34  Der einzige Ausweg
Jorat, Quurisches Reich.
(Ungefähr) drei Tage nachdem Klaue Thurvishar einen magischen Stein gegeben hatte
Bruder Qaun räusperte sich. Er schien sich nicht wohl zu fühlen. »Ich, äh … Zum nächsten Teil habe ich nicht viele Notizen.«
Janel wirkte überrascht. »Was? Aber du …« Dann stutzte sie. »Oh.«
Kihrin hob eine Braue. »Ich bekomme irgendetwas nicht mit, oder?«
»Über die folgenden Ereignisse habe ich nicht viel geschrieben«, gab Bruder Qaun zu. Er schlug sein Buch auf. »Ich werde vorlesen, was ich habe, aber dann solltet Ihr wieder übernehmen, Janel.«
Sie nickte. »Natürlich. Was immer für dich das Beste ist.«
Qauns Schilderung. Im Eispalast, Yor, Quur.
Die ersten paar Stunden, nachdem er gegaescht worden war, dachte Bruder Qaun ernsthaft darüber nach, ob es nicht besser wäre, sich das Leben zu nehmen.
Wie sollten sie ihn davon abhalten? Widersetzte er sich dem Gaesch, würde der Schmerz ihn töten. Also musste er nur den Gehorsam verweigern, wenn er sich umbringen wollte. Seine freie Seele würde anschließend ins Land des Friedens und zu seiner nächsten Wiedergeburt weiterreisen. Oder von Dämonen abgefangen werden; aber denen würde er vielleicht entkommen.
Er wäre frei. Und damit wäre auch Janel frei. Wenn er der Garant für ihr gutes Benehmen war, dann würde mit seinem Tod auch diese Garantie erlöschen.
Mit dem Gaesch hatte er immer eine Waffe zur Hand, die er gegen sich selbst wenden konnte. Die Macht, Nein zu sagen, konnten sie ihm nicht nehmen – und genauso wenig die Konsequenzen, die sich aus einer solchen Weigerung ergaben. Sie konnten ihn dazu zwingen, jeden Befehl zu befolgen, bis auf diesen einen … den Befehl, sich nicht selbst zu töten.
Aber er tat es nicht.
Es war ein einzelnes Wort, das ihn vom Selbstmord abhielt: auch. Janel hatte nicht geplant, dass er auch in Yor endete.
Was bedeutete, dass sie geplant hatte, selbst dort zu enden.
Er traute es ihr durchaus zu. Relos Var zu einem Duell herauszufordern, war eine dumme Idee gewesen. Und normalerweise verhielt sich diese junge Frau nicht dumm – auch wenn sie bedauerlicherweise dazu neigte, gewaltsame Lösungen für ihre Probleme zu suchen. Janel musste gewusst haben, dass sich ein Außenseiter nicht an das joratische Idorrá-Thudajé-Konzept halten würde. Doch wenn sie von Anfang an vorgehabt hatte zu verlieren …
Vielleicht. Nur vielleicht.
Aber Janel kannte Relos Vars wahre Identität nicht. Außerdem wusste sie nicht, dass irgendwer dort draußen ein Stück ihrer Seele besaß.
Sie kannte die Wahrheit nicht, und Qaun konnte sie ihr nicht verraten.
Noch nie in seinem Leben hatte er sich so machtlos gefühlt wie in diesem Moment.
Er ignorierte das Gespräch zwischen den beiden Frauen und konzentrierte sich stattdessen auf das Sonnenmedaillon, das er immer bei sich trug. Sie hatten es ihm nicht abgenommen, und weder Relos Var noch Senera waren so sadistisch gewesen, es zum Gefäß für sein Gaesch zu machen. Er besaß das Symbol immer noch und polierte es gelegentlich mit dem Daumen. Vater Zajhera war eine Mogelpackung, aber galt das auch für seine Religion?
War Selanols Gnade, die Wahrheit der Erleuchtung, für immer durch Lügen entwertet? Oder ließ sich darin immer noch Wahrheit entdecken? Und war diese Wahrheit zu wichtig, um sie zu verwerfen, auch wenn das, was aus ihr folgte, verdreht worden war, um einem bösen Mann zu dienen?
Er musste die Kleidung, die Senera gebracht hatte, angezogen haben, doch er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Eben hatte er noch sein Nachtgewand getragen und jetzt Felle. Es schien ganz plötzlich geschehen zu sein. Schon seit seinem Aufwachen merkte er, dass er immer wieder von einem Moment zum nächsten sprang und ganze Abschnitte ausließ, nur um unvermittelt in einem neuen Schrecken zu landen.
Er stand unter Schock. Er kannte sich gut genug aus, um diesen Zustand bei sich selbst zu diagnostizieren.
Zajheras Verrat und die Erfahrung, gegaescht zu werden, hatten ihn traumatisiert.
Zajhera war wie ein Vater zu ihm gewesen. Qaun hätte ihm sein Leben anvertraut.
Janels Großvater, der frühere Graf von Tolamer, hatte auch an Zajhera geglaubt, so sehr, dass er sogar das Schicksal seiner Enkeltochter in die Hände dieses Mannes gelegt hatte. Zajhera war derjenige gewesen, der Xaltorath exorziert hatte, nachdem der Dämonenprinz sich gegen alle normalen Methoden, darunter sogar einen direkten Befehl des Kaisers, immun gezeigt hatte. Und es war auch Zajhera gewesen, der Janel anschließend körperlich und geistig wiederhergestellt hatte. Allein ihm war es zu verdanken, dass sie nicht zu einem Gefäß für Hass und Bosheit geworden war.
Zajhera war ein guter Mann. Der beste. Zajhera konnte nicht Relos Var sein.
Aber er war es.
Es war alles zu viel. Der Verrat, der Schmerz und seine Existenz.
Doch wenn er nicht gehorchte, würde dieser Schmerz enden. 189
Er erinnerte sich noch daran, dass er sich übergeben hatte, und dann an nichts mehr.