44  Der Hof der Wahrheit
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Kihrin aufgefallen war, dass er Heimweh hatte
Ninavis kam mit einer Kanne Kaffee aus der Küche zurück. »Was habe ich verpasst?«
»Dass das alles eine Falle von Relos Var ist und ich ihn auf jeden Fall töten werde. Außerdem ist die Frau von Herzog Kaen zwar tot, läuft aber immer noch herum.« Kihrin nahm ihr den Kaffee ab und schenkte sich eine Tasse ein.
»Ihr habt ihm von Relos Var erzählt?«
Ninavis drehte sich zu Kihrin um und sah ihn an. »Und du bist immer noch hier?«
»Machst du Witze? Wie soll ich denn sonst herausfinden, wo er als Nächstes sein wird?« 227 Kihrin wandte sich zu Janel um. »Ist Xivan Kaen eine Vampirin wie Gadrith?«
»Etwas Ähnliches«, antwortete Janel. »Glaube ich zumindest. Allerdings hat sie nicht so viel mit Zauberei am Hut.«
»Das ist doch schon mal was«, kommentierte Kihrin.
»Ich weiß nicht. Sie kann unglaublich gut mit dem Schwert umgehen.«
»Außerdem muss man doch gar nichts von Zauberei verstehen, wenn man anderer Leute Seelen verschlingen kann, oder?«, fragte Qaun. Dann blätterte er zum nächsten Abschnitt weiter und begann vorzulesen.
Qauns Schilderung. Im Eispalast, Yor, Quur.
Bruder Qaun fiel auf die Knie, als die Wächter ihn in die große Halle stießen.
»Muss das sein?«, fragte Thurvishar D’Lorus.
Qaun wischte sich das Blut vom Mund und versuchte aufzustehen. Einer der Wächter, der Qaun offenbar im Liegen lieber mochte, drückte ihm das stumpfe Ende seines Speers in den Rücken und warf ihn erneut der Länge nach zu Boden.
Bruder Qaun hätte klar sein müssen, dass er der Erste war, den man wegen Janels Verschwinden verdächtigen würde.
Von seiner Position auf dem Boden aus sah er nur wenig von der geometrischen Perfektion der großen Palasthalle. Die Luft war kalt und roch frisch. Qaun hatte das Gefühl, an einem sonnigen Wintertag in einer Kathedrale zu sein, in der Frost und Schnee verehrt wurden.
Wären da nicht all die Yorer gewesen, die sich zusammengefunden hatten, um seine Gesinnung zu überprüfen.
Und wäre da nicht der Herzog gewesen, der neben der riesigen Feuerstelle in der Mitte des Raums stand. Zu seiner Bestürzung konnte Qaun weder Relos Var noch Senera entdecken.
Er hatte auf ihre Anwesenheit gezählt – und darauf, dass Senera den Namen aller Dinge verwenden würde, um seine Unschuld zu beweisen. Die beiden hätten die Wahrheit mit Leichtigkeit ans Licht bringen können.
»Wir haben in allen Räumen nachgesehen, Euer Gnaden«, sagte der Wächter. »Sie befindet sich nicht im Palast.«
Der Herzog machte ein finsteres Gesicht. »Wer hat Janel zuletzt gesehen?« Die Frage war an die mehreren Dutzend Frauen an seiner Seite gerichtet.
Eine von ihnen, die genauso alt wie der Herzog war, trat vor. »Veixizhau hat Janel nach ihrer Rückkehr willkommen geheißen.«
Eine jüngere Frau – vermutlich Veixizhau – fuhr herum und funkelte die andere böse an. Dann trat sie ebenfalls vor. »Ich bin gegangen, nachdem Segra ihr das Essen gebracht hat, mein Gemahl, aber ich muss sagen, dass Janel unglücklich wirkte. Ist es möglich, dass sie nicht hier sein wollte? Der junge Mann ist ein Zauberer, nicht wahr? Hätte er ihr nicht bei der Flucht helfen können?«
Bruder Qaun brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie mit der junge Mann ihn gemeint hatte.
»Ich habe sie nicht gesehen, seit …« Der Wächter versetzte ihm einen Schlag.
Bruder Qaun hob eine Hand an sein Gesicht. In seinem Kiefer breitete sich ein dumpfes Pochen aus.
»Lass ihn antworten«, sagte der Herzog.
Bruder Qaun versuchte erneut aufzustehen. Er spürte eine Hand an seinem Arm – Thurvishar war herbeigekommen, um ihm aufzuhelfen. »Danke«, murmelte er.
