32  An der Küste
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Kihrin sich gefragt hatte, ob er es allein mit Gadrith aufnehmen könnte (die Antwort lautet: nein)
Kihrin starrte Dorna an. »Was?«, fragte sie. »Bist du etwa noch nie tot gewesen?« Sie hob die Augenbrauen.
Kihrin dachte nach. »Damit … hast du natürlich recht.« Sein eigener Tod hatte sich erst vor wenigen Tagen ereignet, auch wenn es ihm wesentlich länger her zu sein schien. »Manchmal vergesse ich, wie leicht das geht, wenn man die richtigen Leute kennt.«
»Alles geht leichter, wenn man die richtigen Leute kennt.«
»Mich würde interessieren«, sagte Kihrin, »was du gegen den Markreev von Stavira in der Hand hast.«
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Janel.
»Es ist längst nicht so zwielichtig, wie dieser Balg Oreth zu glauben scheint«, erwiderte Dorna. »In meiner Jugend habe ich an Turnieren teilgenommen. Aroth war von meinen Auftritten begeistert … Da hat eins zum anderen geführt.« 173 Sie legte einen Arm um Stern und zerzauste ihm die Haare.
»Hör auf damit, Mama«, sagte Stern.
Dorna ließ grinsend von ihm ab. »Ich bereue nichts. Immerhin hat mir diese Verbindung Palomarn eingebracht. Nach ein paar Jahren ging die Sache jedoch auseinander. Später habe ich beschlossen, dass ich als Frau glücklicher bin, und Aroth hat beschlossen, dass er lieber ein Mann sein möchte. Für mich ist das in Ordnung, außer dass ich immer noch mit Stuten galoppiere und er keine mehr ist.« Sie zuckte die Achseln. »Es hätte ohnehin nie funktioniert.«
Kihrin schaute Stern fragend an. »Palomarn. In Wirklichkeit heißt du Palomarn?«
Der Hüne zuckte die Achseln. »Ich mag Stern.«
Janel zwinkerte Dorna vielsagend zu. »Du hast ein Kind mit Aroth Malkoessian?«
»He«, sagte Stern. »Kein Kind.«
»Dann ist dein Sohn also …« Kihrin konnte sich kaum vorstellen, dass Stern ganz gewöhnlich geboren worden war. Er wirkte eher wie etwas, das plötzlich zu existieren angefangen hatte. Stern als Kind? Als Säugling? Nein. »Wieso bin ich dann auf dem Sklavenmarkt des Oktagon über deinen Sohn gestolpert?«
Dorna sah Stern missbilligend an. »Was soll das heißen? Ein Sklave?«
»Nicht meine Schuld«, erwiderte Stern. »Leute, die Pferde schlecht behandeln, dürfen sie nicht behalten.«
Dorna schlug Stern auf die Schulter. »Nein, ich meine, dass du dich hast fangen lassen. Von mir hast du das nicht.«
Stern drehte sich grinsend zu Kihrin um. »Ich hatte nicht geplant, dass du mich kaufst. Reines Glück, würde ich sagen.«
»Richtig, Glück.« Kihrin konnte es nicht einmal ausschließen. Von Zeit zu Zeit tat ihm die Glücksgöttin einen Gefallen und holte selten davor seine Einwilligung ein. 174
Janel sah Qaun an. »Würde es dir etwas ausmachen, gleich fortzufahren? Ich habe noch gar nicht gehört, was unmittelbar nach unserer Entführung passiert ist.«
Qaun schaute sie lange an. »Was?« Dann schlug er seufzend sein Buch auf. »Du wirst schon sehen.«
Qauns Schilderung. Seneras Hütte, an einem unbekannten Ort.
Der Wächter trug Bruder Qaun durch das Tor und setzte ihn auf einer Holzbank ab. »Der hier ist verletzt, Oberst.«
Qaun zupfte zähneknirschend an dem nassen roten Fleck auf seiner Robe. Die Wunde blutete immer noch.
Außerdem tat sie weh. Er war oft gewarnt worden, dass es schwer sei, sich selbst zu heilen, weil Schmerzen die Konzentration schwächten. Doch bislang hatte er dieses Phänomen noch nicht am eigenen Leib erfahren. Wenn er ehrlich war, hatte er immer geglaubt, bei ihm wäre das anders und er könnte körperliche Schmerzen mit reiner Willenskraft ausblenden.
»Legt die Leiche des Grafen auf diesen Tisch. Auf den Rücken bitte. Molasch, hol mir meine Tasche. Die aus rotem Leder. Sie hängt neben der Tür.« Senera setzte den Rothundwelpen ab und entfernte sein Halsband. Das Tierchen lief schnurstracks zu einem Samtkissen neben dem Kamin, das ihm als Bett diente, und drehte sich dreimal im Kreis, bevor es sich hinlegte und zufrieden mit dem Schwanz auf den Boden klopfte. 175
Sir Oreth sah sich einen Moment lang blinzelnd um, dann ging er zu Senera hinüber. »Bringt mich zurück. Ich muss mit meinem Vater sprechen.«
Sie ignorierte ihn und beugte sich zu Bruder Qaun hinunter. »Wie schlimm ist es?«
Qaun zuckte zusammen. »Könnte schlimmer sein. Haut und Muskelfasern. Der Brustkorb hat seine Arbeit getan und meine inneren Organe geschützt. Das größte Problem ist der Blutverlust. Wenn ich mich nur … konzentrieren könnte … dann …«
»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du zu viel redest?« Senera lächelte ihn an. »Kein Wunder, dass du keine Erleuchtung erlangst.«
Er sah sie verständnislos an. »Was habt Ihr gesagt?« Er fühlte, wie ihm schwer ums Herz wurde. Mach, dass sie keine Anhängerin des Wegs von Vishai ist. Lass sie bitte nicht behaupten, dass sie meinen Glauben teilt. 176
Sie beantwortete seine Frage nicht, sondern legte nur wortlos seine Brustwunde frei.
»Hört Ihr mir überhaupt zu, Frau? Ich habe gesagt, dass ich zurückmuss, jetzt gleich.« Oreths Wut grenzte an Panik. Seine Hände begannen zu zittern.
