37
Die Frauen des Herzogs
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Miyas Hass auf Darzin persönlich geworden war
Kihrin schaute Qaun mit großen Augen an. »Verdammt.«
Qaun nickte. »Ja, ganz recht. Ich, äh … er wirkt so vernünftig. Das ist das Schwierigste an der Sache. Man denkt plötzlich darüber nach, ob man selbst derjenige ist, der sich falsch verhält.«
Ninavis sah zu Dorna. »Bislang war mir gar nicht klar, in was ich mich da reingeritten habe. Meine Sorge ist, wie wir die Adoreli dazu überreden können, den Krieg gegen die Gaduraner zu beenden.« Als sie die verwirrten Blicke der anderen bemerkte, hielt sie inne. »Das sind marakorische Klans, die wir rekrutieren. Na ja, ihr spielt jedenfalls in einer ganz anderen Liga …« Sie beugte sich zu Janel hinüber. »Tya?
Willst du mich verscheißern?«
Janel schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. »Ich habe sie mir nicht ausgesucht. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher, dass ich das nicht getan habe … Ich will mir gar nicht vorstellen, dass ich sie mir ausgesucht haben könnte.
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»Teraeth übertrumpft Janel allerdings noch«, merkte Kihrin an. »Anscheinend ist er nicht nur ein Engel – was eigentlich bloß ironisch gemeint sein kann –, sondern auch noch Thaenas Sohn und Khoreds Enkel.« Er hob eine Hand. »Aber ich weiß gar nicht, ob seine Abstammung wichtig ist. Göttlichkeit scheint nicht vererbbar zu sein.«
»Nein«, stimmte Qaun zu. »Das ist sie nicht.«
Kihrin sah Janel an. »Bist du wieder an der Reihe?«
Sie nickte. »Ja, jetzt bin ich dran.«
Janels Schilderung. Im Eispalast, Yor, Quur.
»Wo kann er hin sein?« Ich stürmte in den Raum und überprüfte das Wasserklosett, den begehbaren Kleiderschrank und alle anderen potenziellen Verstecke.
Bruder Qauns Beutel war weg.
Senera antwortete nicht. Stattdessen nahm sie den Stein vom Hals, rieb mit dem Zeigefinger darüber und zeichnete eine unsichtbare Linie an die Marmorwand. Sie las die schwindende Wärme auf der glänzenden Oberfläche und wirkte sichtlich erleichtert. »Alles in Ordnung. Relos Var hat ihn von Pragaos abholen lassen.«
»Was soll daran in Ordnung sein?«, fuhr ich sie an. Ich wusste, dass sie Bruder Qaun nichts antun durften, wenn sie mich mit seiner Geiselhaft gefügig machen wollten. Aber wenn er während meiner Abwesenheit aufgewacht wäre und Selbstmord begangen hätte, wäre es das Vernünftigste, mich anzulügen.
Überrascht von meinem giftigen Ton sah sie zu mir auf und lächelte. »Ach, meine Liebste, Ihr glaubt tatsächlich, Relos Var wäre hier der Bösewicht, oder? Seid Ihr dann die Heldin?«
»Wenigstens habe ich nicht ganze Dörfer vernichtet.«
»Nein, aber Ihr unterstützt ein Regime, das es tut«, entgegnete Senera. »Glaubt Ihr etwa, ich hätte das lysianische Gas erfunden?«
»Was ist lysianisches …?«
Senera winkte ab. »Der blaue Rauch. Dieses Geschenk kommt direkt von Eurer Zauberakademie in Kirpis. Quur hat es während der Invasion gegen die Yorer eingesetzt. Und zwar gegen, o ja, ganze Dörfer.«
»D-das war ein Krieg«, stammelte ich, um mein Entsetzen zu verbergen. Ich nahm ihr diese Lügengeschichte nicht ab. Es musste eine Lüge sein.
»Seht doch genau hin. Dies hier
ist ein Krieg. Ihr glaubt wahrscheinlich, Quur hätte sich mit den yorischen Herrschern zusammengesetzt und gesagt: ›Ah, sehr schön. Sobald ihr dazu bereit seid, nehmen wir eure formelle Kapitulation entgegen und sorgen für einen lang andauernden Frieden.‹ Aber so war es nicht. Die Quurer sind auf ihnen herumgetrampelt, bis alles Eis rot war. Als sie sicher waren, dass sie den yorischen Geist ein für alle Mal gebrochen hatten, sind sie hier eingezogen.« Sie lachte. »Ich nehme an, in Jorat hat die Unterwerfung besser funktioniert. Diese Vorstellung von Thudajé. Euer Volk weiß, wie man eine Niederlage hinnimmt.« Ihr beiläufiger Tonfall passte nicht zu der spitzen Bemerkung. Ich fühlte mich getroffen, obwohl ich – falls Relos Var die Wahrheit gesagt hatte – von Khorveschern abstammte, nicht
von Joratern.
Aber was bedeutete das eigentlich? Ich wusste nur wenig über die Khorvescher, abgesehen davon, dass sie im Ruf standen, gute Soldaten zu sein, und bei jedem Vorstoß der quurischen Armee an vorderster Front kämpften. Sie lebten in einem Land, das so ziemlich das genaue Gegenteil von Jorat war – trocken, heiß und ausgedörrt. Ich wusste, dass die Armee, die uns – den Joratern – zum Sieg über Khorsal verholfen hatte, aus Khorvesch gekommen war.
So viel zu meinem Stolz darauf, dass ich von Atrin Kandor abstammte.