»Sehr gern.«
Bruder Qaun wischte sich das Blut an seinem Mund mit dem Agolé ab. »Bei allem Respekt, Euer Gnaden, ich habe den Grafen seit mindestens …« Plötzlich wusste er nicht mehr, was er sagen wollte. War ein Tag vergangen? Oder zwei? Wie viele waren es gewesen? Er hatte den Überblick verloren. »Und ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie …« Er hielt inne. »Eine Flucht ist unmöglich.«
»Für dich«, sagte Herzog Kaen, »aber vielleicht nicht für sie.«
»Möglicherweise ist sie aus dem Fenster geklettert«, gab Veixizhau zu bedenken.
»Und dann?«, fragte Thurvishar. »Ist sie mitten in einem Schneesturm nur mit einer Unterhose bekleidet an der Palastmauer hinuntergerutscht? Ich bezweifle, dass sie selbst in Winterkleidung stark genug für so eine Klettertour gewesen wäre.«
»Ihr seid beide Zauberer«, blaffte Veixizhau. »Was habt Ihr mit ihr gemacht?«
»Wir dürfen gar nicht in Euren Wohnbereich.«
»Genug!«
Die Stimme des Herzogs brachte alle zum Schweigen. Die Schritte seiner Stiefel hallten vom Marmorboden wider, während er ein Stück in den Raum hineinging. Schließlich blieb er vor ein paar Männern stehen, die alle dabei gewesen waren, als Darzin D’Mon Qauns Aufzeichnungen verbrannt hatte. Darzin selbst war offensichtlich in die Hauptstadt zurückgekehrt.
»Sohn«, sagte der Herzog zu Exidhar, »hast du irgendetwas mit dieser Sache zu tun? Ich verstehe, dass diese Frau dich gekränkt hat, aber sie ist wichtig für meine Pläne.«
»Der Priester lügt wahrscheinlich«, unterbrach Sir Oreth. »Er beschützt sie immer …« Der Ritter verstummte, als der Herzog ihm in die Augen sah.
Kaen wandte sich wieder seinem Sohn zu.
Bruder Qaun merkte, dass er den Atem anhielt. Wenn Exidhar oder einer seiner Freunde bei Janels Verschwinden die Hand im Spiel gehabt hatte, schien ihm Exidhar derjenige zu sein, der es am ehesten zugeben würde. Sollte er den Herzog aber davon überzeugen, dass Bruder Qaun eine überschäumende Fantasie besaß oder – schlimmer noch – Janels Flucht deckte, steckte Qaun in Schwierigkeiten.
Der Priester zitterte, als er sich vorstellte, wie diese Angelegenheit für ihn enden könnte. Darüber, wie sie für Janel vielleicht bereits geendet hatte, wollte er erst gar nicht nachdenken.
»Nun?«
Exidhar blinzelte und warf einen panischen Blick zu seinen Freunden hinüber. »Vater, ich …« Er leckte sich die Lippen. »Ich hatte nichts damit zu tun, das schwöre ich dir. Ich wusste nicht …« Er sah zu den Ehefrauen hinüber.
Der Herzog seufzte. »Du willst damit sagen, dass du es nicht wusstest, deine Freunde aber schon.« Ohne Vorwarnung fuhr er herum und packte Sir Oreth an seinem Laevos.
Als der Ritter nach seinem Schwert greifen wollte, stellte er fest, dass ein halbes Dutzend Soldaten ihre Klingen auf ihn richteten.
»Es würde mir nichts ausmachen, dich in den Sturm hinauszuwerfen, Pferdemann«, sagte der Herzog. »Da du neu hier bist, wäre es für meinen Sohn kein Verlust, wenn ich dich töte. Erzähl mir also alles.«
Sir Oreth zögerte nicht. »Es war Darzin D’Mons Idee, mein Herr. Es sollte ein Streich sein, nichts weiter. Er sagte, der Schnee würde ihr nichts anhaben, weil sie eine Ogenra des Hauses D’Talus ist.« Auf dieses Geständnis hin erhob sich in der versammelten Menge zorniges Gemurmel. Auch Bruder Qaun war wütend, allerdings aus anderen Gründen. Janel war tatsächlich gegen Kälte immun, aber das hatte Darzin D’Mon nicht wissen können. Vielmehr musste er vom Gegenteil ausgegangen sein, da die Adelshäuser ihre Frauen nicht in Magie unterwiesen.
