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Saelen
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Darzin D’Mon schlecht gewettet hatte
Ninavis schlug mit der Hand auf die Theke. »Verdammt.«
Dorna verdrehte die Augen. »Hör auf mit dem Gejammer. Dann hattest du eben ein Stelldichein mit dem Gott der Zerstörung. Na und? Wenigstens hattest du Spaß.« Sie hob einen knotigen Finger. »Mir scheint, verglichen mit uns anderen bist du noch ganz gut davongekommen.«
Ninavis’ Miene verfinsterte sich. »Das stimmt.« Sie schnitt eine Grimasse. »Ja, das stimmt.«
Kihrin sah sich unter den Anwesenden um. »Es wird noch schlimmer, oder?«
»O ja«, sagte Qaun und begann zu lesen.
Qauns Schilderung. Auf dem Turnierplatz, das Grün, Atrine, Jorat. Yor.
Bruder Qaun umklammerte die hölzerne Brüstung so fest, dass er sich Splitter unter die Fingernägel zog. Alles schien langsamer zu werden. Er hörte Stute Dorna zitternd nach Luft schnappen und Arasgon weit in der Ferne wütend aufschreien. Die Menge tat lauthals ihren Unmut über den Ausgang kund, doch niemand hielt Relos Var auf, als er ging. Und keiner lief in die Arena, um Janel aufzuheben, deren Blut eine kleine Pfütze auf der Erde bildete.
Er hatte gewonnen, sie verloren.
Er war stark und sie schwach.
Der Gewinner hatte recht, der Verlierer nicht.
Unschuldig, schuldig.
Bruder Qaun spürte die Hände der Wächter auf den Schultern. Sie hielten ihn davon ab, zum Kampfplatz zu laufen.
»Nein«, sagte Bruder Qaun. »Ich kann ihr helfen!«
»Geduld, Priester«, sagte Senera. »Sie braucht deine Hilfe nicht.«
Ihr ruhiger, freundlicher Tonfall ließ ihn innehalten. Bruder Qaun drehte sich zu Senera um. »Sie stirbt dort unten, aber Euch ist das egal, oder?«
»Mir ist das ganz und gar nicht egal«, entgegnete sie. »Und mach dir keine Sorgen. Ich habe nicht vor, dir oder Dorna etwas anzutun, egal, was dieser Schwachkopf Oreth glaubt.«
»Wieso nicht? Warum behandelt Ihr uns hier anders als in Mereina?«
Sie kniff die Augen zusammen. »Sei dankbar, dass ich euch anders behandle.«
»Ach, mein Füllen. Wie lange ist dir schon klar, dass du auf der falschen Seite stehst?«
Senera fuhr zu Stute Dorna herum. Der alten Frau rannen Tränen übers Gesicht, doch sie reckte grimmig das Kinn vor und hielt Seneras Blick ungerührt stand. Sekunden vergingen.
»Ich stehe nicht auf der falschen Seite«,
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erklärte Senera. Dann machte sie eine unbestimmte Geste, und die Wächter zogen Stute Dorna und Bruder Qaun von ihren Plätzen hoch. »Es hat keinen Sinn, länger hier herumzusitzen und zu warten.«
Die Wächter eskortierten sie zum Kampfplatz.
»Es muss doch etwas geben …«
Stute Dorna schüttelte den Kopf. »Psst.«
Bruder Qaun schloss die Augen und versuchte, seinen Herzschlag zu beruhigen. Den ganzen Rückweg vom Turniergrund lang hatte er über einen Fluchtplan nachgegrübelt. Doch der Schmerz, den er empfand, benebelte seinen Verstand. Hatte Janel Relos Var zu einem Duell herausgefordert? Oder war es umgekehrt gewesen? Hatte Herzog Xun darauf bestanden, um festzustellen, wer schuldig war?
Graf Janel war tot, oder nicht?
Als Bruder Qaun langsamer wurde, zwang ein Wächter ihn mit einem Stoß dazu, sich mit unmittelbareren Problemen zu befassen. Zum Beispiel seiner eigenen Sicherheit. Sie mussten entkommen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie Senera und Sir Oreth lebendig mehr nutzten als tot.
