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Der Sohn des Kaisers
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem ich daran erinnert worden war, wie gern ich Khaeriel auf unserer Seite habe
»Jungfrauen sind ›wertvoll‹?« Kihrin machte ein finsteres Gesicht. »Das gefällt mir gar nicht.«
Janel zuckte die Achseln. »Es ist nicht so, wie du denkst.« Sie zögerte kurz. »Vorausgesetzt, du denkst, es wäre etwas Sexuelles.«
»Nun … Ich …« Kihrin räusperte sich. »Freut mich zu hören.«
Ninavis zwinkerte ihm zu.
»Dann glaubst du also, es stimmt, was Kaen über Morios und die Prophezeiung gesagt hast?«, wechselte Kihrin das Thema.
»Tue ich, ja«, erwiderte Janel. »Du und ich, wir sind beide zwanzig. Und da ich die Löwin bin …«
»Bin ich der Falke. Das Wappensymbol des Hauses D’Mon ist ein Falke. Richtig.« Kihrin lachte. »Und so, wie die Prophezeiungen den zeitlichen Ablauf darstellen, wird Morios demnächst erwachen und zu einem Spaziergang aufbrechen.«
»Ich hasse Prophezeiungen«, sagte Janel. »Habe ich bereits erwähnt, wie sehr ich sie hasse?«
»Am schlimmsten sind sie, wenn sie sich bewahrheiten«, sagte Dorna. »Vor uns allen liegt eine dunkle Zeit.«
Ein langes, bedrückendes Schweigen breitete sich aus.
»Dann werde ich einfach mal, äh …« Qaun deutete auf sein Buch.
»Ach, richtig«, sagte Kihrin. »Ja, bitte.«
Qauns Schilderung. Im Eispalast, Yor, Quur.
Als Bruder Qaun am nächsten Morgen erwachte, erkannte er, dass er am Tisch in der Bibliothek eingeschlafen war und seine Hand vollgesabbert hatte. Während er sich blinzelnd die Augen rieb, fiel ihm wieder ein, was er in der vergangenen Nacht getan hatte. Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, dass er seit mehr als vierundzwanzig Stunden
nichts gegessen hatte.
Qaun begann zu verstehen, wieso man bei der Verwendung des Artefakts sterben konnte.
»Du hast ganz schön geschuftet«, sagte eine tiefe Stimme.
Erschrocken schaute Bruder Qaun zu einem großen, breitschultrigen Mann hinüber, der die Bücherstapel inspizierte. Die Augen des dunkelhäutigen Glatzkopfes waren noch finsterer als seine schwarze Kleidung.
»Ihr seid ein Hochadliger aus dem Haus D’Lorus«, platzte Bruder Qaun ohne Nachdenken heraus.
»Und du bist ein Vishai-Priester. Wenn wir jetzt noch eine Leichenhalle und eine teure Schenke finden, haben wir alles, was man für einen guten Witz braucht.« Er neigte den Kopf. »Ich bin Thurvishar. Ich glaube, du solltest diesen Stein nicht einfach so herumliegen lassen. Obwohl man sie angeblich nur schwer stehlen kann.«
Bruder Qaun bemerkte, dass Weltenfeuer gut sichtbar auf dem Tisch lag, nur eine Haaresbreite von seinen Fingern entfernt. Er nahm den Stein schnell an sich und beschloss, sich eine gute Aufbewahrungsmöglichkeit für ihn zu überlegen. Vielleicht wäre es das Beste, ihn wie Senera an einer Halskette zu tragen.