Das bedeutete, dass Darzin D’Mon aus Jux und Tollerei versucht hatte, Janel umzubringen. Sofern Sir Oreth nicht log. Gut möglich, dass es in Wirklichkeit seine Idee gewesen war.
»Und wie hast du dir Zutritt zum Quartier der Ehefrauen verschafft?«, verlangte der Herzog zu erfahren. »Ich will alle Einzelheiten darüber wissen.«
Bevor Oreth antworten konnte, stieß eine Frau einen Schrei aus, und alle drehten sich zum Haupteingang um.
Eine Tote betrat die Halle.
Man hätte sie als schön bezeichnen können, wenn sie nicht so offensichtlich leblos gewesen wäre. Die Frau sah aus wie eine wandelnde Leiche, die seit Jahren eingefroren war. Blaue Eiskristalle hingen wie winzige Juwelen an ihr. Das Eis und die Kälte hatten ihr Fleisch bis auf die Knochen ausgetrocknet.
Sie war keine Yorerin. Dafür war ihre Haut zu dunkel. Ihre Haare sahen aus wie schwarze Schlangen aus Wolle und waren mit silbernen Ringen und Nadeln zurückgebunden und festgesteckt. Sie trug eine Kampfrüstung aus silbernen Kettengliedern und funkelndem Stahl. Nichts an ihrer Erscheinung schien dem Hof des Herzogs angemessen.
Bis auf ihr Auftreten, um das sie jeder Herrscher beneidet hätte.
Zwei Frauen folgten ihr, wie Dienerinnen einer Kriegerkönigin. Eine der beiden war Janel.
Entsetztes Schweigen breitete sich in der großen Halle aus.
Xivan Kaen, die tote, aber nicht verweste Herzogin von Yor, begann zu lachen. »Oh, mein Gemahl«, sagte sie. Ihr Lächeln sah grausig aus, da zwischen ihrer Haut und dem Schädelknochen kaum noch Gewebe vorhanden war. »Haben sie mich so schnell vergessen?«
»Es ist lange her, meine Liebe«, erwiderte Herzog Kaen.
Xivan zog ihr Schwert und deutete damit auf jeden einzelnen der versammelten Höflinge, bevor sie die Waffe in die Scheide zurückschob. »Habt ihr etwa geglaubt, ihr könnt mich niederhalten, nur weil ihr mich umgebracht habt? Dachtet ihr tatsächlich, es wäre so einfach?«
»Hast du dich zur Rückkehr entschlossen, Xivan?« Kaen schien von ihrem Auftauchen weder beunruhigt noch überrascht. »Du weißt, dass ich dich immer hier haben wollte und nicht in diesen verdammten Höhlen.«
Sie schmunzelte. »Ja, ich habe dich und Exidhar auch vermisst. Aber ich habe Zeit gebraucht, um über alles nachzudenken.«
»Es ist inzwischen fünfzehn Jahre her«, sagte Kaen.
»Wer hätte gedacht, dass es so schwer ist, über die eigene Ermordung hinwegzukommen? Übrigens habe ich geglaubt, dass es dir keine Freude bereiten würde, wenn ich deinen gesamten Hof abschlachte. Ich hatte gute Lust dazu.«
»Und jetzt?«
Sie neigte den Kopf zur Seite. »Ich bin hier, oder etwa nicht?«
Er schloss sie in die Arme und wirbelte Xivan herum. Die Menge wich unterdessen mit unverhohlenem Entsetzen über diese Liebesbekundung zurück.
Eine Ehefrau fiel in Ohnmacht oder tat zumindest so.
Bruder Qaun, den nun niemand mehr bewachte, ging zu Janel hinüber.
Sie ergriff ihn am Arm. »Oh, den Acht sei Dank, es geht dir gut.« Sie berührte sein Gesicht. »Allerdings musst du etwas gegen diese Schürfwunden unternehmen.«
»Ihr seid diejenige, um die ich mir Sorgen mache. Ihr blutet.« Er schaute zu der anderen Frau hinüber, die ebenfalls eine Khorvescherin war. »Ich werde mir ihr Bein ansehen, wenn es Euch nichts ausmacht.«
»Bitte sehr.« Sie schaute an Qaun vorbei und winkte jemandem hinter ihm zu, als begrüßte sie einen verloren geglaubten Freund.
Qaun merkte, dass ihr Winken Thurvishar galt. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Janel zu. »Was habt Ihr …?«
»Ich bin auf dem Eis ausgerutscht«, erklärte Janel. »Während ich vor Aeyan’arric davongelaufen bin.«
Da sich in diesem Moment nur der Herzog und die Herzogin im Flüsterton miteinander unterhielten, hörte jeder in der Halle Janels Worte.