Senera legte eine Hand auf Bruder Qauns Brust. »Pragaos, pass bitte auf Sir Oreth auf. Wenn er irgendwelche bedrohlichen Bewegungen macht, tötest du ihn.«
»Ja, Oberst.« Pragaos zückte sein Schwert und bezog neben Sir Oreth Stellung.
»Was?« Oreth schnitt eine Grimasse, während er den Mann betrachtete. »Stillgestanden. Ich gebe dir die Befehle.«
Die Mundwinkel des Soldaten zuckten. »Wenn Ihr Euch da mal nicht irrt.«
»Warum schenkt Ihr Euch nicht etwas zu trinken ein, Oreth«, sagte Senera. »Ihr zittert ja wie ein …« Sie unterbrach sich und sah Sir Oreth mit zusammengekniffenen Augen an. »Ihr habt zum ersten Mal jemanden getötet.«
Oreth machte große Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Was? Macht Euch nicht lächerlich. Natürlich habe ich schon mal jemanden getötet. Ich hätte nur nicht geglaubt …« Er ging zur Bank hinüber und setzte sich hin. »Ich hätte nicht geglaubt …«
Einer der Soldaten ging zur Theke und schenkte ein Glas Brandy ein. Dann kehrte er zu Sir Oreth zurück und reichte es ihm.
»Ich muss mit meinem Vater sprechen«, flüsterte Oreth, bevor er den Brandy viel zu schnell hinunterstürzte. »Ich brauche meinen Vater.«
»Weshalb helft Ihr mir?« Bruder Qaun riss den Blick von Sir Oreth los und sah Senera an.
»Es wäre doch eine Schande, einen fähigen Heiler vor die Hunde gehen zu lassen. Man weiß nie, wann man einen braucht. Jetzt hör auf zu sprechen. Ich muss mich konzentrieren.«
Letzteres verstand Bruder Qaun nur allzu gut. Er lehnte sich zurück und versuchte, nicht an seine Schmerzen zu denken, obwohl die Wunde mit jeder verstreichenden Sekunde weniger wehtat. Zumindest körperlich.
Dorna. Verdammt, Dorna. Es ging alles so schnell …
Da er die Szene nicht immer wieder in Gedanken durchspielen wollte, beschloss er, sich lieber im Raum umzusehen, um seine Umgebung zu erkunden.
Es war immer noch Nacht, doch wenn die Sonne in Jorat unterging, war es an der Westküste von Quur bereits seit mehreren Stunden dunkel. Magische Lichter in Glaslaternen erhellten den Raum. Von den Deckenbalken hingen ordentlich geschnürte Kräuterbündel herab. In die Balken waren okkulte Formeln eingebrannt. Ein Feuer loderte in einem Ofen, der groß genug war, um als Kochstelle oder Krematorium zu dienen. Links und rechts eines Apothekenschranks, der mit Arzneipulvern und medizinischen Gerätschaften bestückt war, standen Regale voller Flaschen. In zwei Wänden waren Fenster, in einer dritten zwei Türen eingelassen. An der vierten stapelte sich über die gesamte Breite vom Boden bis zur Decke eine beeindruckende Ansammlung von Büchern. Der ganze Raum wirkte wie ein unordentlicher und überladener Schrein des Obskuren.
Der Blick durch die Fenster verriet nichts; draußen war es stockfinster.
Doch Qaun konnte Mutmaßungen anstellen. Die Hütte war überirdisch gebaut, also keine Kellerbehausung. Außerdem handelte es sich eindeutig nicht um ein Azhock, womit die beiden in Jorat vorherrschenden Gebäudestile ausgeschlossen waren. Die Temperatur war so mild, dass auch Yor als Möglichkeit ausschied. Ebenso wenig passten die Lehmstampfbauweise, die gerade Linienführung und der Steinboden zu einem marakorischen Stelzenhaus.
Trotz seiner Größe wirkte der Raum gemütlich. Bis auf die Fenster und Türen waren sämtliche verfügbaren Wandflächen mit Büchern und Regalen voller merkwürdigem Klimperkram bedeckt. Zudem waren Zeichnungen an die Balken geheftet: anatomische Darstellungen, Landschaften und architektonische Skizzen, die alle vom selben Künstler zu stammen schienen.
In der Ferne hörte Bruder Qaun Brandungsrauschen. Da Senera imstande war, Tore zu öffnen, konnten sie überall sein, aber er tippte auf Kazivar – vielleicht sogar Eamithon.
Vorausgesetzt, sie befanden sich noch auf demselben Kontinent. 177
Eine kühle Energie breitete sich auf seiner Haut aus. Er senkte den Blick und sah, dass Senera die Wunde schloss und versiegelte.
»Danke sehr«, sagte er, weil alles andere unhöflich gewesen wäre. »Die restliche Heilung übernehme ich.« Wenn er das tat, würde sie anschließend hoffentlich vergessen, ihn erneut zu fesseln, was ihm die Flucht erleichtern würde.
»Gut.« Sie stand auf und ging zu ihren Männern zurück. »Wie viele Verluste haben wir zu beklagen?«
»Vier«, erwiderte einer von ihnen. »Zwei sind während des Kampfes gestorben, die anderen beiden wären ansonsten gefangen genommen worden.«
Senera wirkte bestürzt. »Danke.« Der Soldat nickte und kehrte mit undurchdringlicher Miene zu den übrigen zurück.
Sir Oreth knallte sein Getränk auf den Tisch und erhob sich. »Befehlt Euren Männern, unverzüglich den Raum zu verlassen. Ihr und ich, wir müssen unter vier Augen sprechen.«
Der Truppführer hob eine Braue. Die anderen Männer gingen in Habachtstellung. Mehrere Hände näherten sich den Schwertgriffen.
»Wenn Ihr es wünscht«, sagte Senera.
»Oberst …« Der Truppführer schien nicht einverstanden.
Bruder Qaun setzte sich mühevoll auf. Er merkte, dass er dem Truppführer beipflichtete, auch wenn die Anwesenden ihn bereuen ließen, dass er ein Gelübde der Gewaltfreiheit abgelegt hatte.
»Schon gut«, sagte Senera. »Ich nehme an, der Priester kann bleiben? Er ist im Moment nicht transportfähig.«
Sir Oreth warf einen kurzen Blick auf Bruder Qaun. »Der ist mir egal.«
Ich sollte dir aber nicht egal sein, dachte Bruder Qaun. Denn wenn du mir zu nahe kommst, werde ich dir mit Freuden …
Nein, ermahnte er sich. Das widerspricht meinem Glauben.