Leider war seine magische Begabung schon immer eher subtil gewesen. Für die Kunst der Zerstörung hatte er nie großes Talent besessen.
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Statt sie zurück zum Stavira-Azhock zu bringen, führten die Wächter sie hinter die
Haupttribünen, in jenen Bereich des Turnierplatzes, der nicht für die Öffentlichkeit zugänglich war.
Natürlich. Senera hatte ja angekündigt, dass sie Janels Leichnam holen wollte.
Die Wächter stellten ein paar Fragen, und jemand wies ihnen den Weg. Bruder Qaun sah zwei Stallburschen, die einen in Turnierflaggen gehüllten Körper trugen.
Senera brach in Tränen aus und winkte den Stallburschen, dass sie warten sollten. Währenddessen spürte Bruder Qaun, wie ein Wächter ihn dicht an sich heranzog und ihm einen Dolch gegen die Rippen drückte. Die Botschaft war eindeutig: Mach keinen Ärger.
Dornas grimmigem Blick nach zu urteilen, durchlebte sie gerade eine ähnliche Erfahrung.
Einer der Stallburschen hielt an. »Äh … kann ich Euch helfen?«
»Mein Graf!«, wimmerte Senera.
Bruder Qaun fiel auf, dass sie genug Karo beherrschte, um das richtige Possessivpronomen zu verwenden.
»Wir, äh …« Die beiden Wächter sahen einander an. »Wir bringen den Leichnam zum Blauen Haus.«
Senera wischte sich schniefend über die Augen. »Ihr Verlobter, Sir Oreth, hat mich gebeten, sie zu holen. Ich kann nicht glauben, dass das wirklich passiert ist.« Sie sammelte sich wieder und richtete sich würdevoll auf. »Wir übernehmen sie.«
Bruder Qaun hatte gehofft, die Stallburschen würden vielleicht Verdacht schöpfen. Doch sie hinterfragten Seneras Anliegen nicht und schienen froh, die Verantwortung los zu sein. Die beiden tauschten einen vielsagenden Blick aus und bedeuteten Seneras Wächtern, dass sie die Leiche haben konnten. Während die einen Bruder Qaun und Stute Dorna weiterhin mit dem Messer in Schach hielten, hoben die anderen die Bahre an.
Beinahe hätte Bruder Qaun die Bogenschützen am Wegesrand übersehen. Sie verhielten sich ganz still, während die Prozession vorüberzog. Eine von ihnen war Ninavis. Sie fing Bruder Qauns Blick auf und nickte ihm kurz zu, bevor sie ihre leise Unterhaltung mit den anderen fortsetzte.
Bruder Qaun unterdrückte eine an seinen Gott gerichtete Dankesgeste. »Was habt Ihr mit uns vor?«, fragte er stattdessen. »Wir stellen keine Bedrohung für Euch dar.«
Senera drehte sich zu ihm um. »Na, na, wir wollen uns doch nicht gegenseitig belügen.
Aber zerbrich dir nicht den Kopf. Ich werde euch nichts tun. Wir machen nur einen kleinen Ausflug. An einen Ort weit weg von hier, wo ich mir keine Sorgen machen muss, dass ihr mit den falschen Leuten sprechen könntet.«
»Wieso habe ich das Gefühl, dass ich für diese kleine Landpartie nicht annähernd warm genug angezogen bin?«, murmelte Dorna.
Seneras Lächeln wurde einen Moment lang breiter.
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Bruder Qaun hielt Ausschau nach den anderen – Sir Baramon, Ninavis und den Roten Speeren. Falls sie in der Nähe waren, verbargen sie sich gut.
Senera versuchte gar nicht erst heimlichzutun. Genau wie Janel beherrschte sie die Kunst, wie eine Königin in ihrem eigenen Reich aufzutreten. Ihre Haltung zeugte von Idorrá
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und signalisierte allen, ihr aus dem Weg zu gehen.
Die meisten hielten sich daran, und bald fand Bruder Qaun sich im Stavira-Lager wieder, genauer gesagt in dem Azhock, wo Senera sich mit Sir Oreth getroffen hatte. Ihre Bewacher drückten Bruder Qaun und Stute Dorna auf Stühle, während die anderen Wächter Graf Janels Leichnam auf einen großen Tisch legten.