Der Herzog richtete den Blick auf sie. »Und warum wart Ihr auf dem Eis?«
»Das müsst Ihr Veixizhau fragen«, antwortete Janel.
Die besagte Ehefrau nahm mit lobenswertem Eifer die Beine in die Hand, doch das rettete sie nicht. Lange, wallende Kleider eigneten sich nicht gut zum Laufen. Ein paar Soldaten fingen sie ein und führten sie zum Herzog zurück.
Xivan sah die Frau an, hob eine Augenbraue und drehte sich zu ihrem Ehemann um. »Du kannst dich bei Veixizhau dafür bedanken, dass ich hier bin. Ich bin ziemlich sicher, dass sie versucht hat, unseren jungen Gast Suless zu opfern. Ist das nicht interessant?«
Qaun wusste, dass Suless, die Göttin der Hexerei und des Verrats, zusammen mit ihrem Ehemann, dem Gottkönig Chertog, einst über Yor geherrscht hatte. Als Quur dann in Yor eingefallen war und es erobert hatte, verbot das Reich die Anbetung der beiden. Was ungewöhnlich war, da Quur sonst auch kein Problem mit fremdländischen Religionen hatte.
Obwohl Herzog Kaen das Reich hasste, würde er niemandem erlauben, gegen dieses Gesetz zu verstoßen. Nicht nachdem sein eigener Großvater geholfen hatte, Suless und Chertog zu töten. Die Verehrung eines dieser beiden Gottkönige war gleichbedeutend mit einer offenen Rebellion nicht nur gegen Quur, sondern auch gegen Kaen.
Was vielleicht erklärte, wieso sich der Gesichtsausdruck des Herzogs nun verfinsterte. Er machte eine Geste zu ein paar Soldaten hinüber. »Durchsucht das Quartier der Ehefrauen. Bringt mir jeden Hinweis auf die Hexenkönigin, den ihr findet. Beeilt euch.«
Sie verbeugten sich kurz und rannten aus der Halle.
»Bitte!« Veixizhau warf sich vor dem Herzog zu Boden. »Bitte, habt Gnade! Ich trage Euer Kind im Bauch!«
Erneut erhob sich Gemurmel in der Halle.
Der Herzog suchte mit kaltem Blick die Menge ab. »Wyrga!«
Eine alte, in schmutzige Lumpen gekleidete Frau näherte sich ihm schwankend. »Ja, mein Hon?«
»Trägt sie mein Kind?«
Wyrga, die ein Eisbärenjunges im Arm hielt, ging zu den Ehefrauen hinüber. Sie packte Veixizhau unterm Kinn und musterte sie durchdringend. »Ja, sie trägt ein Kind«, sagte sie schließlich. »Aber es ist nicht Eures.«
»Verdammt sollst du sein!«, schrie Veixizhau und wich vor der Alten zurück. »Du Miststück! Du …« Sie legte sich die Hand an den Hals und sah aus, als bekäme sie keine Luft, während sie etwas zu sagen versuchte.
Wyrga lachte und warf dem Herzog einen verschlagenen Blick zu. »Würdet Ihr gerne erfahren, wer der wirkliche Vater ist? Es wird Euch gefallen.«
Herzog Kaen sah sie misstrauisch an. »Nein.«
»Oh, aber es ist …«
»Ruhe!«, fuhr Kaen auf. »Ich will nichts mehr von dir hören, bis ich es sage.«
Wyrga knurrte und drückte sich das Bärenjunge an die Brust.
Der Herzog ignorierte sie und drehte sich stattdessen zu Veixizhau um. »Wer ist der Vater?«
Sie hob das Kinn. »Ihr … Ihr seid es.«
»Sei ehrlich.«
Veixizhau antwortete nicht.
Eine Minute verging, in der keiner ein Wort sagte.
»Was machen wir hier?«, fragte Xivan Kaen schließlich. »Ich meine, abgesehen davon, dass wir dem restlichen Hof extremes Unbehagen bereiten.«
»Wir warten«, antwortete Herzog Kaen.
»Ah«, sagte sie.
Und so warteten sie.
Nach ungefähr zehn Minuten kehrten die Soldaten zurück. Sie trugen eine Truhe. »Euer Gnaden, das müsst Ihr Euch ansehen.«
Der Herzog drehte sich zu ihnen um. »Was habt ihr gefunden?«
Die Männer stellten die Truhe auf dem Boden ab und öffneten sie. Bruder Qaun konnte nicht erkennen, was sie enthielt, aber er sah die Mordlust im Blick des Herzogs.