Er konzentrierte sich darauf, eventuelle Verletzungen zu heilen, die Senera übersehen haben mochte.
Die Soldaten zögerten.
»Geht«, sagte Senera.
Der Anführer verneigte sich vor ihr und verließ den Raum. Die anderen Männer folgten ihm und warfen Sir Oreth auf dem Weg nach draußen finstere Blicke zu.
Als alle weg waren, verpasste Sir Oreth Senera eine Ohrfeige.
Der Schlag schleuderte sie ein Stück nach hinten, doch sie hob nur eine Hand an die Wange und schlug die Augen nieder. 178
Aber Bruder Qaun merkte, dass ihre demütige Reaktion nur eine List war. Bist du so dumm, Oreth? Magierinnen, die im Rang eines Obersten stehen, ganz egal in welcher Armee, gehorchen dir nicht, bloß weil du sie schlägst.
»Ihr vergesst Euch, Frau. Ich habe keine Ahnung, welche Lügen Ihr diesen Männern erzählt habt, aber Relos Var hat Euch geschickt, damit Ihr mir helft, und nicht, damit Ihr irgend so eine verdammte Stute anschmachtet, die gerne einen Hengst aus sich machen würde. Ja, ich weiß, dass Janel nicht tot ist. Ihr könnt also mit dieser Charade aufhören. Sie wirkt bloß tot, wenn sie schläft. Das liegt an Xaltoraths Fluch. Also heilt sie. Ich brauche sie lebendig, damit sie mir ihren Titel abtreten kann.«
Die Frau mit der auffallend weißen Haut zwinkerte einmal, als Sir Oreth Xaltorath erwähnte. Dann blickte sie an die Decke. »Interessant«, murmelte sie. »Es kann nicht viele Jorater geben, die von Xaltorath gehört haben. Woher wisst Ihr von ihr?«
»Ich habe keine Zeit, Eure unsinnigen Fragen zu beantworten.« Er zog sein Schwert. »Heilt sie und macht das Tor für mich wieder auf.«
»Senera …«, warnte Bruder Qaun.
Der Welpe am Kamin ging in Kauerstellung. Er richtete den Blick auf Sir Oreth und knurrte ihn an.
»Es reicht.« Senera deutete mit zwei gekrümmten Fingern auf Sir Oreth.
Das Schwert verdrehte sich in seiner Hand, das Heft umschloss seine Finger wie eiserne Fesseln. Die Klinge bog sich indessen von ihm weg und richtete die Spitze auf ihn wie eine angriffsbereite Schlange.
Sir Oreth versuchte, die Waffe fallen zu lassen, und merkte, dass es ihm nicht möglich war. »Hört auf damit! Was tut Ihr …?« Die Schwertspitze wand sich und war nur noch um Haaresbreite von seiner Kehle entfernt. Sir Oreth erstarrte.
»Was ich tue?« Senera lachte leise. »Ich dachte, das wäre offensichtlich. Ich kümmere mich um Euch. Und das hier ist nicht eines von Euren Provinzturnieren, mein hübscher Trottel. Bei diesen Wettkämpfen haben wir es mit so mächtigen Feinden zu tun, dass Ihr noch nicht einmal ansatzweise begreift, was auf dem Spiel steht. Deswegen hat Relos Var uns befohlen, niemanden zu töten. Hätten wir die alte Frau mitgenommen, wäre sie nicht in der Lage gewesen, unsere Geheimnisse auszuplaudern. Aber tot? Wenn sie tot ist, nützt sie unseren Feinden.«
»Was Ihr sagt, ergibt keinen Sinn …« Sir Oreth sah sie nicht an, sondern hielt den Blick weiter auf sein Schwert gerichtet.
Senera kniff die Augen zusammen. »Was glaubt Ihr, wer Ihr seid?« Sie ging zum Kamin und beugte sich zu dem Rothundwelpen hinunter. Als sie ihn streichelte, begann er, wieder mit dem Schwanz zu wedeln.
»Was meint Ihr damit? Ich bin Sir Oreth Malkoessian …«
Sie verdrehte die Augen. »Das bedeutet gar nichts. Schall und Rauch. Euer Titel und die Position in der Thronfolge können Euch von einem Moment auf den anderen abhandenkommen. Wer seid Ihr?« Ohne auf seine Antwort zu warten, drehte sie sich zu Bruder Qaun um. »Versuchen wir es noch einmal. Wer bist du?«
»Ich …« Qaun verzog das Gesicht. »Ich bin ein Priester von …« Senera schnitt ihm mit einer wütenden Geste das Wort ab. »Ich habe Besseres von dir erwartet. Das ist ein Beruf . Wenn ich dich jetzt erschlage, Priester, hörst du dann auf zu existieren?« Sie drehte sich zu Sir Oreth zurück. »Glaubt Ihr etwa, Ihr seid nicht mehr als Eure körperliche Gestalt? Hübsch und schnell? Jung und dumm?«
»He!« Sir Oreth zuckte zusammen, als ihn das Schwert daran erinnerte, dass er sich besser nicht bewegen sollte.