Senera entfernte die Turnierflagge vom Leichnam des Grafen. Stute Dorna stieß einen erstickten Laut aus und wandte sich ab.
Bruder Qaun war versucht, ihrem Beispiel zu folgen, doch dann erinnerte er sich an seine Ausbildung. Janel hatte eine hässliche Stichwunde erlitten, die knapp unterhalb ihres Brustbeins den Oberkörper durchdrang. Bei jedem anderen hätte Qaun diese Verletzung als tödlich eingestuft.
Doch dies war Janel. Qaun wusste, dass ihr Stoffwechsel sich so sehr verlangsamte, während sie »schlief«, dass Uneingeweihte sie für tot halten würden. War sie vielleicht noch am Leben?
Die Zeltklappe flog auf, und Sir Oreth trat ein. Er machte einen Schritt in das Innere des Zeltes. Dann blieb er stehen und betrachtete mit starrer Miene Janels Körper.
Senera sah den joratischen Ritter mit gerunzelter Stirn an. »Erzählt mir nicht, dass Ihr sie geliebt habt.«
»Ist sie tot?«
»Ich glaube nicht, dass Ihr die Bedeutung dieser Frage begreift«, antwortete Senera. »Wie auch immer. Wir müssen von hier verschwinden, bevor die falschen Leute die richtigen Fragen stellen.«
Sir Oreth machte eine finstere Miene. »Mein Vater wird das persönlich nehmen.«
»Natürlich wird er das. Die heutigen Ereignisse waren ein Angriff auf seine Ehre. Über das, was man nicht beschützen kann, darf man auch nicht herrschen. Funktioniert das hier nicht so?« Sie lächelte Sir Oreth an.
Sein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Fratze. »Sie sollte nicht sterben.«
»Das Leben ist ungerecht.«
Ein weiterer Mann betrat das Zelt. Er wirkte gehetzt. Er war untersetzt, aber gut gekleidet und sah eher wie ein Kirper als ein Jorater aus.
»Was gibt es, Kovinglass?«, fragte Sir Oreth.
»Euer Vater ist hierher unterwegs«, antwortete der Neuankömmling. »Und der Herzog ist bei ihm.«
»Das hat ja nicht lange gedauert«, warf Senera ein und sah Kovinglass mit geschürzten Lippen an. »Du musst uns von hier wegbringen.«
»Auf keinen Fall. Ich kann nicht einfach …« Plötzlich keuchte er auf, als bekäme er keine Luft mehr. Er verzog das Gesicht vor Schmerzen.
Senera hielt die Hand in seine Richtung erhoben. »Beeil dich, Zauberer.« Obwohl Bruder Qaun keine offensichtlichen Anzeichen von Zauberei ausmachen konnte, wusste er, dass Magie im Spiel sein musste. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Sie ließ die Hand sinken, und Kovinglass sackte in sich zusammen. Er schaffte es gerade noch, stehen zu bleiben, und nickte keuchend.
Sir Oreth musterte unterdessen Bruder Qaun und dann Stute Dorna. Sein Blick war hasserfüllt.
Dorna zwinkerte ihm zu.
»Das werde ich meinem Vater nie erklären können«, sagte Sir Oreth.
»Wenn wir jetzt verschwinden, müsst Ihr das auch gar nicht«, erwiderte Senera. Sie bedachte Kovinglass mit einem unverhohlen drohenden Blick. »Weißt du etwa nicht, was beeil dich
bedeutet?«
»Du sagst mir nicht, was ich tun soll, Frau«, fuhr Kovinglass sie an. Vielleicht bildete er sich ein, Seneras Zauber von gerade eben wäre nur ein Zufallstreffer gewesen. Oder er war einfach zu stolz zuzugeben, dass er ohne Torstein kein Portal öffnen konnte.
Die Soldaten traten auf ihn zu.
Sir Oreth zog sein Schwert. Doch statt sich den Soldaten in den Weg zu stellen, tat er etwas anderes.
Er erstach Dorna.