»Wisst Ihr, ähm …« Bruder Qaun räusperte sich. »Ihr habt nicht zufällig eine Ahnung, wo ich etwas zu essen finden könnte?«
»Mit ›etwas zu essen‹ meinst du wahrscheinlich Speisen, die ein Vishai-Priester aus Eamithon genießbar finden würde. So etwas gibt es hier in Yor nicht.«
»Ich kann kochen und hätte kein Problem damit, mir selbst etwas zuzubereiten, wenn ich die nötigen Zutaten hätte.«
»An die wirst du hier auch nicht so einfach kommen. Aber folge mir. Zufällig kenne ich eine wenig benutzte Küche.« Er sah mich an. »Mach dir keine Sorgen wegen deines Gaeschs. Das hier ist kein Fluchtversuch. Ich werde Relos Var wissen lassen, wohin du gehst.«
»Oh, gut.« Bruder Qaun zögerte. »Wohin gehen wir denn?«
»Nach Shadrag Gor.«
Erst als das Saj-Brot bereits fast fertiggebacken war und ein Auberginen-Curry auf dem Herd köchelte, erkannte Bruder Qaun, wie verdächtig Thurvishar D’Lorus’ Gastfreundschaft war. Noch schlimmer war, dass es dem Zauberer, der ihm in der Küche Gesellschaft leistete,
sofort aufzufallen schien, als Qaun seinen Fehler endlich bemerkte. »Als übermäßig paranoid kann man dich wirklich nicht bezeichnen«, kommentierte Thurvishar. »Das ist ehrlich gesagt ziemlich erfrischend.«
»Oh, ich habe nicht … Ich meine …«
»Du brauchst keine schändlichen Tricks zu befürchten«, versprach Thurvishar. »Gelegentlich unterhalte ich mich gern mit Leuten, die nicht andauernd darüber nachdenken, wie man auf neue und interessante Weise die Weltherrschaft an sich reißen könnte.«
Bruder Qaun lachte leise. »Ich dachte, Ihr würdet vielleicht versuchen … Ich weiß nicht. Ich meine, Eure Familie hat einen gewissen Ruf.«
»Ach ja?«, fragte ein Mann, der in der Tür stand. »Das habe ich noch gar nicht bemerkt.«
Der Neuankömmling war ebenfalls von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Seine blasse Haut deutete auf eine chronische Erkrankung hin, und er war dünner als Thurvishar. Doch seine schwarzen Augen wirkten wie Löcher in der Welt.
Etwas an ihm verursachte Bruder Qaun eine Gänsehaut.
»Ist das Abendessen bald fertig? Ich brauche unbedingt etwas zwischen den Zähnen.« Er musterte Bruder Qaun, wie ein Verhungernder ein Dessert ansehen würde.
»Er gehört Relos Var«, merkte Thurvishar an.
»Var wird es nicht merken.«
»Ich glaube, in seinem Fall schon.«
Der andere Mann seufzte. »Ja, du hast recht. Eines Tages werde ich wegen ihm etwas unternehmen müssen. In der Zwischenzeit bin ich in meinem Arbeitszimmer. Stör mich nicht.«
Als er den Raum verlassen hatte, blies Thurvishar den Atem aus.
Obwohl Bruder Qaun nicht wusste, welches Schicksal ihm erspart geblieben war, fühlte er sich ebenfalls erleichtert. »Es scheint, als wäre dieser Ort nicht annähernd so sicher, wie Ihr mir weismachen wollt«, sagte er schließlich.
»Normalerweise kommt er nie in die Küche. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er hier vorbeischaut.« Thurvishar wirkte verärgert.
»Wer war das?«
»Es ist besser, wenn du das nicht weißt. Andernfalls müsste ich Relos Var bitten,
dieses Wissen auf die Liste der Themen zu setzen, über die du mit niemandem sprechen darfst, und das will keiner von uns.«
Die beiden Männer sahen einander an.
Nach einer Weile wandte Bruder Qaun sich wieder dem Herd zu. »Danke, dass Ihr mich hergebracht habt. Ich bin sicher, die Hausdiener in Yor hätten mich nicht in die Nähe der Küche gelassen. Und selbst wenn, hätten sie kein gutes Gemüse gehabt.«
»Und es gibt hier noch ein paar andere Vorteile«, merkte Thurvishar an.