»Unsere Seelen«, antwortete Bruder Qaun. »Wir sind unsere Seelen.«
»Richtig«, stimmte Sir Oreth zu. »Wenn ich sterbe, wird meine Seele in das Land des Friedens eingehen.«
»Ihr solltet nicht davon ausgehen, dass Thaena Euch so gerne hat. Aber ich gestehe Euch zu, dass Ihr wenigstens ins Nachleben überwechseln werdet.« Sie ging zu Janels Leichnam hinüber. »Der Körper, in dem Ihr steckt, seid nicht Ihr. Er ist nicht Eure Identität. Vielmehr ist er Euer Gefängnis. Euer Körper hält Euch auf dieser Seite der Zwillingswelten fest, eingesperrt, kontrollierbar. Solange diese alte Frau noch in ihrem Körper war, gesund und am Leben, hatten wir sie unter Kontrolle. Aber jetzt, nachdem Ihr sie getötet habt?« Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Während wir hier miteinander sprechen, erzählt Dorna Thaena gerade alles, was sie weiß. Und Thaena wird es ihren Leuten weitersagen. Dann wird die Göttin des Todes es Eurem Vater, dem Markreev, berichten, wenn er das nächste Mal an einem von Thaenas Schreinen ein Begräbnisopfer darbringt. Sagt mir, welche Sorte Mensch ist der Markreev von Stavira? Wird er lügen, um Euch zu beschützen? Oder wird er dem Herzog die Wahrheit sagen: dass sein Sohn ein Verräter und zu einem Saelen geworden ist? Ihr müsst eine große Enttäuschung für ihn sein.«
Sir Oreth war so entsetzt über ihre Frage, dass er nicht einmal mehr auf die lauernde Schwertspitze achtete. 179
»Wartet«, sagte Bruder Qaun. »Ihr sprecht, als wäre Thaena die Feindin. Thaena persönlich.«
Senera zuckte die Achseln. »Thaena ist die Feindin. Sie alle sind Feinde. Khored, Taja, Galava – der ganze Haufen. Man hat dir dein ganzes Leben lang Lügen erzählt. Die Acht Unsterblichen sind nicht unsere Beschützer. Sie sind unsere Gefängniswärter, unsere Herrscher. Sie bilden die Spitze eines Systems, das von der Versklavung der Menschheit profitiert. Wieso sollten sie uns jemals befreien?« Sie nahm eine Schere und durchschnitt die Lederbänder, mit denen Janels verzierte schwarze Rüstung an ihrem Körper befestigt war.
»Das ist nicht …« Doch bevor Bruder Qaun protestieren konnte, erschien ein gleißend helles Licht vor einem Bücherregal und verfestigte sich zu einem vertrauten Strudel mit geometrischen Formen darin, dessen Mitte zu einer Art Spiegel wurde.
Relos Var trat hindurch.
Der Zauberer schloss das Tor hinter sich und hob eine Augenbraue, als er die silberne, um Sir Oreth gewickelte Schwertschlange bemerkte. »Wenigstens hatte einer von uns Spaß.«
Er ignorierte Bruder Qaun genauso wie Janels aufgebahrte Leiche und ging zu einem Beistelltisch, wo er sich ein Getränk einschenkte. »Ich würde ja fragen, wie es gelaufen ist, aber ich habe gerade zehn Minuten lang mit dem völlig hysterischen Herzog Xun über den jüngsten Sohn des Markreev von Stavira gesprochen. Anscheinend hat unser junger Ritter soeben die ehemalige Gemahlin des Markreev getötet. Oder sollte ich sagen, den ehemaligen Gemahl? Ich weiß nicht, ob das wichtig ist.«
Sir Oreth schnappte hektisch nach Luft, doch weder Relos Var noch Senera achteten auf ihn.
Bruder Qaun hatte Relos Var noch nie aus der Nähe gesehen. Trotzdem kam er ihm irgendwie bekannt vor. Er überlegte, woher dieses Gefühl kam.
Relos Var warf Senera einen entschuldigenden Blick zu. »Leider musste ich dem Herzog versichern, dass du und ich nichts miteinander zu tun haben. Dafür entschuldige ich mich aufrichtig.«
Sie winkte ab und machte sich wieder an ihre Arbeit. »Schon gut. Die Turniere langweilen mich sowieso allmählich.«
»Vater …« Sir Oreth versagte die Stimme.
Relos Var sah ihn gereizt an. »Was machen wir mit dem da? Was Tolamer anbelangt, ist er für uns nutzlos. Der Markreev von Stavira wird nun seinen Kredit zurückverlangen. Da der junge Oreth hier nicht zahlen kann, wird der Kanton an seinen Vater zurückfallen. Ich bezweifle, dass wir Aroth dazu überreden können, stattdessen mit uns zusammenzuarbeiten.«
»Relos, wir hatten eine Vereinbarung«, unterbrach Sir Oreth. »Ich habe Euch geholfen! Ich kann alles erklären. Ich wollte … Ich wollte Dorna nicht töten. Ich habe … bloß die Geduld verloren.«
»Nicht die Geduld«, stieß Bruder Qaun hervor, »sondern den Mut. Ihr habt sie erst getötet, als Ihr erfahren habt, dass die Ankunft Eures Vaters unmittelbar bevorstand.«
»Sei’s drum. Sagen wir einfach, es war eine schlechte Entscheidung nach der anderen. Und das Beste daran ist: Dorna ist nicht einmal tot.« Relos kehrte mit seinem Getränk zurück und setzte sich auf einen Stuhl. »Nicht einmal das habt Ihr geschafft. Ehrlich, Oreth, wofür seid Ihr eigentlich zu gebrauchen?«
Bruder Qaun blinzelte. »Aber ich habe gesehen, wie sie …«
Sir Oreth wirkte genauso überrascht wie er. »Ihr habt doch gerade gesagt, ich hätte sie ermordet.«
Relos Var zuckte die Achseln. »Oh, sie ist gestorben. Absolut. Aber ist sie auch tot geblieben? Kein bisschen.« Er warf Senera einen vielsagenden Blick zu. »Sie ist ein Engel. Ich bin mir sicher, dass Thaena Dornas Seele noch in diesem Moment in ihren Körper zurückschickt.«
Senera hob eine Augenbraue. »Ein Engel? Meint Ihr das ernst? Einer von Thaenas Engeln? Ich hatte immer den Eindruck, dass einiges in dieser alten Frau steckt, aber für eine von Thaenas erwählten Helferinnen hätte ich sie nie gehalten.«
»Aber nein. Sie ist Tyas Dienerin.«
Senera kehrte Janel den Rücken zu. »Das ergibt mehr Sinn.«
Bruder Qaun beugte sich vor. »Einen Moment. Dorna dient der Göttin der Magie?«
Relos Var sah ihn einen Wimpernschlag lang an, bevor er sich wieder Senera zuwandte. »Was machen wir denn jetzt mit unserem gut aussehenden joratischen Ritter hier? Wollen wir ihn gaeschen?«
Sir Oreth riss die Augen auf.
»Das könnten wir tun«, entgegnete Senera. »Aber wozu? Er würde sich doch sofort in einer Gaesch-Schleife umbringen, wenn wir ihn das erste Mal losschicken, um Feuerholz zu holen.« Sie zog den kleinen Tintenstein aus ihrer Misha und begann, ein wenig Tinte anzumischen.