Die alte Frau sah ihn in stumpfem Entsetzen an, bevor sie von seiner Klinge glitt und auf dem Boden zu einem kleinen, knittrigen Häufchen zusammensank. Bruder Qaun schrie auf, aber niemand beachtete ihn; seine Entrüstung hatte keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge. Er versuchte, zu Stute Dorna zu gelangen, doch die Wächter hielten ihn zurück.
Senera zog die Augenbrauen zusammen. »Wieso?
«, fragte sie Sir Oreth.
»Sie kannte meinen Vater«, stieß er hervor. »Sie hatte etwas gegen ihn in der Hand. Ich glaube, sie hat ihn erpresst. Aber ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall hätte er ihr jede Lüge abgekauft.«
Bruder Qaun versuchte, sich zu konzentrieren und hinter den Schleier zu blicken. Es war ihm unmöglich. Nur mit Mühe unterdrückte er ein Schluchzen. Er sah, wie Dornas Blick erlosch, und anders als bei Janel hatte er keinen Grund zu glauben, dass sie ihren Tod nur vortäuschte.
Senera betrachtete die tote Dorna einen Moment mit undurchdringlicher Miene, dann schnippte sie mit den Fingern. »Negrach, Molasch, ihr tragt die Leiche des Grafen. Pragaos, nimm du den Priester. Kovinglass, warum ist das Tor noch nicht offen?«
Während Kovinglass versuchte, ein magisches Portal zu öffnen, ertönte ein Reißen und ein Stück Zeltplane fiel zu Boden.
Einen Sekundenbruchteil später bohrte sich ein Pfeil in Kovinglass’ Kehle.
Die Soldaten verteilten sich. Ein paar von ihnen trugen Schilde, aber sie hatten keine Ahnung, wer den Schuss abgegeben hatte.
Bruder Qaun, der wusste, wie versiert Ninavis im Umgang mit Pfeil und Bogen war, konnte es sich zwar denken, sah aber keinen Sinn darin, die anderen einzuweihen. Als ein Soldat ihn am Ellbogen packte, tat Qaun, als geriete er ins Stolpern, und riss den Mann im Fallen mit sich zu Boden.
Weitere Pfeile durchschlugen gleichermaßen den Stoff des Azhocks und yorische Körper. Qaun hörte Schreie und Kampfgeräusche.
»Wenn man möchte, dass etwas richtig
gemacht wird …«,
murmelte Senera.
Erschrocken dachte Bruder Qaun, sie würde wieder diesen blauen Rauch erzeugen.
Aber nein. Sie öffnete ihr eigenes Tor und ersetzte damit Kovinglass’ wirkungsloses Portal. Da die Wände des Azhocks mittlerweile vollkommen durchlöchert waren, sahen ihr mehr als nur ein paar Jorater dabei zu. Egal, ob sie davon ausgingen, dass Senera vom Blut des Joras war oder nicht, sie hatte Janels Geschichte soeben deutlich mehr Glaubwürdigkeit verliehen.
Ein Soldat merkte, wie Bruder Qaun sich erhob, und schlug mit dem Schwert nach ihm. Der Hieb war so lässig geführt, als schlüge er nach einem Insekt. Qaun hörte, wie sein Agolé zerriss. Die Klinge schnitt in seine Haut. Er kippte unter entsetzlichen Schmerzen nach hinten um und spürte, dass er blutete. Ein weiterer Soldat ergriff ihn und warf ihn sich über die Schulter.
Senera winkte ihre Männer durch das Portal, darunter diejenigen, die Janels Leiche trugen. »Und?«, fragte sie Sir Oreth. »Kommt Ihr mit oder nicht?«
Sir Oreth schaute sie finster an, doch als vor dem Zelt ein Schrei erklang, machte er einen Satz durch das Portal. Die Soldaten folgten ihm mit Bruder Qaun. Zuletzt ging auch Senera mit ihrem Welpen hindurch, dann schloss sich das Tor hinter ihr.
Als der Markreev, der Herzog und die Bogenschützen um Ninavis und Sir Baramon das Zelt betraten, war es leer.
Abgesehen von den Leichen mehrerer Wachen, des Torwächters und einer alten Frau.
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