Qaun zögerte. »Was meint Ihr?«
»Ihr seid doch ein gebildeter Mann. Ihr müsst wissen, wo wir uns befinden.«
Der Priester schluckte. »Ich habe Geschichten gehört. Aber manchmal sind Geschichten … eben nur Geschichten.«
»Auf diesen Ort trifft das nicht zu. Shadrag Gor ist nicht richtig in der Zeit verankert. Etwas ist hier geschehen, das die Existenz dieses Palastes im Universum beschädigt hat. Deshalb vergeht die Zeit hier schneller. Meinem Meister ist das recht, weil es ihm ermöglicht, ungestört seinen Forschungen nachzugehen. Man kann hier Tage, Wochen und Monate verbringen, die Außenstehenden wie Minuten oder Sekunden vorkommen. Wenn man einen Ort finden wollte, wo man sich möglichst eingehend mit einem Eckstein beschäftigen kann, wäre Shadrag Gor eine hervorragende Option.«
»Ich weiß nicht …«, begann Bruder Qaun, doch dann kam ihm ein Gedanke. Wenn die Zeit hier wirklich so schnell verging, würde ihm die hellseherische Beobachtung der Außenwelt vorkommen, als betrachtete er ein Stillleben. Und das wäre gut, da sein größtes Problem die Geschwindigkeit war, mit der die Welt voranschritt. »Hmm.«
»Das Angebot steht«, sagte Thurvishar. »Allerdings müsstest du ständig mit mir zusammenbleiben, da es zu gefährlich für dich wäre, allein hierherzukommen.«
»Nun, das klingt gar nicht mal so schlimm.« Er hätte sich am liebsten geohrfeigt. Das war ganz anders herausgekommen, als er es beabsichtigt hatte. »Ich meine natürlich, wenn Relos Var damit einverstanden ist. Aber da ich hier viel schneller lernen würde, glaube ich nicht, dass er etwas dagegen einzuwenden hat. Allerdings möchte ich Euch um einen Gefallen bitten.«
»Nur zu.«
»Könntet Ihr herausfinden, wie es Janel geht? Ich mache mir Sorgen um sie. Das alles … ist sicher nicht leicht für sie.«
»Vielleicht nicht, aber sie ist stahlhart.« Thurvishar nickte. »Trotzdem werde ich gern nach ihr sehen.«
»Vielen Dank«, sagte Bruder Qaun und kümmerte sich wieder um das Essen.
Thurvishar hatte recht gehabt: Es fiel Bruder Qaun wesentlich leichter, das Artefakt zu studieren, wenn er sich keine Sorgen darüber machen musste, dass sich alles bewegte. Er konnte sogar Pausen einlegen, um sich einen Tee zu machen, da sich die Position der Zielperson während seiner Abwesenheit nur minimal veränderte.
Außerdem erwies sich Thurvishar als großartiger Lerngehilfe. Er hielt sich still abseits und unterbrach ihn nur gelegentlich, wenn er mit Tee oder dem in Khorvesch so beliebten schwarzen Kaffee aus der Küche zurückkehrte. Im Leuchtturm ließ es sich gut und sicher leben, und obwohl Bruder Qaun wusste, dass er zum Baden und Schlafen nach Yor zurückkehren musste, kam es ihm vor, als wäre er wieder in der Bibliothek im Tempel des Lichts.
Er fand schnell heraus, dass Relos Vars Annahme, der Stein würde von Feuer angezogen, nicht stimmte. Tatsächlich fokussierte Weltenfeuer auf hohe Temperaturen, aber es spielte keine Rolle, ob der anvisierte Gegenstand brannte. Der Temperaturunterschied zwischen dem Gegenstand und seiner Umgebung musste lediglich groß genug sein. Zwei gleich heiße Objekte ließen sich nicht auseinanderhalten. Er konnte zwar einzelne Personen mittels ihrer Körperwärme anvisieren, aber er musste ständig von einer Person zur nächsten springen, und es konnte Wochen dauern, bis er die richtige fand.