Hätte Bruder Qaun nicht gewusst, dass sie den stabförmigen Tintenstein auf einem Eckstein wetzte, wäre ihm das Schleifgeräusch nur halb so unheimlich vorgekommen. Dass sie dieses Artefakt wie ein Schreibinstrument benutzte, war seiner Meinung nach ein Sakrileg.
»Ihr könnt mich nicht gaeschen!«, protestierte Sir Oreth.
»Seid still«, sagte Senera, »oder ich bringe Euch zum Schweigen, und das wird Euch nicht gefallen.« Sie nahm ihre Unterhaltung mit Relos Var wieder auf. »Wir könnten ihn als nettes Friedensangebot zu Gadrith schicken.« 180
Relos Var rümpfte die Nase. »Lieber nicht. Gadrith bevorzugt ohnehin Zauberer.« Er neigte den Kopf und sah zu Sir Oreth hinüber. »Wie gut ist Eure Singstimme?«
»Was?« Sir Oreth sah verwirrt aus. »Ich … äh … es tut mir leid. Ich kann keinen Ton halten. Ich könnte aber versuchen, es zu lernen …«
Senera schauderte. »Oh, und ich dachte, mein Vorschlag wäre grausam. Ihr seid wirklich der Schlimmste, Relos.«
Relos Var zuckte die Achseln. »Ich weiß ja nicht einmal, wo Sharanakal zurzeit schläft.«
»Sollen wir ihn nicht einfach zu Herzog Kaens Problem machen?« Senera machte große Augen und sah damit wie die personifizierte Unschuld aus. 181
Relos Var begann zu lachen. »Ja, schön. Kaens Problem. Allein der Ausdruck auf Kaens Gesicht wäre es mir wert. Das Letzte, was er will, ist noch ein Welpe für seine Sammlung.« Er trank sein Glas leer und stand auf. »Ich werde einen langen Spaziergang am Strand machen. Ich bin bald wieder zurück.«
Senera lächelte. »Wollt Ihr Eurer Vané-Freundin Hallo sagen?«
Relos Var sah sie erstaunt an. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was du damit meinst.«
»Ja, ja.« Senera zog die Nase kraus. »Umarmt sie für mich.«
Er lachte leise. »Sie mag Umarmungen nicht besonders. Aber ich werde Ihrer Majestät deine Grüße ausrichten.«
»Hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich in Eurer Abwesenheit Danorak gaesche?«, fragte Senera. Genauso gut hätte sie sich erkundigen können, ob er einen Einwand gegen eine weitere Kanne Tee hatte.
»Nur zu.«
Sobald Relos Var gegangen war, widmete Senera sich wieder der Tintenherstellung.
Sir Oreth leckte sich über die Lippen. »Oberst?«
Senera hob verärgert den Blick.
Er bewegte sich vorsichtig, um sich nicht auf dem immer noch belebten Schwert aufzuspießen. »Ich möchte mich entschuldigen.«
Senera legte den Tintenstein weg und drehte sich mit nach oben gezogenen Augenbrauen zu ihm um.
»Es tut mir leid«, begann Sir Oreth. »Es war falsch von mir, Euch so schlecht zu behandeln. Es war alles mein Fehler, und ich möchte betonen, wie sehr ich das bedaure. Könnte ich bitte …?« Er sah das Schwert an. »Ich kann sehr hilfreich sein. Versprochen.«
Seneras Mundwinkel zuckten. »Ich sollte öfter lebende Schwerter auf Männer hetzen.«
»Man ist entweder Idorrá oder Thudajé«, warf Bruder Qaun ein.
Senera musste ihn gehört haben, denn sie kicherte. Sie beugte sich vor und musterte Sir Oreth. »Ich frage mich, ob Ihr aufrichtig seid. Nun, das werden wir ja sehen. Aber wenn Ihr nicht ehrlich zu mir seid, kann ich Euch ein Schicksal aufbürden, vor dem Dämonen die Augen verschließen würden. Das muss Euch klar sein.«
»Ich glaube Euch.«
»Gut.« Senera machte eine knappe Geste, und das Schwert in Sir Oreths Hand wurde wieder gerade. Auch das Heft nahm wieder seine ursprüngliche Form an. Er ließ die Waffe sofort fallen.
»Gibt es irgendetwas, bei dem ich Euch helfen kann?«, erkundigte sich Sir Oreth voll beflissener Dienstfertigkeit.
»Ich bin sicher, Bruder Qaun hätte gerne einen Tee«, erwiderte Senera. »Ich an sich auch, aber ich werde dafür ein bisschen zu beschäftigt sein.« Sie deutete auf Janel.
»Graf Janel zu gaeschen ist eine furchtbare Idee«, sagte Bruder Qaun. »Kann ich Euch das vielleicht ausreden?«
Sie lächelte. »Nein.«
»Das habe ich mir schon gedacht.« Ihm wurde übel. Bruder Qaun hatte noch nie gesehen, wie jemand gegaescht wurde, aber Vater Zajhera hatte ihm davon erzählt. Er wusste genug, um zu verstehen, wie blasphemisch dieses Ritual war. Für jemanden wie Janel …
Es würde sie umbringen. Er bezweifelte, dass sie Gaesch-Befehlen gehorchen würde, selbst wenn es sie das Leben kostete.
Als Sir Oreth zum Feuer ging, um den Kessel aufzusetzen, knurrte der Welpe ihn an und schien nicht gewillt, ihn näher heranzulassen.
»Platz, Rebellin«, sagte Senera. »Leg dich auf dein Kissen.«
Der Rothund musterte Sir Oreth mit vorwurfsvollem Blick und ging dann in einem Bogen zu seinem Samtkissen zurück.
»Der Hund heißt Rebellin?«, fragte Sir Oreth.
»Mhm. Psst. Seid still jetzt.« Senera musterte Janels Körper. Sie runzelte die Stirn.
Bruder Qaun veränderte seine Sitzposition und zuckte zusammen, als sich dabei die Verletzungen meldeten, um die er sich noch nicht gekümmert hatte. Er konnte sich vorstellen, was Senera vorhatte: Vor dem Gaesch-Ritual wollte sie Janels Körper heilen. Er ahnte auch, weshalb es nicht funktionierte. Aus dem gleichen Grund, warum es bei seinem Versuch ein paar Wochen zuvor nicht geklappt hatte.