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»Wir wurden nicht von Quur unterworfen
«, erwiderte ich. »Wir haben uns mit Quur zusammengetan und mit seiner Unterstützung den Tyrannen niedergeworfen, der uns versklavt hatte. Und egal, was die Quurer mit Yor angestellt haben, Ihr könnt von mir nicht erwarten, dass ich die Achseln zucke und sage: ›Ach, dann ist ja alles in Ordnung. Wenn Quur damit angefangen hat, könnt Ihr diese schreckliche Waffe ruhig gegen arglose und unschuldige Leute einsetzen.‹«
»Nein, aber ich sage auch nur, dass Quur die Regeln gemacht hat und wir nun nach ihnen spielen.«
Ich antwortete nicht. Es schien zwecklos. Wir würden einander ja doch nicht überzeugen.
Dann fiel mir ein, dass ich allmählich so tun musste, als würde
sie mich überzeugen.
Senera ging zum Sofa hinüber und nahm Platz. »Ich weiß, Ihr glaubt, er wäre ein schrecklicher Mensch, aber vielleicht solltet Ihr diese Ansicht noch mal überdenken. Er ist der beste Mann, den ich je kennengelernt habe.«
»Wenn die Männer, die wir beim Mittagessen getroffen haben, für Euch der Normalfall sind, solltet Ihr Euch vielleicht nach besseren umsehen.«
Sie lachte. »Da könntet Ihr recht haben. Ich war nicht viel älter als Ihr, als ich Relos Var zum ersten Mal begegnet bin. Doch im Gegensatz zu Euch war ich eine Sexsklavin und gehörte dem Hohen Lord des Hauses D’Jorax. Ihr könnt mir glauben, dass Relos Var im Vergleich zum Hochadel tatsächlich sehr gut abschneidet.«
Ein Schauder durchzuckte mich. »Das tut mir leid.«
»Normalerweise würde ich an dieser Stelle behaupten, es wäre schlimmer gewesen, als Ihr Euch vorstellen könnt, aber da Ihr mit Xaltorath Bekanntschaft gemacht habt, bezweifle
ich das. Auf jeden Fall könnt Ihr bestimmt nachvollziehen, weshalb ich so viel von Relos Var halte.«
Wenn ich sie so ansah, konnte ich es verstehen. Schließlich hätte ihr nichts Besseres passieren können. Var hatte sie aus einer schrecklichen Lage gerettet. Weshalb sollte sie sich jemals gegen den Mann wenden, der sie befreit hatte?
Und er hatte Senera nicht nur gerettet. Er hatte sie auch unterrichtet und ausgebildet. Außerdem hatte er ihr etwas gegeben, an das sie glauben konnte. Senera hielt sich selbst nicht für böse. Sie tat vielleicht schreckliche Dinge, aber sie hatte ganz eindeutig das Gefühl, das Unrecht, das sie beging, wäre gerechtfertigt, weil es einem höheren Zweck diente und für eine bessere Zukunft sorgte. In ihren Augen war sie keine Dämonin, sondern ein Engel und kämpfte in einem Heiligen Krieg gegen die Ungeheuer, die ihr schlimmere Dinge angetan hatten als irgendwer – egal ob Mann, Frau oder Kind – jemals erleiden sollte.
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Ich konnte sie nicht ansehen und mich dabei in dem Glauben wiegen, dass ich niemals in die gleiche Falle treten würde. Wie leicht es doch war, sich selbst einzureden, man wäre unfehlbar und dass nur die eigene Lebensweise und die eigenen Ansichten zählten. Oh, es war wirklich eine besonders heimtückische Falle, und sie war immer mit dem wirkungsvollsten Köder bestückt, den es gab: der Aussicht auf ein gesteigertes Selbstwertgefühl.
»Hört mal, würde es Euch etwas ausmachen … mich allein zu lassen? Ich brauche Zeit für mich.«
Senera wollte noch etwas sagen, hielt dann aber inne und nickte. »Natürlich.« Sie verließ den Raum.
Sobald sie weg war, holte ich tief Luft und gab mich dem hin, was ich mein ganzes Leben lang zurückgehalten hatte, da ich im Glauben aufgewachsen war, es wäre meine Pflicht, mich als ein Symbol der Stärke zu inszenieren.
Doch das war ich nicht mehr, für niemanden. Keiner zählte darauf, dass ich die Zügel in der Hand hielt.
Ich hatte gar nichts mehr unter Kontrolle.
Ich wollte zu meinem Großvater. Ich wollte zu meinen Eltern, zu meiner Mutter.
Nur dass sie nicht meine richtige Familie waren. Sie war nicht meine wirkliche Mutter. Sie war es nie gewesen.
Ich brach in Tränen aus und hörte nicht auf zu weinen, bis meine Schluchzer irgendwann in meiner eigenen Parodie von Schlaf verebbten.
Als ich aufwachte, fand ich mich im Nachleben wieder.
Und wurde gerade von Dämonen angegriffen. Natürlich.
Ich zögerte nicht und stürzte mich brüllend in die Schlacht.
Zwischen lauter kämpfenden Dämonen, knöcheltief im Blut, fiel mir auf, dass ich nicht allein war. Diesmal hatte ich die Elefanten nicht gehört und auch keine Pfeile von Thaenas Truppen gesehen.
Und dennoch kämpfte Teraeth an meiner Seite und vernichtete ebenfalls Dämonen. Er schlitzte mit Messern Kehlen auf und ließ die Klingen mit eleganter Präzision unter Rüstungen gleiten. Er nickte mir nur kurz zu, dann machten wir beide mit dem Töten weiter.
Ich war noch nicht mit Weinen fertig. Ich schluchzte auch dann noch, als ich mein Schwert wegwarf, weil es meinem Zorn nicht angemessen schien, und stattdessen anfing, mit bloßen Händen zu reißen, zu verstümmeln und zu töten.