Doch nicht alle hatten die gleiche Temperatur.
Da er den Stein immer präziser beherrschen konnte, schaffte er es bald, Personen aufzuspüren, die wärmer waren als andere. Darunter auch Janel, als sie gerade frühstückte, und Relos Var, der eine so enorm hohe Körpertemperatur hatte, dass Qaun glaubte, ihn überall aufspüren zu können. Tatsächlich war Relos Var so heiß, dass er sich entweder in einem permanenten Zustand der Selbstentzündung befand oder … gar kein Mensch war.
Qaun hatte keine Ahnung, was er mit dieser Erkenntnis anfangen sollte.
Einige andere Personen im Palast erzeugten ähnliche Temperaturspitzen. Die alte Frau, die die Bären dressierte, war ebenso heiß wie Relos Var, und dasselbe galt eigenartigerweise für ein Eisbärenjunges.
Bruder Qaun konnte sich die Temperaturunterschiede nicht erklären, aber er machte sich Notizen, um sich später damit zu befassen. Zumindest sollte ihm dieses Wissen dabei helfen, die betreffenden Leute zu finden. Es waren also durchaus wichtige Erkenntnisse.
Während er mit dem Stein übte, machte er noch zwei weitere überraschende Entdeckungen. Zuerst fand er heraus, dass er mit jeder Hitzequelle, die Weltenfeuer ihm zeigte, Magie wirken konnte.
Es geschah, als er Seneras Haus suchte. Er hatte sich das ein oder andere über die Lage der Hütte zusammengereimt und beschlossen, sein Glück zu versuchen. Sicher würden in ihrem Kamin zumindest ein paar warme Kohlen liegen. Als er die Hütte tatsächlich fand, war es darin jedoch zu dunkel, um etwas zu erkennen. Instinktiv bewegte er die Hand, um Licht herbeizuzaubern – das prompt in Seneras Hütte erschien.
Aus dieser Entdeckung ergab sich die zweite, dass Relos Var sich in Seneras Hütte mit seiner Vané-Freundin traf. Denn genau in diesem Moment traten die beiden ein und erstarrten.
Bruder Qaun löschte das Licht sofort, riss sein Bewusstsein von der magischen Suche los und kehrte in das Arbeitszimmer im Leuchtturm zurück. Er ließ sich an die Stuhllehne zurücksinken, sein Puls raste vor Angst. Hatten die beiden das Licht gesehen? Und wenn es so war, wussten sie, was es bedeutete?
»Geht es dir gut?«, fragte Thurvishar ihn.
Bruder Qaun wollte ihm schon sagen, was er gesehen hatte, doch dann schloss er den Mund wieder, weil er Angst hatte, sein Geständnis könnte gegen seine Gaesch-Bindung verstoßen. »Was wisst Ihr über die Vané?«, fragte er stattdessen.