Wenn er nichts unternahm …
Janel schien stabil. Bruder Qaun wusste zwar nicht, ob das an einem Zauberspruch von Relos Var oder an Janels eigener Magie lag, doch so oder so hörte der Zauber irgendwann auf zu wirken und Janel würde endgültig sterben.
Wenn Senera sie heilte, stünde ihr ein schlimmeres Schicksal bevor. Entführt und nach Yor verschleppt zu werden, war schon schrecklich genug: Dieses Reich war nicht gerade berühmt dafür, gut mit Frauen umzugehen. Doch wenn Relos Var und Senera planten, Janel gegaescht dorthin zu bringen …
Qaun dachte über Seneras Bemerkung nach, dass der Tod eine Flucht wäre. Thaena würde Janel wiederauferstehen lassen, oder nicht? Vielleicht, vielleicht. Andererseits bestand die Gefahr, dass nicht Thaena, sondern Xaltorath Janels Seele in die Finger bekam. Tatsächlich würde Qaun darauf wetten, dass Xaltorath längst entsprechende Vorbereitungen getroffen hatte. Welches Schicksal wäre schlimmer?
Es fiel ihm nicht schwer, diese Frage zu beantworten.
»Ihr werdet Hilfe brauchen«, merkte Qaun an.
Senera hob den Blick.
»Wegen ihrer ungerichteten Schutzzauber kann man sie nur schwer heilen«, erklärte er. »Jemand muss Euch dabei helfen.«
»Wenn du irgendetwas versuchst …«
»Ich weiß, ich weiß. Wenn ich irgendetwas versuche, werdet Ihr dafür sorgen, dass ich mir wünschte, ich wäre nie geboren worden.«
»Ich hätte es anders ausgedrückt, aber im Grunde stimmt es.« Senera winkte ihn zu sich. »Hol dir einen Stuhl, und dann legen wir los.«
Die Arbeit dauerte ungefähr dreißig Minuten. Als sie fertig waren, hatten sie zwei Tassen Tee und einen komplett gesunden joratischen Grafen vor sich. Bruder Qaun wünschte sich, ihm wäre wohler damit. Janel das Leben zu retten, hatte sich wie Verrat angefühlt.
»Setz dich wieder hin«, sagte Senera. »Für das, was jetzt kommt, brauche ich dich nicht. Außerdem ist das der Teil, bei dem du aufgrund deiner moralischen Überlegenheit wahrscheinlich etwas Dummes versuchen wirst. Es ist also vielleicht besser, dich gar nicht erst in Versuchung zu führen. Sir Oreth, wenn Ihr Euch nützlich machen wollt, dann habt ein Auge auf den Priester. Wahrscheinlich müsst Ihr dazu keine Gewalt anwenden, aber behaltet sicherheitshalber das Schwert in der Nähe. Ach, und es versteht sich zwar von selbst, aber tötet ihn nicht . Verstanden?«
Der Jorater nickte und bückte sich, um sein Schwert aufzuheben. Er hielt die Waffe ganz vorsichtig, als wäre sie gerade erst aus dem Schmiedeofen geholt worden.
Bruder Qaun nahm wieder auf der Holzbank Platz und tastete sich nach noch verbliebenen Hämatomen ab. Doch seine professionelle Neugier übermannte ihn, und er sah zu, wie Senera Zeichen auf Janels Hände, ihr Gesicht und die Brust malte.
»Ihr wollt doch nicht …?« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Wen beschwören die?«
Senera lachte leise. »Niemanden.«
»Aber ich verstehe das nicht.«
»Das überrascht mich nicht.«
Sir Oreth blickte zwischen den beiden hin und her. »Augenblick mal, warum beschwören wir einen Dämon?«
Bruder Qaun wandte sich zu ihm um. »Weil man das tun muss, wenn man jemanden gaeschen will.«
»Oh.« Sir Oreth zögerte. »Also … ich meine, ich habe mich immer schon gefragt … Was ist ein Gaesch überhaupt? Ich weiß, dass es etwas ist, was man mit Sklaven macht …«
»Hinreißend«, sagte Senera. »Aber tatsächlich hat Bruder Qaun unrecht. Man muss keinen Dämon beschwören, um jemanden zu gaeschen. Es ist nur leichter, wenn man es einem Dämon überlässt.«
»Und was ist ein Gaesch?«, hakte Sir Oreth nach.
Senera verdrehte die Augen. »Es ist so, wie Ihr es gehört habt. Damit kann man eine Person kontrollieren. Aber es klappt nicht immer.«
»Man reißt jemandem ein Stück seiner Seele heraus«, erläuterte Bruder Qaun. »Und verwendet es dazu, dieser Person unerträgliche Schmerzen zuzufügen, wenn sie Euch nicht gehorcht. Die Schmerzen sind so stark, dass die Gegaeschten oft an ihnen sterben.« Er bedachte Sir Oreth mit einem vielsagenden Blick. »Wie Ihr Euch vielleicht erinnert, haben die beiden darüber gesprochen, dasselbe auch mit Euch zu tun.«
Sir Oreth sah aus, als wäre ihm mulmig zumute, aber es gelang ihm, seine Nervosität abzuschütteln. »Dann beschwören wir also einen Dämon?«
Bruder Qaun hätte eigentlich erwartet, dass Sir Oreth diese Aussicht in Angst versetzen oder zumindest abstoßen würde.
Doch stattdessen klang er regelrecht begeistert. 182
Senera schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch, dass wir keinen Dämon beschwören. Wir benutzen einen Eckstein.«
Bruder Qaun richtete sich auf. »Welchen?«
»Den Schellenstein.«
»Ihr habt den Schellenstein?«
»Nein, aber das ist irrelevant.« Während Senera sprach, bemalte sie weiter Janels Körper. Bruder Qaun war nicht klar, welchem Zweck die Zeichen dienten, aber vielleicht waren sie nötig, um die Macht des Ecksteins zu beschwören.
Schließlich trat sie einen Schritt zurück und betrachtete mit zur Seite geneigtem Kopf ihr Werk. Sie hatte auf sämtliche lebensnotwendigen Energiepunkte der bewusstlosen Janel Spiralen gezeichnet.