Obwohl ich immer so getan hatte, als wäre meine Stärke ein Fluch, schwelgte ich diesmal in der Macht, die mir in der Welt der Lebenden verwehrt war. Voll wilder Freude zermalmte ich einen Schädel nach dem anderen zwischen meinen Händen und riss mit gekrümmten Fingern Kehlen heraus.
Und schließlich waren nur noch wir beide übrig.
»Janel …« Teraeth steckte seine Messer weg und eilte mit besorgtem Blick zu mir. »Was ist passiert? Ich habe gehört …«
Ich hätte mich fast auf den Leichnam eines Dämons gesetzt, nahm dann jedoch auf einem Stein Platz, da ich wusste, dass der Körper innerhalb weniger Minuten verschwinden würde. Ich nahm einen tiefen, zittrigen Atemzug und versuchte, mich zu fassen.
»Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht, Teraeth.«
Er kniete sich neben mich und berührte mich so sanft an der Wange, wie ich es einmal bei ihm getan hatte. »Ich werde einen Rettungstrupp zusammenstellen. Mutter hat mir erzählt, was geschehen ist. Es hat keinen Sinn, dort zu bleiben.«
»Sie haben Qaun gegaescht.« Ich verzog das Gesicht. »Relos Var hat Qaun gegaescht.«
Er biss sich auf die Lippe. Da fiel mir auf, dass er keine Ahnung hatte, wer Qaun war. Ich hatte ihm noch nie von dem Priester erzählt. Doch auch ohne Qaun zu kennen,
verstand Teraeth offensichtlich, warum ich mich schuldig fühlte.
»Okay«, sagte er. »Meine Mutter kann helfen. Wir holen dich da raus.«
»Nein, nein. Ich …« Ich holte tief Luft. »Ich muss den Speer suchen. Wer weiß, wie viele noch überall in Jorat sterben müssen, bis ich ihn finde.«
Sein Gesicht wurde angespannt. »Thaena hat gesagt, mit dem Speer könne man vielleicht einen Drachen töten. Vielleicht
. Sie weiß es nicht sicher. Es ist noch nie versucht worden. Dafür ist das Risiko, dass du dabei draufgehst, zu groß.«
Ich fand seine Sorge um mich beinahe schmeichelhaft. Doch ich war nicht in der Stimmung für seine herablassende und besserwisserische Art.
»Nein«, wiederholte ich. »Nachdem ich so weit gekommen bin, werde ich mich auf keinen Fall zurückziehen. Ich muss eine Möglichkeit finden, an Qauns Gaesch und den Speer zu kommen, und bis ich beides habe, sammle ich unschätzbar wertvolle Erkenntnisse. Zum Beispiel, dass unsere Gegner einen Eckstein besitzen, genannt der Name aller Dinge, der jede beliebige Frage beantworten kann. Falls du je das Gefühl hattest, deine Feinde wüssten zu viel, hast du dir das nicht nur eingebildet.«
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Teraeth riss die Augen auf. »Was?«
»Siehst du? Jetzt weißt du etwas Neues. Gern geschehen.«
»Heißt das, sie wissen bloß noch nicht, dass du eine Spionin bist, weil sie nicht danach gefragt haben?« Er hob die Stimme. »Nein, so geht das nicht. Ich komme dich jetzt holen. Aber vorher gehe ich noch zu Mithros. Er macht sich schreckliche Sorgen um dich …«
»Mithros weiß, wo ich bin.«
Teraeth sah mich einen Moment lang verwirrt an. »Nein, tut er nicht. Ich habe gestern mit ihm gesprochen. Er hat gesagt, er hat sich seit dem Morgen des Turniers nicht mehr mit dir unterhalten.«
Ich starrte ihn an. »Nein, das ist nicht …« Ich stand von dem Stein auf und fing an, auf und ab zu gehen, wobei ich immer wieder zur Kluft hinüberschaute. »Als ich ihn hier im Nachleben traf, wollte er nicht zur Kluft. Stattdessen hat er mich von ihr weggeführt.«
»Und?«
»Nirgendwo trifft man wahrscheinlicher auf Götter als bei der Kluft.« Ich sah Teraeth an. »Ich dachte, ich würde mit Khored, also mit Mithros, sprechen. Du weißt, wer Mithros
in Wirklichkeit ist?«
Er winkte ab. »Ich weiß es. Rede weiter.«
»Was ist, wenn ich mit jemand anderem gesprochen habe? Xaltorath vielleicht? Aber wieso sollte sie …« Ich war kurz davor, die Hände zu ringen. »Wenn sie das war, Teraeth … Sie hat irgendwie dafür gesorgt, dass Relos Var mich nicht gaeschen konnte. Wieso sollte Xaltorath so etwas machen?«
»Dich nicht gaeschen konnte?« Teraeth blinzelte. »Ich verstehe nicht.«
»Khored – oder Xaltorath, oder wer auch immer es war – hat irgendetwas getan, das mich vor dem Gaeschen geschützt hat. Offensichtlich hat es funktioniert, denn ich bin nicht gegaescht.«
Teraeth schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich.«
»Augenscheinlich nicht.«
Er runzelte die Stirn. »Was, wenn Xaltorath dich gegaescht hat? Soweit ich weiß, kann man nicht zweimal gegaescht werden.«
»Ich glaube, wenn ich gegaescht wäre, wüsste ich es.«
»Wirklich?« Teraeth hob eine Augenbraue. »Schläfst du traumlos? Fühlst du dich schwach?«
Er kannte bereits die Antwort auf eine dieser Fragen: Einmal abgesehen von meinen Reisen durch das Nachleben hatte ich keine Träume. Und ich fühlte mich tatsächlich geschwächt – wegen Senera.