»Wo habt ihr das gefunden?«, fragte er die Männer.
»In einem Raum, der vom Gemeinschaftsbereich abgeht, Euer Gnaden. Die Tür war nicht verriegelt.«
Der Herzog griff in die Truhe und holte einen Tierschädel heraus – den langen, spitzen Zähnen nach zu urteilen, hatte er einem Fleischfresser gehört. Er war schwarz verkohlt und mit komplizierten Schnitzereien bedeckt. An die Kieferknochen waren lange, mit Perlen verzierte Bänder geknotet.
Herzog Kaen präsentierte der Menge den Schädel. Einige schnappten nach Luft und traten zurück. Wyrga bleckte die Zähne.
Bruder Qaun verstand nicht, was der Schädel zu bedeuten hatte. Janel und die andere junge Frau, die mit der Herzogin gekommen war, wirkten ebenfalls ratlos. Ganz anders die Yorer.
»Ist das die Maske einer Suless-Anhängerin?«, fragte Thurvishar. »Ich habe noch nie eine gesehen.«
Herzog Kaen antwortete nicht. Stattdessen drehte er sich zu seinen zahlreichen Ehefrauen um und sah sie streng an.
»Ist es ein Wolfsschädel?«, flüsterte Qaun Janel zu. Er war nicht sicher, weshalb er davon ausging, dass sie die Antwort kannte.
»Ich vermute, er stammt von einer Hyäne«, flüsterte sie zurück. »Offenbar betrachtete Suless dieses Tier als heilig.« Sie warf einen Blick zu Wyrga hinüber.
»Wer hat diesen Altar errichtet? Veixizhau? Stecken auch noch andere dahinter? Wer von euch hat an ihm gebetet?« Die Stimme des Herzogs füllte die Halle. »Sagt es mir jetzt.«
Schweigen. Kaen warf den Schädel in die Truhe zurück. »Tötet sie alle«, befahl er bebend vor Zorn. »Und schickt die Leichen anschließend zu ihren Familien zurück.«
Die Wächter sahen einander an. »Mein Herr?«
»Seid ihr taub? Ich sagte, tötet meine Frauen.«
»Alle Eure Ehefrauen?« Die Männer rissen die Augen auf.
Der Herzog winkte ab. »Ach, was soll’s. Xivan, sie gehören dir.«
Einige Frauen kauerten sich hin oder brachen in Tränen aus. Andere wurden ohnmächtig, diesmal wirklich. Die restlichen standen aufrecht und trotzig da.
Qaun fragte sich, ob das diejenigen waren, die an ihrem selbstgebastelten Altar der Hexenkönigin gehuldigt hatten.
Veixizhau gehörte zu denen, die aufrecht blieben.
Der Herzog bemerkte sie. »Hast du mir etwas zu sagen?«
Veixizhau schüttelte den Kopf. »Kein Wort, mein Gebieter.«
Xivan wirkte seltsam unzufrieden mit der Entwicklung der Dinge, wenn man bedachte, dass sie den Herzog erst auf diese Angelegenheit aufmerksam gemacht hatte. Sie ließ den Blick durch den Raum gleiten, als suchte sie nach einer Alternative, schien jedoch nicht willens, sich der Entscheidung des Herzogs zu widersetzen. Als die Wächter vortraten, um die Ehefrauen abzuführen, machte sie ihnen Platz.
»Wartet!«, rief Janel.
Herzog Kaen drehte sich zu ihr um. »Ja?«
»Ich bitte um Gnade.«
Bruder Qaun biss sich auf die Finger, um sie nicht anzuschreien. Er machte sich Sorgen um Janel, aber er war auch stolz auf sie.
In der Halle wurde es erneut still.
Herzog Kaen neigte den Kopf. »Was habt Ihr gesagt?«
»Ich bitte um Gnade, Hon.« Janel deutete auf die Truhe. »Woher sollen wir wissen, wer darin verwickelt ist? Eure Ehefrauen sind nicht die Einzigen, die dieses Quartier betreten dürfen. Senera brauchte keine Erlaubnis, um hineinzugehen. Kann auch Wyrga kommen und gehen, wie sie möchte?«
Kaen stutzte. »Ja.«
Wyrga, die hinter ihm stand, schnitt schreckliche Grimassen, sagte aber kein Wort.