»Nun müsst ihr beide sehr leise sein«, erklärte Senera, während sie ein Medaillon mit einem Löwen von einem Regal nahm. »Und ich scherze nicht, wenn ich sage, dass ihr den Rest eurer Tage schreiend verbringen werdet, wenn ihr euch mir hierbei entgegenstellt.« Sie sah die Männer an. »Verstanden?«
Die beiden nickten.
Senera steckte sich ihren Pinsel in die Haare zurück und deutete auf Janels Körper. Er begann zu schweben und in die Senkrechte zu kippen, sodass es aussah, als würde sie stehen.
Mit der freien Hand berührte Senera Janels Hände, dann ihren Hals und die Stirn. Zuletzt hielt sie ihr die zu Klauen gekrümmten Finger übers Herz.
Bruder Qaun vermutete, dass diese letzte Geste rein symbolische oder gar dramatische Bedeutung hatte. Es gibt keinen speziellen Sammelpunkt für spirituelle Energie im Herzmuskel.
Er behielt diesen Gedanken für sich.
Als Senera die Finger zurückzog, strömten dünne Energiefäden aus Janels Körper in ihre Hand. Der Anblick erinnerte Qaun ans Spinnen, bei dem man winzige Seidenfasern auf eine Spindel zog. Während sich die Seelenmaterie in Seneras Hand sammelte, formte und dehnte sie den Faden, um ihn dann in das Medaillon zu geben.
Sobald Senera fertig war, konnte jeder, der Janels Medaillon in seinem Besitz hatte, ihr jeden beliebigen Befehl erteilen. Wenn Janel sich diesen Kommandos widersetzte, würde sie sterben.
Sie bewegte sich nicht und gab auch kein Geräusch von sich. Im Moment wandelte sie noch im Nachleben und würde erst beim Aufwachen erfahren, was in der Zwischenzeit passiert war. Und damit würde ein Schrecken beginnen, der sie bis ans Ende ihrer Tage begleiten sollte.
Bruder Qaun suchte den Raum nach etwas ab, mit dem er Senera ablenken oder etwas gegen Sir Oreth unternehmen konnte. Doch er fand nichts. Und er würde ohnehin nur selbst dabei umkommen. Ein toter Heiler heilt niemanden mehr.
Schließlich hörte Senera auf, Fäden zu ziehen, und schloss die Faust um das Medaillon, das einen Moment lang aufleuchtete, bevor es sich wieder in ein abgenutztes Schmuckstück zurückverwandelte.
»Na gut«, sagte Senera. »Das Schwerste wäre geschafft …« In diesem Moment zerfiel es zu Staub.
Senera sah mit starrem Blick zu, wie die leuchtende Seelenmaterie in Janels Körper zurückfloss.
»Soll das so sein?«, erkundigte sich Sir Oreth.
Sogar Bruder Qaun beugte sich unwillkürlich ein Stück vor.
»Nein … so nicht.« Senera wirkte erschüttert. »Bleibt zurück.« Sie nahm eine andere Halskette, an der ein Raubkatzenzahn hing.
Damit führte Senera das Ritual ein weiteres Mal durch und wiederholte alle Schritte mit der Sorgfalt einer Schülerin, die sich bereits tausendmal dieselben auswendig gelernten Sätze vorgesagt hatte. Dieses Mal ließ sie sich mehr Zeit für die einzelnen Schritte, um sicherzugehen, dass sie keinen ausließ.
Der Raubkatzenzahn verwandelte sich ebenfalls in Asche, als sie fertig war. »Was zur Hölle …?«, flüsterte sie.
»So etwas habe ich noch nie erlebt«, sagte Qaun, was nicht weiter verwunderlich war, da er noch nie beim Gaeschen einer Person zugesehen hatte.
»Pragaos, Molasch, kommt herein!«, rief Senera.
Die Wachen kamen mit gezogenen Schwertern durch die Tür gestürmt, bereit, Gewalt anzuwenden. Als sie sahen, dass dazu keine Notwendigkeit bestand, entspannten sie sich wieder. Einer der Soldaten betrachtete Janel, die mit nacktem Oberkörper dalag, die anderen richteten ihre Aufmerksamkeit auf Senera. »Ja, Oberst?«
»Geht und sucht Var«, sagte Senera. »Das muss er sich ansehen.«
Bei seiner Rückkehr schickte Relos Var alle aus dem Raum bis auf Senera, Janel und Bruder Qaun. Sir Oreth schien sehr froh, dass er Senera nicht mehr unter die Augen treten musste. Sobald er und die anderen draußen waren, führten Relos Var und Senera das Ritual ein drittes Mal durch. Und es misslang zum dritten Mal. Dann versuchte Relos Var es alleine, während Senera ihm dabei zusah. Er unterteilte das Ritual in einzelne Abschnitte und erläuterte jeden davon so detailliert, dass Qaun am Ende glaubte, nun ebenfalls gaeschen zu können.
Bruder Qaun erkannte, dass es genauso wenig ein Zauber war wie das auf die Stirn gemalte Zeichen, das er von Senera übernommen hatte. Wenn man sich ganz exakt an jeden Schritt der Prozedur hielt, erzielte man verlässlich das erwartete Resultat. Ein magisches Talent war dafür nicht nötig. Jeder konnte es tun, solange er sich nur an die Anweisungen hielt.
Trotzdem funktionierte es nicht.
Danach wirkte Relos Var andere Zauber, er sammelte magische Kräfte und knüpfte neue Verbindungen. Zwischenzeitlich öffnete er ein Tor zu einem anderen Ort, nachdem sie ihre ganzen Gaesch-Schmuckstücke aufgebraucht hatten. Während Relos Var zu Werke ging, erregte erneut etwas an ihm Bruder Qauns Aufmerksamkeit. Ein Gefühl von Vertrautheit, als würde er ihn wiedererkennen. Var war kein Fremder für Qaun. Er kannte ihn.
Da Bruder Qaun sich die ganze Zeit ruhig verhielt und an seinem Platz blieb, war er leicht zu ignorieren. Deshalb hielt ihn auch niemand auf, als er sein Bewusstsein in die Erleuchtung abdriften ließ.
Und da erkannte er den Grund, weshalb Relos Var ihm so vertraut vorkam: Er wirkte seine Magie auf dieselbe Weise wie Vater Zajhera.