Würde ich es wirklich merken, wenn ich gegaescht wäre? Ich lief weiter auf und ab. »Du glaubst, es war Xaltorath?«
»Wer sonst? Khored kann es nicht gewesen sein. Das ergäbe keinen Sinn.«
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»Wieso sollte Xaltorath mir helfen? Das würde genauso wenig Sinn ergeben.«
»Nichts, was Dämonen tun, ergibt einen Sinn.«
Ich setzte mich wieder hin. »Für einen Dämon bricht Xaltorath ganz schön viele Regeln. Als der Kaiser ihr befahl zu verschwinden, hat sie ihn einfach ignoriert. Du hättest sehen sollen, wie ihm die Kinnlade runtergefallen ist.« Ich bemerkte Teraeths schockierten Blick und nickte. »Ja, ungefähr so.«
Teraeth rieb sich übers Gesicht. »Ist dir klar, was du gerade gesagt hast? Als die Dämonen gebunden wurden, hat man sie alle gegaescht. Und wer, glaubst du, kontrolliert diese Gaesche? Das macht der Kaiser. Dafür wurden die Krone und das Zepter geschaffen.
Du willst mir erzählen, dass ein Dämon über einen Gaesch-Befehl gelacht hat?« Er stieß den Atem aus. »Das ginge nur, wenn Xaltorath kein Dämon wäre, was sie aber offensichtlich ist.«
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Ich merkte, dass ich erneut aufgestanden war. »Willst du damit etwa andeuten, dass ich mir die traumatischste Erfahrung meines ganzen Lebens nur eingebildet habe?«
»Janel, gerade weil es so traumatisch war, kann es gut sein, dass deine Erinnerungen an dieses Ereignis verzerrt sind!«
»Der Oberste General war dabei. Kaiser Sandus war dabei. Glaubst du etwa, Sandus hat vergessen, einem Dämon zu befehlen, dass er aus einem besessenen Kind herausfahren soll?«
»Verdammt, Janel, ich habe Krone und Zepter getragen. Und ich sage dir, so funktioniert das nicht!«
Der Widerspruch, den ich ihm gerade entgegenschleudern wollte, erstarb mir auf den Lippen. Stattdessen fragte ich in normaler Lautstärke: »Wie kann es sein, dass ein manolischer Vané eine Krone der Menschen getragen hat – noch dazu die Krone und das Zepter von Quur?«
Er erstarrte.
»Teraeth …«, begann ich noch einmal. »Wie konnte ein manolischer Vané …?«
»Ich habe dich auch beim ersten Mal schon verstanden.« Er atmete tief ein. »Mist.«
»Dann beantworte bitte die Frage.«
Er tat es nicht und schwieg stattdessen eine ganze Weile. Dann ging er von mir weg und setzte sich auf einen Stein, von dem aus man die ganze Klippe überblicken konnte. Vor ihm ragten die zerbrochenen und krummen Bäume des Nachlebens auf. In der Ferne schwebte gelber Nebel ein paar Fingerbreit über der Seeoberfläche, was eher unheimlich als romantisch aussah.
Ich ging auf ihn zu.
»Der Zyklus«, sagte er. »Wir sterben und werden wiedergeboren. Dabei können wir unser Wissen aus dem vorherigen Leben nicht mitnehmen. Aber ich erinnere mich an alles. Und in meinem letzten Leben war ich der Kaiser von Quur.«
»Welcher?«
Er schnitt eine Grimasse. »Janel, das ist nicht wichtig …«
»Welcher?«
»Atrin Kandor.«
Ich starrte ihn entsetzt an.
»Was?«
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Er verdrehte die Augen. »Ich war Atrin Kandor. Erinnerst du dich? Der Mann, der …«
»Ich weiß, wer Atrin Kandor ist! Jeder weiß, wer Atrin Kandor ist! Der größte Teil von Quur würde ohne ihn nicht existieren. Der Mann, der in einer einzigen Nacht Atrine erbaut, den Gottkönig Khorsal getötet und die kirpischen Vané aus ihrer Heimat vertrieben hat. Das warst du?
«
»Du hast vergessen zu erwähnen, dass ich beim Versuch, Manol zu erobern, einen Gutteil der quurischen Armee in den Tod geschickt habe.«
»Hast du … eine Wette gegen deine Mutter Thaena verloren? Denn die Vorstellung, dass ausgerechnet du der wiedergeborene Atrin Kandor bist, ist ein Witz. Du warst die allergrößte Bedrohung für die Vané, die je unter den Lebenden gewandelt ist, und sie lässt ausgerechnet dich als einen Vané zurückkehren?«
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»Sie liebt ausgleichende Gerechtigkeit.« Er hob einen Finger. »Aber um das mal klarzustellen: Man hat mir Sünden angedichtet, die ich niemals begangen habe. Zum Beispiel habe ich die Dreth nicht ausgelöscht. Es gibt sie immer noch. Sie sind bloß in den Untergrund gegangen. Buchstäblich.«
»Ich verstehe«, erwiderte ich. Das tat ich wirklich. Da ich Janel »Danorak« war, wusste ich, wie viel ein verzerrter Mythos bewirken konnte. »Gibt es noch etwas, das du mir beichten möchtest, während wir hier herumhängen?«
Er antwortete nicht. Stattdessen saß er nur da und trommelte mit den Fingern auf den Stein.
»Teraeth …«
»Als ich Atrin Kandor war, bist du meine Frau gewesen.«
Ich wartete ab, nur für den Fall, dass er mir gleich sagen würde, das sei nur ein Scherz gewesen. Er tat es nicht.
Seine Aufrichtigkeit konnte ich ihm nicht zum Vorwurf machen, aber dieses Geständnis bereitete mir Unbehagen. Es fühlte sich intim und auch unschön an. Als hätte ich herausgefunden, dass ich im betrunkenen Zustand etwas getan hatte, an das ich mich nicht erinnern konnte. Selbst wenn ich seinerzeit aus freien Stücken gehandelt haben sollte, lag mir die Vorstellung, dass ich mich nicht an meine damaligen Entscheidungen und die dahinterstehenden Überlegungen erinnern konnte, schwer im Magen.