»Vielleicht konnten Eure Ehefrauen Euch die Frage nicht beantworten, weil sie die Antwort nicht kannten.«
»Vergesst Ihr etwa, dass Veixizhau versucht hat, Euch zu töten? Dass sie Euch einer toten Göttin opfern wollte? Sie ist auf jeden Fall schuldig. Und es hat auch niemand versucht, sie davon abzuhalten. Keine meiner ›Ehefrauen‹ hat die Wachen gerufen. Und lasst mich eines klarstellen: Hinter dieser Verschwörung stecken nicht nur meine Frauen. Darzin D’Mon und Sir Oreth haben mindestens am Rande damit zu tun, und sie haben auch meinen Sohn mit hineingezogen. Wenn Ihr gestorben wärt, hätten sie gestrahlt und sich gegenseitig beglückwünscht.«
Janel sah ihn entschlossen an. »Ich ersuche Euch um Nachsicht für Eure Ehefrauen«, wiederholte sie. »Selbst wenn ein paar von ihnen wussten, was Veixizhau geplant hatte, können nicht alle eingeweiht gewesen sein. Ich bitte Xivan, sie zu verschonen.«
Xivan trat vor. »Ich soll sie verschonen? Wieso?«
Qaun stellte sich insgeheim dieselbe Frage. Nicht weil er die Hinrichtung dieser Frauen befürwortete, aber er war gespannt, worauf Janel hinauswollte.
Janel drehte sich zu Xivan um. »Weil sie Gefangene sind. Weil sie seit Jahren in einem goldenen Käfig leben, und das Einzige, worauf sie hoffen konnten, war die Macht, die sie gewonnen hätten, wenn es ihnen gelungen wäre, die Aufmerksamkeit eines einzelnen Mannes auf sich zu ziehen. Ist es da verwunderlich, wenn diese Frauen sich nicht anders zu helfen wussten, als ihre Konkurrenz auszuschalten?«
Die Ehefrauen, die nicht weinten, sahen Janel so verständnislos an, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen.
Xivan neigte den Kopf. »Was schlägst du vor, mein Kind?«
Janel breitete die Arme aus, als wollte sie den gesamten Hof einbeziehen. »Ihr bildet doch bereits Talea aus. Wieso erweitert Ihr den Kreis nicht? Unterweist auch diese Frauen. Gebt ihnen eine Chance, etwas anderes zu sein als Geiseln und Handelswaren.«
Xivan runzelte die Stirn. »Warum sollte ich das tun?«
»Wie viele Frauen hat Yor bei der Invasion durch Quur verloren? Wie viele starben, die mit einer Waffe in der Hand bei der Landesverteidigung hätten helfen können? Inwieweit unterscheidet sich das von dem, was Khorvesch beim Einmarsch der Morgags durchmachen musste? Haben sich die Frauen von Khorvesch damals nicht bewaffnet? Ist das nicht der Grund, weshalb Ihr und alle anderen Khorvescherinnen heutzutage Schwerter tragen?«
Xivan sah sie verdutzt an. »Das ist nicht dasselbe.«
»Wirklich? Die meisten dieser Frauen sind wahrscheinlich unschuldig, aber Ihr und ich wissen, dass Unschuld nicht gegen ein Schwert schützt.«
Der Herzog räusperte sich. »Diese Frauen sind keine Kriegerinnen.«
»Noch nicht«, entgegnete Janel. »Aber das können wir ändern. Wieso sperrt Yor Leute ein und verdammt sie dazu, Frauen zu sein, wenn Ihr sie stattdessen ausbilden solltet? Sie sollten Schwert und Schild nehmen und ihre Heimat verteidigen. Wieso verzichtet Ihr auf die Unterstützung der Hälfte Eurer Bevölkerung?« 228
Der Herzog wirkte völlig verdattert.
Dann brach der ganze Raum in Gelächter aus. Es war ein höhnisches, verächtliches Gelächter. Janel hatte einen tollen Scherz gemacht. Exidhar war der einzige Mann, der unglücklich wirkte. Alle anderen hielten Janel für hinreißend und urkomisch. Frauen als Krieger? Zum Totlachen.
Sämtliche Frauen blickten finster drein.
Schließlich verebbte das Lachen. Janel stand im Zentrum des Geschehens und hielt die Fäuste geballt.
Bruder Qaun fühlte mit ihr. Der Versuch war lobenswert gewesen. Doch welcher Yorer hätte je auf solch ketzerische Ansichten gehört? Auch in Quur hätte sich kaum jemand darauf eingelassen.