»Äh … sie sind mächtig. Unsterblich. Aber meinst du die kirpischen oder die manolischen Vané? Die kirpischen wurden von uns vernichtend geschlagen, und die manolischen haben es uns zehnfach zurückgezahlt. Weder die einen noch die anderen mögen Quur sonderlich gerne. Und wer könnte es ihnen verdenken?«
»Sie sehen alle sehr verschieden aus, oder? Ich meine, man kann sie an ihrem Äußeren unterscheiden, richtig? Ihre Federwolkenhaare haben die unterschiedlichsten Farben.«
»Im Großen und Ganzen ja, aber ich glaube, wir können davon ausgehen, dass sich manche ihrer äußeren Merkmale wiederholen. Hast du jemand Bestimmten gesehen?«
»Ich weiß nicht«, gestand Bruder Qaun. »Hat die Königin der Vané blaue Haare?«
»Ob die Königin der Vané …? Du stellst wirklich sehr interessante Fragen. Einen Moment, ich glaube, ich weiß die Antwort.« Thurvishar ging zu einem Bücherregal und kehrte gleich darauf mit einem schmalen Band zurück, auf dem Die Adelsgeschlechter der Höheren Völker
stand. »Dann wollen wir mal sehen … Die aktuelle Königin heißt Miyane, und sie hat tatsächlich blaue Haare. Federwolkenhaare, aber damit war ja zu rechnen, da sie zur Hälfte eine kirpische Vané ist.« Er hob eine Augenbraue. »Weshalb?«
Qaun zuckte zusammen. »Das kann ich Euch nicht verraten.«
»Ich verstehe. Nun, wenn du Königin Miyane gesehen hast, wird es sicher jemand wissen wollen, und sei es nur wegen ihres Ehemanns, König Kelanis. Sie sind frisch verheiratet, daher weiß niemand viel über ihn.«
Bruder Qaun biss sich auf die Unterlippe. »Könntet Ihr mich bitte zum Palast zurückbringen? Ich müsste, ähm … ein paar Dinge überprüfen.«
Wenn er sich beeilte, könnte er vielleicht sogar noch das Gespräch zwischen Relos Var und der Königin der Vané mithören.
»Habt Ihr einen Lichtblitz bemerkt?«, fragte die Frauenstimme.
Relos Var betrat mit gerunzelter Stirn die Hütte und zündete mit einer Handbewegung mehrere Kerzen im Zimmer an. »Ja, aber ich bin mir nicht sicher …« Er unterbrach sich und suchte den Raum ab. »Hier ist niemand. Vielleicht gab es irgendwo in der Ferne ein Wetterleuchten.«
»Ich glaube, das hier war vielleicht keine gute Idee«, sagte die Frau und machte Anstalten, wieder zu gehen.
»Es ist alles in Ordnung«, beruhigte Var sie. »Ihr verstoßt gegen keine Gesetze – oder irgendwelche Regeln.«
»Ihr könnt Euch sicher sein, dass ich das weiß«, erwiderte sie. »Denn wenn ich das täte, würden wir uns überhaupt nicht miteinander unterhalten.« Sie machte eine ausladende
Geste. »Was ist das hier?«
»Eine meiner Schülerinnen benutzt diese Hütte als Rückzugsort. Im Moment ist sie unterwegs und erledigt ein paar Dinge. Wir sind also vor neugierigen Blicken sicher.«
217
Die Vané schluckte und schaute missmutig zur Seite. Sie schien eine junge Frau zu sein – allerdings ließ sie der angespannte Zug um ihre Augen und den Mund älter erscheinen. »Habt Ihr ihn gefunden?«
»Bitte, setzt Euch. Hättet Ihr gerne Kaffee oder Tee? Es gibt auch Branntwein, wenn Ihr den lieber mögt.«
Sie zog einen Stuhl zu sich heran und nahm Platz. »Habt Ihr ihn gefunden?«
Relos Var zögerte mit der Antwort, während er selbst Platz nahm. »Ja.«
Sie atmete erleichtert auf.
»Von seinem momentanen Aufenthaltsort kann ich ihn nicht wegholen. Aber macht Euch keine Sorgen. Er ist in Sicherheit und bei Leuten, die ihn gut behandeln.«
Die Vané riss zornig die Augen auf.
Relos Var hob eine Hand. »Das könnte für uns von Vorteil sein. Damit ersparen wir uns das Hin und Her, das nötig wäre, um meine diversen ›Freunde‹ voneinander fernzuhalten. Ich sollte Khaemezra ein Geschenk als Dankeschön schicken.«
»Khaemezra!« Die Frau bedachte Var mit einem Blick, der Götter hätte töten können.
»Ja.« Er lächelte. »Von Familienmitgliedern verraten zu werden, ist das Schlimmste, nicht wahr?«
Ihr wütender Gesichtsausdruck entspannte sich, und sie lachte leise. »So kann man es auch ausdrücken. Also hat sie meinen …« Sie verzog das Gesicht und presste die Lippen zusammen.