»Ich nehme an, es war eine Liebe für die Ewigkeit«, erwiderte ich, da mir sonst nichts einfiel.
»Nein«, sagte Teraeth tonlos. »Gar nicht. Ich habe mich furchtbar benommen und dich überhaupt nicht verdient. Und als mir das endlich klar wurde, war es bereits zu spät.« Seine Stimme klang sanft und tief betrübt. »Als ich dich kennengelernt habe …«
»Nein«, unterbrach ich ihn.
»Ich möchte nur, dass du weißt …«
Ich legte ihm die Hand auf den Mund. »Sei still.«
Er starrte mich an.
»Es ist mir egal«, sagte ich und versuchte, mir einzureden, dass es wirklich stimmte. »Eine andere Frau, die vor mir meine Seele besessen hat, war mit einem anderen Mann verheiratet, der deine Seele vor dir hatte.« Ich nahm meine Hand wieder von seinem Mund. »Bist du immer noch Atrin Kandor?«
Er lachte. »Nein.«
»Und ich bin nicht sie. Wie könnte ich auch? Was war sie denn? Eine Prinzessin? Die Tochter eines Herzogs?«
»Nein«, antwortete er. »Nein, sie war niemand.« Er zuckte zusammen. »Ich meine, sie war eine Musikerin. Sie spielte Harfe …« Er riss die Augen auf. »Bei den Göttern. Ich habe ein Beuteschema.«
»Siehst du, wenn das dein Beuteschema ist, dann passe ich nicht hinein. Ich kann nur mit Mordinstrumenten umgehen. Ich weiß nicht einmal, wie man singt. Ich gehe gern schön angezogen tanzen, aber es ist mir viel wichtiger, dass ich gewinne. Ich habe keinen Mann, kann aber nicht versprechen, dass nicht eines Tages irgendwer meine Frau oder mein Mann oder beides sein wird. Vielleicht werde ich mich nicht nur auf eine Person festlegen.«
Er schaute mich erstaunt an, schien sich aber nicht an meinen Worten zu stoßen. »Willst du mich heiraten?«
»Angesichts unserer Vorgeschichte glaube ich nicht, dass wir einander diese Frage stellen sollten, solange wir uns nicht wirklich gut kennen. Ich nehme an, du hattest keine Ahnung, welche Farbe oder welches Essen deine Frau am liebsten mochte oder welche persönlichen Ziele sie sich gesteckt hatte. Ich bezweifle, dass die Ehe mit dir ihr größter Ehrgeiz war.«
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Teraeth zog mich in seine Arme. »Das stimmt alles, aber es ändert nichts daran, dass ich dich großartig finde.«
»Das ist schon mal ein guter Anfang.« Ich lehnte mich an ihn und
wartete.
Er wartete ebenfalls.
Ich flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist die Stelle, an der du mich fragen solltest, was meine persönlichen Ziele sind.«
»Oh! Äh, ich …« Er ließ mich zwar nicht los, aber mein Unbehagen kehrte wieder zurück.
Ich lehnte mich zurück und sah ihn an. »Lass uns mit etwas Einfachem anfangen. Meine Lieblingsfarbe ist Türkis.«
Er hob eine Augenbraue. »Türkis? Ehrlich?«
»Die Farbe eines wolkenlosen Sommerhimmels. Ehrlich. Was ist deine?«
»Wenn ich Rot sage, glaubst du nur, dass ich dir schmeicheln will.«
»Nicht, wenn es stimmt.«
»Es stimmt.« Teraeths Blick ging in die Ferne. »Es ist ein ganz besonderer Farbton, ein changierendes Karmesinrot, das entsteht, wenn man Porzellan mit Kupfer glasiert. Absichtlich bekommt man ihn kaum hin. Die meisten stellen mit Kupfer grüne Glasuren her. Aber wenn man weiß, wie es geht, kann man auch alle möglichen Rottöne damit anmischen, von khorveschischem Sandstein bis hin zu frischem Arterienblut. Mein Vater machte oft …« Er unterbrach sich. »Ich meine, mein Vater in meinem letzten Leben. Nicht in diesem. Ich weiß gar nicht genau, wer in diesem Leben mein Vater ist.«
»Allmählich glaube ich, dass es gar kein Vorteil ist, wenn man sich an seine früheren Leben erinnern kann.«
»Nein, eher nicht. Andererseits …« Er zeigte ein säuerliches und selbstironisches Lächeln. »Früher oder später entpuppt sich jeder Segen als Fluch.«
»Ja.« Ich beugte mich wieder näher heran und …
Na ja.
Belassen wir es einfach dabei, dass wir damit fortfuhren, uns ein wenig besser kennenzulernen.
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Als ich am nächsten Tag erwachte, war ich guter Stimmung.
Allerdings nur ungefähr zwei Sekunden lang.
Dass sich meine Laune danach verschlechterte, lag nicht einmal daran, dass ich in Yor die Augen aufschlug.
Schuld war die merkwürdige Frau, die sich über mein Bett beugte.
Sie war alt. Doch sie war keine Frau, der ihr hohes Alter gut stand. Dorna ist auch
alt, aber sie hat ein Gesicht, das jeder gerne an seiner Großmutter sähe, mit warmen Augen und einem freundlichen Lächeln.
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Diese Alte hingegen wirkte, als wäre sie eine Gefahr für Kinder. Ihre faltige Haut sah aus wie die einer Eidechse – genauer gesagt von einer Albino-Eidechse mit wässrigen braunen Augen. Ihre Haare ließen mich an Riesenratten und verknotete Schnüre denken.