»Ich bin dafür«, sagte Xivan.
Herzog Kaen wandte sich zu ihr um. »Was?« Dann lachte er. »Mein Liebling, das ist keine gute Idee.«
»Warum? Brauchen wir keine Soldaten?« Dann fügte sie hinzu: »Außerdem liegt die Entscheidung nicht bei dir.«
Alle in der Halle schienen den Atem anzuhalten.
Die untote Herzogin hob eine Braue. »Du hast mir diese Frauen übergeben. Es ist erst wenige Minuten her.«
»Dreh mir nicht das Wort im Mund um, Weib. Ich gab sie dir, damit du sie hinrichtest, genau wie all die anderen, die ich in die Höhlen hinabgeschickt habe, um deinen Hunger zu stillen.« Herzog Kaen hob eine Hand, bevor Xivan ihm widersprechen konnte. Dann wandte er sich zu Janel um. »Ich werde sie tatsächlich meiner Ehefrau überlassen, aber da Ihr um Gnade für sie bittet, werdet Ihr diejenige sein, die den Preis bezahlt.«
»Den Preis?«, fragte Janel argwöhnisch.
»Vor Eurem Abenteuer außerhalb des Palasts habe ich Euch um Unterstützung in einer bestimmten Angelegenheit gebeten. Nun möchte ich Euer Wort, dass Ihr mir diese Hilfe gewähren werdet. Ich verlange Euren Treueschwur.« Sein Lächeln wurde finster. »Wie nennen es die Jorater? Euer Thudajé? Ich will Euer Thudajé.«
Janel sah aus, als hätte er sie geschlagen. Die Höflinge begannen, miteinander zu tuscheln. Sie waren perplex. Was wollte der Herzog mit der Loyalität einer Frau? Sogar die Frauen schienen sich diese Frage zu stellen. Vermutlich glaubten sie, Kaen sei dabei, seiner Sammlung eine weitere Khorvescherin hinzuzufügen, auch wenn Janel eigentlich mit Relos Var »verheiratet« war.
»Nun?«, sagte der Herzog. »Ich werde Euch nicht noch einmal fragen.«
Janel fiel auf die Knie und beugte den Kopf. Dann sagte sie etwas, ganz leise.
»Wie war das?«
Janel blickte zu ihm auf. »Ich sagte, ich schwöre, Euch zu dienen, Euer Gnaden.«
Qaun hörte jemanden nach Luft schnappen und merkte, dass er es selbst gewesen war.
»Das war doch gar nicht so schwer, nicht wahr, Janel Danorak? Aber lasst es uns richtig machen.« Er gab einem der Diener ein Zeichen und befahl ihm etwas in einer Sprache, die Qaun nicht verstand.
Gleich darauf trat ein großer Mann mit dichtgelocktem Bart und kahlrasiertem Kopf aus der Menge. Bei dem vielen Schmuck, den er in seinem Bart trug, war es ein Wunder, dass er den Kopf überhaupt bewegen konnte. Was auch immer er zum Herzog sagte, man konnte deutlich sehen, dass er nicht glücklich war.
Der Herzog antwortete in gleicher Weise, sein Ton war abweisend.
Der Höfling stürmte, dicht gefolgt von mehreren anderen Männern, aus der großen Halle.
Unterdessen kehrte der Diener mit einer offenen Holzkiste zurück. Kaen griff hinein und holte ein Schmuckband heraus, das dem in seinem eigenen Bart und in den Bärten vieler anderer Männer im Raum stark ähnelte. Er nahm eine Strähne von Janels Laevos und knüpfte das Band um den Haaransatz. »Sprecht mir nach: Da der Winter kalt ist, beschütze ich treu meinen König.«
»Da der Winter kalt ist, beschütze ich treu meinen König«, wiederholte Janel.
Er holte ein weiteres Schmuckband aus der Kiste, das ein wenig anders gestaltet war als das vorherige. »Da der Winter lang ist, beschütze ich das Volk in seinem Namen.«
Wieder sagte sie die Worte nach, und er befestigte das Band an einer anderen Haarsträhne. »Da der Winter hart ist, werde ich unsere Feinde besiegen.«
Während sie ihm nachsprach, schmückte er sie mit einem weiteren Band.
»Bis der Winter endet, gehört mein Leben Yor.« Erneut wiederholte er das Ritual.