Bruder Qaun war eingehender in der Kunst der Magie unterrichtet worden als die meisten anderen Absolventen der Akademie. Vater Zajhera war ein sorgfältiger Lehrer gewesen, der es für wichtig gehalten hatte, die Grundlagen und Theorien zu vermitteln. Deswegen wusste Bruder Qaun, dass Unterweisungen in Magie immer nur zur Inspiration und Beratung dienten. Magie war etwas Persönliches. Keine zwei Personen betrieben sie auf identische Art. Selbst Zwillinge näherten sich ihr aus verschiedenen Richtungen.
Doch Relos Var zauberte genau so wie Vater Zajhera.
Auf exakt dieselbe Weise.
Qaun konnte überhaupt keinen Unterschied feststellen. 183
Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er sich von der Bank erhob. »Zajhera«, flüsterte er.
Relos Var sah auf.
Ihre Blicke kreuzten sich.
Var runzelte die Stirn. Einen Sekundenbruchteil lang wirkte er sprachlos und todunglücklich.
Dann wandte er den Blick ab und warf den Kristall hin, den er zur Konzentrationssteigerung verwendet hatte. Er lachte. »Es überrascht mich nicht, dass du versagt hast, meine Schülerin. Jemand war schneller als wir.«
Senera sah ihn verständnislos an. »Wie bitte?«
»Du kannst sie nicht gaeschen, weil sie bereits gegaescht ist. Irgendwer ist uns zuvorgekommen. Ihre Seele gehört bereits einem anderen.«
»Wem?«
Relos Var schien über die Frage nachzudenken. »Ich weiß es nicht.« Er lachte erneut. »Das ist ein Satz, den ich schon seit Jahrhunderten nicht mehr gesagt habe. Leider« – er deutete auf Janel – »haben wir keine Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Wenn Gaeschen unmöglich ist, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.«
»Woran denkt Ihr?«, fragte Senera.
»Wir entfernen unserer kleinen Löwin die Krallen«, antwortete Relos Var. »Zumindest so weit, dass sie nicht mehr in der Lage ist, Soldaten wie Spielzeugpuppen durch die Gegend zu schleudern. Ich würde sie ungern zu Herzog Kaen bringen, nur um dann mit ansehen zu müssen, wie sie ihm den Kopf abreißt.« Er zögerte. »Erzähl Herzog Kaen bloß nichts von ihrem Gaesch. Sein Verfolgungswahn ist auch so schon schlimm genug.«
Sie schienen gar nicht auf Bruder Qaun zu achten. Vermutlich hatte Relos Var ihn nicht richtig gehört. Qaun merkte, wie sich der metaphorische Griff um seine Kehle lockerte, und blies den Atem aus.
»Lasst sie uns auf den Bauch legen«, schlug Senera vor. »Auf dem Rücken funktioniert es besser.« Sie verdünnte ihre Tinte mit etwas zusätzlichem Wasser. Unterdessen drehte Relos Var Janel vorsichtig auf dem Tisch um.
Bruder Qaun schaute zur Tür. Wie weit würde er rennen können, bevor die Wachen ihn einholten? Leider kannte er keine guten Unsichtbarkeitszauber – er wusste nur, wie man Wörter verbarg. Vielleicht, wenn etwas die Wachen ablenkte …
Doch als er den Kopf wieder zurückdrehte und sah, wie Senera auf Janels Rücken malte, zögerte er.
Sie brachte ein Zeichen auf.
Es war nicht das, mit dem sie die Luft gereinigt hatte, aber die beiden ähnelten sich im Stil. Während Senera mit dem Pinsel über Janels Haut strich, sank die Tinte in sie ein und trocknete, so unvergänglich und dunkel wie die Farbe von Janels Finger.
Senera trat zurück und bewunderte ihr Werk.
»Das sollte genügen«, sagte sie. »Die Krallen sind wie befohlen entfernt.« Sie hielt inne, und ein verbitterter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Warum tun wir das eigentlich?«
Var hob eine Augenbraue.
»Wieso nehmen wir sie mit?«, fragte sie. »Was wollt Ihr damit erreichen?«
Relos Var sah überrascht aus. »Zweifelst du etwa an mir?«
»Ihr habt einer Frau …« Sie unterbrach sich. »Nein, sie ist keine Frau. Ihr habt ein Mädchen seiner Kräfte beraubt, und nun werdet Ihr sie den Wölfen vorwerfen. Das sieht Euch gar nicht ähnlich.«
Er gluckste. »Aber wir haben ihr gar nicht ihre Kräfte genommen. Nur die Krücke, auf die sie sich gestützt hat. Bisher musste sie ihre Gaben nicht entwickeln. Nennen wir es einen Motivationsschub. Und was meine Pläne anbelangt …« Var sah kurz zu Qaun herüber, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Senera zuwandte. »Was habe ich schon die ganze Zeit vor, mein Kind? Ich sorge dafür, dass die Prophezeiungen sich erfüllen. Das besessene Kind, erinnerst du dich?«
»Das besessene Kind sammelt die Gebrochenen um sich, die Hexen und Gesetzlosen, die heimlichen Rebellen, plant Krieg und Aufstand, während die Ketten durch die Not des Winters im Palast des Schneekönigs verborgen liegen. Die Devoranischen Prophezeiungen, Buch 3, Quatrain 17.« Senera verzog den Mund. »Schön, ich gebe zu, dass der Palast des Schneekönigs in Yor ist, aber ich verstehe nicht, wie sie einen Aufstand planen soll, während sie sich als Gefangene dort aufhält. Ist außerdem nicht Herzog Kaen das besessene Kind?«
»Er könnte es sein.« Relos Var grinste. »Aber mal ganz unter uns: Mir kam diese Interpretation immer arg konstruiert vor.« Er blickte auf Janels Körper hinunter und hörte auf zu lächeln. »Ich wette eher auf sie. Aber du weißt ja, was ich immer sage: Wenn du bei einer Pferdewette gewinnen möchtest …«
»… musst du auf alle Pferde setzen«, vollendete Senera den Satz. »Wollen wir dann mal los?«
»Noch nicht.« Var klang reumütig. »Ich fürchte, davor müssen wir noch ein anderes Gaesch-Ritual durchführen.«
Er drehte sich um und schaute Bruder Qaun an.
Und da wusste Qaun, dass er Relos Var doch nicht zum Narren gehalten hatte.