Von ihrem Grinsen bekam ich Gänsehaut. »Ich habe Frühstück für dich gemacht, meine Liebe.«
Sie stellte eine reich beladene Servierplatte mit Haferbrei, Äpfeln, knusprigem Brot und einem Eintopf aus rotem Fleisch auf meinen Nachttisch.
Gerade als ich nach dem Brot greifen wollte, kam Senera herein. »Esst nichts, was sie Euch gibt!«, rief sie, als sie die alte Frau bemerkte, und kippte das Tablett um. Der Eintopf und der Haferbrei spritzten über den Boden.
Ich blinzelte.
»Du Miststück!«, schnarrte die alte Frau. »Ich habe nur versucht, nett zu sein!«
Senera schlug ihr ins Gesicht.
»He, jetzt hör aber auf …«
»Was für ein Fleisch hast du da hineingetan, Wyrga? Kätzchen? Welpen? Oder hat wieder einmal eine Frau aus der Umgebung ein Neugeborenes in der Kälte ausgesetzt?«
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Ich war so entsetzt, dass ich aufhörte, Einwände zu erheben, und einfach nur starr dasaß. Am meisten erschreckte mich der fröhliche Ausdruck, der über das Gesicht der Alten huschte. »Ach, du verdirbst mir wirklich jeden Spaß. Gestern Abend habe ich ein totgeborenes Fohlen gefunden.«
Ich beugte mich von den beiden weg und unterdrückte einen Brechreiz.
»Verdammt, Wyrga. Wie oft müssen wir dir noch sagen, dass du das lassen sollst?«
»Immer und immer wieder«, blaffte die Alte. »Lasst mir doch meinen Spaß.«
Senera schnitt eine Grimasse. »Kommt, Janel, wir brechen auf. Mach das sauber, Wyrga.«
»Ich bin nicht deine Putzfrau«, sagte die Alte. »Mach es doch selbst weg.« Als ich aufstand, richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Ich kenne dich. Früher
kannte ich auch deine Mutter. Sie war eine Hure. Bist du auch eine?«
»Bei den Acht, was hat dich bloß zu einer so widerlichen Person gemacht?«, entgegnete ich. Da fiel mir ein, wo ich sie schon einmal gesehen hatte: Sie war die Frau, die sich beim Festbankett um das Feuer gekümmert und dabei hasserfüllte Blicke auf mich abgefeuert hatte.
»Ha! Ha, ha!«, gackerte sie. »So etwas! So eine gute Frage hat mir hier schon seit Jahren niemand mehr gestellt.« Sie deutete mit einem knochigen Finger auf mich. »Wenn du mich mal besuchen kommst, dann zeige ich es dir. Wirst schon sehen.«
»Wag es nicht, Wyrga«, fuhr Senera sie an. Sie zupfte an meinem Nachthemd. »Kommt jetzt. Lasst uns verschwinden, bevor ich noch etwas Unüberlegtes tue. Wyrga ist ein Liebling des Herzogs. Warum, entzieht sich meinem Verständnis.«
Die Alte zeigte grinsend ihr Gebiss. Sie schien noch keinen einzigen Zahn verloren zu haben. Tatsächlich sah es so aus, als bestünde es aus zu vielen, durchweg spitzen Zähnen. »Ihm gefällt, was ich mit meinem Mund anstellen kann.«
»Das bezweifle ich doch sehr. Du bist ekelhaft.«
Obwohl ich noch gar nicht richtig angezogen war, brach ich sofort auf. Es machte mir nichts aus, Kleidung zurückzulassen, die mir nicht gehörte.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich, als wir außer Hörweite waren.
»Ich mache mich wieder an meine Arbeit, mit der Ihr ziemlich sicher nichts zu tun haben wollt. Und da ich es nicht wage, Euch hier allein zu lassen, bringe ich Euch bei den Ehefrauen des Herzogs unter. Es ist der am besten bewachte Bereich im gesamten Palast. Dort seid Ihr sicher.«
»Wartet mal. Was? Ich will nicht …«
Senera blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Zwei Minuten. Nicht einmal zwei Minuten lang wart Ihr mit den Männern hier allein, bevor Ihr in Schwierigkeiten geraten seid. Ich weiß nicht, warum es diesmal anders laufen sollte. Und weder Bruder Qaun noch Lord Var oder ich werden in der Nähe sein, um Eure Hand zu heilen, wenn Ihr sie Euch wieder an jemandes Gesicht brecht. Daher möchte ich Euch an einen sicheren Ort bringen.«
»Na schön.«
»Vielleicht gefällt es Euch dort ja sogar. Ein paar der Frauen geben sich zwar der
lächerlichen Hoffnung hin, der Herzog könnte ihnen ein Kind machen, aber die meisten genießen einfach, dass sie nicht gezwungen werden, sich mit den Männern abzugeben. Sie besitzen sogar Bücher.«
»Klingt fantastisch. Einen Stall haben sie nicht zufällig …?«
»In diesem Klima? Nein. Ehrlich gesagt läuft es mir kalt den Rücken runter, wenn ich darüber nachdenke, wo Wyrga ein Pferd gefunden haben mag. Vielleicht hat sie ja gelogen. Das Einzige, was in dieser Gegend einem Reittier ähnelt, sind die Schneehyänen, die vor die Schlitten gespannt werden. Und hin und wieder sieht man mal ein Mammut.«
Ich nickte und rief mir in Erinnerung, dass ich den Speer finden und herausbekommen musste, wer Bruder Qauns Gaesch (und natürlich auch Bruder Qaun selbst) hatte. Danach würde ich fliehen.
Je früher, desto besser.