Während der ganzen Zeit sahen die Anwesenden stumm und mit großen Augen zu. Qaun fragte sich, ob der Herzog Janel in eine Art Ritterschaft erhob, die nichts mit Turnierwettbewerben und Handelsgeschäften zu tun hatte. Damit wäre jedenfalls erklärt, warum der Höfling vorhin so erbost reagiert hatte. Herzog Kaen band das letzte Schmuckstück an Janels Haaren fest und trat einen Schritt zurück. »Hiermit ernenne ich dich zur Hand, der Erweiterung meines Willens. Erhebe dich.«
Janel stand auf. Sie wirkte zittrig.
Der Herzog sah seine untote Ehefrau an. »Sie gehören alle dir.« Dann setzten die beiden ihre Unterhaltung von vorhin fort.
Mehrere Höflinge schienen unzufrieden und aufgebracht zu sein.
Janel gesellte sich wieder zu Qaun.
Er beugte sich dicht an sie heran. »Geht es Euch auch wirklich gut?«
»Fragt mich das später noch einmal«, erwiderte Janel. »Weshalb haben mich alle so angestarrt?«
»Weil Ihr die erste Frau seid, der jemals diese ganz besondere Ehre zuteilwurde«, antwortete Thurvishar D’Lorus. »Entschuldigt bitte. Ich konnte nicht umhin, Eure Frage mit anzuhören.«
Janel setzte zu einer Antwort an, aber dann betrachtete sie ihn genauer. »Ich erinnere mich an Euch vom Bankett. D’Lorus, richtig? Von der Akademie.«
»Derselbe«, bestätigte Thurvishar. Er wollte noch mehr sagen, doch dann zögerte er und sah stattdessen zum Herzog hinüber.
Zeitgleich richtete Herzog Kaen seine Aufmerksamkeit wieder auf Janel und deutete auf Sir Oreth. »Und was ist mit dem hier? Wollt Ihr für ihn auch Gnade erwirken?«
Sir Oreth stutzte. »Für mich? Wartet, ich dachte, wir wären uns einig, dass die Frauen …«
»Seid still«, befahl Kaen. »Möchtet Ihr, dass er lebt?«
»Er?« Janel sah ihn ungläubig an.
Sir Oreth riss die Augen auf. »Janel, bitte …«
»Dreimal«, sagte sie zu ihm. »Dreimal habt Ihr Euch gegen mich gewandt. Beim ersten Mal wolltet Ihr mich zu Eurer Stute machen. Beim zweiten Mal nahmt Ihr mir mein Land. Beim dritten Mal habt Ihr versucht, mich zu töten.«
»Janel, verdammt, so war es nicht! Würdet Ihr mir bitte zuhören? Ich habe nichts falsch gemacht. Ich hatte nichts damit zu tun! Das ist lächerlich!«
Sie wandte sich wieder dem Herzog zu. Nur Bruder Qaun bemerkte, dass ihr vor Wut die Hände zitterten. »Von mir bekommt er keine Gnade. Macht mit ihm, was Ihr wollt, Euer Gnaden.«
Der Herzog nickte. »Er gehört ganz dir, Xivan.«
»Was? Nein!« Sir Oreth zog sein Schwert und richtete es auf die untote Frau, die sich ihm nun näherte.
»Ich sehe das genauso wie Ihr: Es ist besser, mit einem Schwert in der Hand zu sterben.« Xivan Kaen zückte ihre eigene Klinge. Es war ein khorveschisches Krummschwert, das sich grundlegend von Oreths gerader Waffe unterschied.
Bruder Qaun wandte den Blick ab. »Ich kann das nicht mit ansehen.«
Wie sich herausstellte, musste er das auch gar nicht. Er hatte kaum den Blick abgewandt, da fiel etwas scheppernd zu Boden. Gleich darauf ertönte ein Gurgeln. Als Qaun sich schockiert wieder umdrehte, sah er, dass Sir Oreth entwaffnet war. Xivan Kaen hielt ihn am Hals gepackt. Oreth wand sich und versuchte vergeblich, sich aus ihrem Griff zu befreien.
Während alle in der Halle schweigend zusahen, trat ein helles Licht aus Oreths Augen und seinem Mund und floss zur Herzogin hinüber.
Es dauerte Sekunden oder eine Ewigkeit, je nachdem, wie man so etwas bemaß. Als Xivan fertig war, ließ sie den Leichnam fallen. Sie sah nun etwas gesünder aus: Ihre Haut war nicht mehr so blau, und ihre Wangen wirkten weniger eingefallen. Fast hätte man sie für lebendig halten können.
»Wir sind hier fertig«, verkündete der Herzog.