Bruder Qaun erschrak. Er fragte sich, ob sie aus Vorsicht nicht weitersprach, oder ob sie daran gehindert wurde, ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen. Mittlerweile achtete er auf solche Feinheiten.
Relos Var sah die Frau voller Mitgefühl an. »Es tut mir so leid. Ich wollte nie, dass es sich für Euch so entwickelt.«
»Ich mache mir selbst Vorwürfe, weil ich geglaubt habe, die Götter könnten auch nur das geringste Interesse daran haben, eine andere Lösung zu finden. Aber nein … Alle
anderen Völker haben leiden müssen. Wieso jetzt aufhören, wenn noch eines übrig ist?« Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen. »Da wir gerade von unerledigten Aufgaben sprechen: Habt Ihr Valathea?«
Var lächelte und neigte den Kopf. »Ja, habe ich. Aber es war gar nicht so einfach, sie den devoranischen Priestern wegzunehmen, das kann ich Euch sagen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, was sie mit ihrer Entführung bezweckt haben.«
»Ehrlich gesagt glaube ich, dass sie es selbst nicht verstanden. Sie wussten nur, dass sie wichtig ist. Das ist übrigens der andere Grund, weshalb ich wollte, dass wir uns hier treffen.« Er ging zu einem Vorratsschrank und zog einen dreieckigen, in ein Tuch eingeschlagenen Gegenstand heraus. Er stellte ihn auf den großen Tisch und wickelte ihn aus.
Qaun blinzelte überrascht. Es war eine Harfe.
Sie wirkte altmodisch, aber elegant, war doppelt besaitet und aus hochwertigem und schönem altem Holz gefertigt. Die blauhaarige Frau stand auf, als Relos Var sie zu ihr hinüberbrachte, und strich mit einer Hand über den Hals des Instruments.
»Valathea«, flüsterte sie. »Wie schön, Euch wiederzusehen, meine Königin.«
»Darf ich fragen, Euer Majestät, wieso Ihr sie Euch nicht schon früher genommen habt? Ich meine, Ihr hattet sie doch monatelang bei Euch.«
»Relos … ich darf die Familie nicht bestehlen. Allerdings hat mir niemand gesagt, dass ich etwas zurückbringen muss, das bereits von jemand anderem entwendet wurde.«
»Was werdet Ihr mit ihr machen?«, erkundigte sich Var.
»Fürs Erste werde ich sie bei Euch lassen«, erwiderte die Frau. »Ich habe keinen sicheren Aufbewahrungsort für sie. Als die Priester sie gestohlen haben, bin ich fast … nun … Es stellte sich heraus, dass man mich noch härter treffen konnte, als es bereits geschehen war. Aber es hat sie einige Mühe gekostet.« Sie streckte die Arme aus und nahm Vars Hände. »Versprecht mir, dass Ihr ihm nichts antun werdet, Relos.«
»Bitte glaubt mir, Euer Majestät, dass ich nicht vorhabe, Eurem Sohn ein Leid anzutun. Er ist viel zu wichtig.« Relos Var lächelte. »Er wird uns helfen, Quur zu zerstören. Wir brauchen ihn.«
Die Frau nahm sein Versprechen auf wie eine Ertrinkende, die ihre Hand nach dem rettenden Ufer ausstreckt. Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, nickte sie und beugte sich vor, um Relos Var auf die Wange zu küssen. »Ich danke Euch.«
Dann malte sie Runen in die Luft und öffnete damit ein Portal, durch das sie an den Ort zurückkehrte, wo sie ihr Leben verbrachte. Irgendwo in Manol, nahm Bruder Qaun an.
Da er noch einen Moment blieb, sah er, wie Relos Var sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und leise knurrend in die Ferne blickte. Schließlich zerquetschte der Zauberer den Metallkelch, den er in der Hand hielt, und warf ihn ins Feuer.