Bislang konnte ich mir nicht vorstellen, wie der Palast von außen aussehen mochte. Die Wände waren allesamt aus dem gleichen fensterlosen schwarzen Stein errichtet. Ich kam mir vor wie in einem endlosen, verschlungenen Labyrinth, das von magischen Lichtern erhellt wurde. Trotzdem wirkte der Palast gut durchlüftet, was vermutlich auf Magie zurückzuführen war. Tatsächlich konnte ich mir gut vorstellen, dass ein Trupp Diener ständig durch die Säle patrouillierte und auf die Unterseite jedes Stuhls sowie die Rückseiten sämtlicher Gemälde diese verdammten Luftzeichen malte.
Der bewachte Eingang zum Quartier der Ehefrauen führte in eine riesige Halle. Eine Wand bestand aus demselben transparenten Kristallmaterial, das ich bereits aus dem Hauptspeisesaal kannte. Mehrere Balkone durchbrachen die fast unsichtbare in den blaugrünen Himmel ragende Fläche. Glitzernde Wasserbecken und blühende Blumen säumten die Halle. Der Raum sah aus wie eine flauschige, komfortable Winterlandschaft. Überall lagen Kissen, Felle und alle erdenklichen Seidenstoffe verstreut.
Obwohl ich nicht leicht fror, spürte ich die Kälte. Die Ehefrauen hingegen schienen sie nicht zu bemerken. Ich war ein bisschen jünger als die jüngste von ihnen, und keine war älter als Ninavis. Sie trugen eisgraue Farben und waren ausnahmslos blass, nicht
unbedingt attraktiv.
»Keine Männer?«, flüsterte ich Senera zu.
Sie bedachte mich mit einem eigenartigen Blick, den ich nicht recht deuten konnte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, die haben hier keinen Zutritt. Abgesehen von Herzog Kaen kommt kein Mann näher an sie heran als die Wächter draußen. Und selbst die dürfen nicht herein, wenn der Herzog hier ist. Er besteht darauf, das einzige Vergnügen für seine Frauen zu sein.«
Mir blieb vor Überraschung fast die Luft weg. »Ähm, aber … äh …«
Senera konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ja?«
»Hat ihm denn niemand gesagt, dass wir dafür keine Männer brauchen?«
Ich sah ein Funkeln in ihren Augen. »Verderbt ihnen nicht den Spaß. Hier drinnen gibt es mehrere Langzeitromanzen, aber nur, weil der Ehemann nicht zu ahnen scheint, dass so etwas überhaupt möglich ist.«
»Oh, ich würde nicht im Traum daran denken, ihm etwas davon zu erzählen.«
Eine Frau bemerkte uns und kam herüber. »Bringt Ihr uns das khorveschische Mädchen?« Sie schürzte die Lippen. »Ihr seht gar nicht aus wie eine Khorvescherin.«
»Vielen Dank«, erwiderte ich und meinte es auch so. »Ich fühle mich auch nicht wie eine.«
»Bikeinoh, darf ich Euch Janel vorstellen?« Senera schob mich auf sie zu. »Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr ein Auge auf sie haben könntet, solange ich weg bin.«
Die Frau hob eine Augenbraue. »Natürlich. Es ist ja nicht so, als hätten wir etwas Besseres zu tun, oder?« Ihrem Tonfall nach zu urteilen, herrschte eine gewisse Anspannung zwischen den beiden.
»Tut es einfach. Und gebt ihr etwas zum Anziehen. Wyrga ist heute früh in ihr Zimmer eingedrungen. Daher wage ich es nicht, sie dort zu lassen.«
Ich hätte darauf wetten können, dass das Zeichen, das die Frau machte, vor bösen Geistern schützen sollte.
Senera drehte sich zu mir um. »In ein paar Tagen bin ich wieder hier.«
»Wegen mir müsst Ihr Euch nicht beeilen.«
Sie verdrehte die Augen und ging.
»Wer ist diese Wyrga?«, fragte ich, als sie weg war.
Bikeinoh sah sich um, bevor sie antwortete. »Kaens Monster. Und die Dompteurin von Kaens anderen Monstern. Sie kümmert sich um die Tiere. Die Eisbären und Schneehyänen. Sie ist länger hier als ich, und sie ist schrecklich. Allerdings denken hier nicht alle so über sie. Daher würde ich an Eurer Stelle nicht allzu laut über sie herziehen.«
»Jemand mag sie? Das kann ich mir kaum vorstellen.«
Bikeinoh sah sich erneut um. »Wyrga behauptet, sie sei die letzte Hexenmutter.«
Ich blinzelte. »Hexenmutter? Was ist eine Hexenmutter?«
Eine weitere Ehefrau näherte sich. »Da haben wir also die neue khorveschische Gemahlin des Magiers, wie?« Sie schien ungefähr in meinem Alter zu sein und stolzierte mehr, als dass sie ging. Es war ihr offenbar wichtig, dass ich mir keine Illusionen über meinen Rang in der Hackordnung machte.
Ich warf ihr einen Seitenblick zu. »Ist das ein Problem?«
Die Frau zuckte die Achseln. »Nicht solange du dich von Azhen fernhältst.«
»Von wem?«
»Von meinem Ehemann«, erklärte sie. »Azhen Kaen.«
»Ach, komm schon, Veixizhau. Du bist Ehefrau Nummer achtundzwanzig. Glaubst du, er würde es überhaupt merken, wenn du nicht mehr da wärst?«
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»Nun, er würde es jedenfalls nicht merken, wenn du
weg wärst. Wie viele Jahre bist du jetzt schon mit ihm verheiratet und hast immer noch kein Kind?«
»Wieso glaubst du, dass mir das etwas ausmacht?«
»Das sollte es. Wenn er mich weiter so oft zu sich ins Bett holt, werde ich bald seine erste Frau sein.« Veixizhau wackelte mit den Augenbrauen und schlenderte mit übertriebenem Hüftschwung davon. Es waren wirklich schöne Hüften, was man angesichts ihrer Persönlichkeit jedoch leicht übersehen konnte.
