferd nicht so schneidig wirkte wie Janel auf Arasgon, aber gut genug ritt, um sich nicht zu blamieren.
Seine Rede war vernichtend.
»Diese Frau ist keine echte Joratin!«, rief er. »Ich weiß, dass ich hier ein Fremder bin, aber wenigstens lüge ich nicht. Als Kind hat sie im Kanton Lonezh einen Pakt mit Dämonen geschlossen. Sie ist den Dämonen nicht entwischt. Sie hat sie angeführt. Sie hat eine Dämonenarmee gegen euch geführt! Und nun versucht sie, die Wahrheit zu verdrehen, weil wir ihr und ihren Machenschaften einen Riegel vorschieben wollen. War sie nicht in Mereina, kurz bevor die Stadt entvölkert wurde? Hat sie nicht ihren angestammten Kanton Tolamer im Stich gelassen? Ihren Verlobten hat sie angegriffen, als er ihren Verrat bemerkte. Und nun deutet sie mit dem Finger auf mich
, weil ich weiß, was sie ist, und den Mut habe, es laut auszusprechen.«
Die Menge verstummte kurz und begann dann wieder zu brüllen.
Das Publikum schlug sich nicht auf Relos Vars Seite. Er war ein Ausländer, und der Graf war Janel Danorak. Solange nicht das Gegenteil bewiesen war, glaubten sie ihr.
Außer Janel verlor. Relos Vars Worte waren auf schreckliche Weise brillant – er hatte ihre Geschichte so verdreht, dass Janel verdammt war, wenn sie verlor. Bruder Qaun wurde übel. Wenn Relos Var gewann, genügte das als Beweis ihrer Schuld, und auf das Duell würde eine Verbrennung folgen.
Senera lächelte und streichelte wieder den Hund.
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Nachdem Relos Var einmal im Kreis geritten war, überraschte er alle, indem er absaß und sein Pferd wegschickte. Nach kurzem Nachdenken tat Graf Janel es ihm nach und schickte Arasgon trotz seiner heftigen Proteste zu den Stallungen zurück.
Die Kämpfer gingen aufeinander zu. Sie waren beide mit einem Schwert und einem Schild bewaffnet. Janel hatte ihr Familienschwert, das ihr Reichweitenvorteile verschaffte. Wie immer führte sie es, als wäre es ein Einhänder. Jeder andere hätte beide Hände gebraucht, um die Waffe zu halten.
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Relos Var wirkte dagegen wie ein Bibliothekar, den man zu einem Gladiatorenkampf gezwungen hatte.
Doch seine Technik strafte den äußeren Anschein Lügen. Er wich jedem von Janels Hieben aus, während sie selbst vor seinen Angriffen zurückweichen musste. Ihre Kraft half ihr nicht.
Falls sie miteinander redeten, bekam davon niemand etwas mit, denn die gesamte Arena stimmte einen Sprechgesang an.
»Danorak, Danorak, Danorak!«
Dann geschah etwas. Bruder Qaun sah Janels Fehler nicht. Vielleicht machte sie auch gar keinen. Sie hob ihr Schwert, Var schlug mit seiner Klinge dagegen …
Und Janels Schwert zerbrach, als wäre es aus Glas.
Alle, vom Herzog bis zu den Kindern, die jenseits des Grüns zu Füßen ihrer einfachen Eltern auf den Hausdächern saßen, sprangen von ihren Plätzen auf.
Einen Moment später fiel Janel auf die Knie und ergab sich Relos Var.
»Verflucht«, sagte Stute Dorna. »Dein Herr hat fair gewonnen …«
Relos Var durchbohrte Janel mit dem Schwert.
Die Zeit blieb stehen. Bruder Qaun riss entsetzt die Augen auf. Selbst aus dieser Entfernung sah er Janels schockierten Gesichtsausdruck. Als Var sein Schwert wieder herauszog, fiel Janel um. Eine Blutlache breitete sich unter ihr aus und durchweichte den Boden.
Sie rührte sich nicht mehr.
Die Menge wurde still.
Senera seufzte und stand auf. »Das wäre also erledigt. Dann gehen wir mal die Leiche bergen.«