Ich schaute ihr blinzelnd hinterher. »Sie scheint nett zu sein.«
»Macht Euch wegen ihr keine Sorgen. Sie ärgert sich nur, weil sie noch nicht schwanger ist.« Bikeinoh lachte und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Als ob wir je ein Kind von ihm empfangen würden. Kaen möchte, dass Exidhar seinen Titel erbt. Damit stellt er sicher, dass die Klans keine Attentäter auf ihn ansetzen.«
»Wie meint Ihr das?«
»Habt Ihr den Sohn des Hons schon kennengelernt?«
Ich dachte an unsere mehr als unglückliche Begegnung zurück. »Ja, habe ich.« Ich überlegte einen Moment. »Sie möchten nicht, dass Exidhar seine Nachfolge antritt, weil er ein halber Khorvescher ist, oder?«
Da ich zu meinem Leidwesen gerade erst erfahren hatte, dass ich selbst mindestens zur Hälfte Khorvescherin war, interessierte mich die Antwort. Würde ich ab jetzt nicht nur wegen meines Geschlechts mit Vorurteilen zu kämpfen haben?
»Ja, es war ein schrecklicher Skandal, als sich der Hon eine Khorvescherin zur Frau nahm. So schlimm, dass die Klans meinten, sie müssten irgendetwas
dagegen tun. Es heißt, ihr Geist spuke immer noch in den Gängen unter dem Palast herum. Wenn man in die Lagerräume hinuntergeht und die Ohren spitzt, kann man sie schreien hören.« Sie kicherte. »Nicht dass wir je in die Lagerräume hinunterdürften.«
»Wieso haben sie die Frau getötet? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, den Herzog und seinen Sohn zu beseitigen?«
»Den Hon«, stellte Bikeinoh richtig.
»Also gut, den Hon.«
»Ja, sie haben versucht, ihn zu töten. Als Azhen Kaen damit begann, die alten Traditionen gesetzlich zu verbieten und von Bildung und Bürgerrechten zu sprechen, sahen die Klanführer ihre Chance gekommen. Azhen und Exidhar haben überlebt, Azhens Frau Xivan nicht.« Bikeinoh verzog das Gesicht. »Mein ganzes Leben lang hat mein Vater immer gesagt, die Kaens wären zu weich.
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Sie hätten zu viel quurisches Blut in ihren Adern. Nun, in dieser Hinsicht haben die Klans ganze Arbeit geleistet. Die Ermordung seiner Frau hat den Hon eisenhart gemacht. Und bei Chertog! Er hat uns wirklich dafür büßen lassen. Er hat die Simoshgra ausfindig gemacht und den gesamten Klan ausgelöscht. Bis auf das letzte Mitglied. Als wir davon erfuhren, habe ich zu meinem Vater gesagt, dass wir Kaen besser unserer Treue versichern und ihm demonstrieren sollten, wie leid uns das alles tut. Andernfalls hätte er es nicht bei den Simoshgra belassen. Das ist es, was ich bin, was all diese Frauen sind: eine Versicherung. Seitdem bin ich hier.«
»Das tut mir leid.«
»So schlimm ist es nicht. Zumindest hatte ich nie einen Grund, mich bei Suless darüber zu beklagen.«
»Nein, das kann ich mir vorstellen.« Ich sah mich im Raum um. Alles hier wirkte sehr
verhätschelt und äußerst langweilig. »Diese vielen Frauen halten ihn bestimmt ganz schön auf Trab.«
»Aber nein«, widersprach Bikeinoh und lachte. »Ich glaube, er würde am liebsten vergessen, dass wir existieren. Von Zeit zu Zeit erinnert er sich zwar an uns und tut seine Pflicht, aber ich glaube, wenn wir ihm einen Anlass gäben, würde er uns nur zu gern mit Sack und Pack zu unseren Familien zurückschicken.«
»Wäre das nicht besser?«
Sie schaute mich mit großen Augen an. »Nein.«
Ich verstand es nicht. Zu Hause in Jorat gab es nicht viele arrangierte Ehen, doch sie konnten funktionieren, wenn sich die Familien bei der Auswahl der Partner Mühe gaben. Erzwungene Ehen mit mehreren Partnern waren dagegen ein Unding. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Partner als Saelen fühlen und in eine andere Beziehung … abwandern würde, war so groß, dass eine derartige Verbindung als unklug galt. Und wenn ein Ehepartner seine Gefährten oder Gefährtinnen einsperren würde, damit sie ihn nicht verließen, würde derjenige als Thorra gelten. Und das wollte niemand.
Natürlich konnte es sein, dass diese Frauen gar kein Interesse daran hatten abzuwandern. Bikeinoh schien sich in ihrer Situation ganz wohl zu fühlen. Das sagte einiges darüber aus, wie die Frauen im Rest von Yor behandelt wurden.
»Ihr habt noch nicht gefrühstückt, oder?«, fuhr Bikeinoh fort. »Warum gehen wir nicht …?«
Während Bikeinoh das sagte, kam eine weitere Ehefrau zu uns gelaufen. Sie war ganz außer Atem. Ihre gescheckte Haut ließ vermuten, dass sich in ihrem Stammbaum wenigstens ein oder zwei der zahlreichen Jorater fanden, die vor Jahrzehnten während der Besatzung dieser Region in der quurischen Armee gedient hatten. »Ihr seid das neue Mädchen, richtig?«
Ich sah keinen Sinn darin, sie zu korrigieren. »Wie kann ich Euch helfen?«
»Nicht mir«, sagte sie. »Der Hon möchte Euch sehen. Jetzt sofort.«