45
Die Verschmähten
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Kihrins Geschichte zu einem Ende gekommen war … vorübergehend
Kihrin deutete auf die Ringe in Janels Haaren. »Sind das …?«
Sie schüttelte rasch den Kopf. »Nein. Und meine Loyalität Herzog Kaen gegenüber … na ja, sie war immer nur vorgetäuscht.« Janel blickte in ihre Kaffeetasse. »Und zwar von beiden Seiten. Azhen Kaen wusste, dass ich möglicherweise der prophezeite Höllenkrieger bin. Deswegen wollte er mich im Auge behalten und sichergehen, dass ich nicht die Rolle an mich riss, die er für sich selbst beanspruchte. Denn wenn er sich in der Zwischenzeit meine Loyalität sicherte, würde ich seine Pläne in Bezug auf General Milligreest sehr viel wahrscheinlicher unterstützen. Könnt ihr euch das Gesicht vorstellen, das der Oberste General gemacht hätte, wenn Kaen mit mir an seiner Seite zu einem Treffen erschienen wäre?«
»Dieser Herzog Kaen ist mir nicht sonderlich sympathisch«, merkte Dorna an.
Janel seufzte. »Er hatte seine Momente. Aber leider eben auch ganz andere
Momente.«
Kihrin unterdrückte ein Gähnen und griff nach seiner Tasse. Wenn sie so weitermachten, würden sie die ganze Nacht aufbleiben. Andererseits wollte er lieber müde, aber wach sein, als zu schlafen, wenn Relos Var auftauchte. »Ja, aber Xivan ist die Gefährlichere von den beiden.«
Ninavis kicherte. »Du hast wirklich ein gutes Gespür für Leute.«
»Davon kannst du ausgehen«, erwiderte Kihrin.
Janel zuckte die Achseln. »Ich gebe zu, dass ich ein Problem mit Xivan habe.«
»Und welches?«, fragte Kihrin.
Janel seufzte. »Dass ich sie wirklich mag.«
Janels Schilderung. Im Eispalast, Yor, Quur.
Als ich in das Quartier der Ehefrauen zurückkehrte, fühlte ich mich wie betäubt.
Keiner merkte es, aber nur, weil alle anderen ähnlich benommen waren. Xivan blieb bei Kaen. Qaun und ich wurden voneinander getrennt. Was mit Talea passierte, weiß ich nicht. Wächter eskortierten alle anderen Frauen, darunter auch mich, in die Unterkünfte zurück. Niemand sprach.
Ich hatte nicht gewusst … Ich war darauf nicht vorbereitet gewesen.
Die Geschehnisse in der großen Halle hatten einen Tribut von mir gefordert, mit dem ich nie gerechnet hätte. Ich hatte gewusst, dass es so kommen würde. Mir war klar gewesen, dass ich diesen Preis würde zahlen müssen. Doch als dann die Rechnung kam, war ich überrascht, wie viel es mich kostete.
Wie sehr hingen mein Selbstwert und mein Selbstverständnis davon ab, dass ich mich als echte Adlige und als ehrbare Person fühlte? Dass ich zu meinem Wort stand und mich dem Reich und meinen Göttern gegenüber loyal verhielt? Und wie sollte ich mich jetzt noch so sehen können? Ich war entweder eine Lügnerin oder eine Verräterin.
Es spielte keine Rolle, dass ich nur deswegen nach Yor gekommen war. Ich hatte mir vorgenommen,
mich in Herzog Kaens Haushalt einzuschleichen und ihn zu belügen, damit ich den magischen Speer Khoreval stehlen konnte. Wenn ich diesen Speer brauchte, um Aeyan’arrics Vernichtungszug durch Jorat zu beenden und sie zu töten, würde ich alles tun, was nötig war, um ihn an mich zu bringen.
Es war mir einzig und allein darum gegangen, Kaen zu betrügen. Oder nicht?
Wenn ich Kaen aufgrund meines neuen Status – was auch immer er zu bedeuten hatte – allerdings dazu überreden konnte, Aeyan’arric erst gar nicht auf Jorat loszulassen, dann … würde ich den Speer überhaupt nicht brauchen, oder?
Dann könnte ich alles erreichen, was ich wollte – indem ich alles verriet, was ich war.
Während ich die in meinen Laevos geflochtenen Ringe berührte, strömten die Frauen an mir vorbei in den Hauptraum. Schweigend verteilten sie sich wieder im Quartier.
Sie erinnerten mich an die Überlebenden von Mereina – all die vielen Leute, die schockiert ins Leere gestarrt hatten. Eine der Ehefrauen setzte sich auf ein Sofa und begann zu weinen.
Auf einem der Balkone auf der anderen Seite des Raums bewegte sich jemand. Ich erkannte, dass Wyrga dort draußen stand und ihr kleines Eisbärenjunges mit Essensresten fütterte. Als sie meinen Blick bemerkte, setzte sie ihr Raubtiergrinsen auf und zwinkerte mir zu. Dann legte sie den Zeigefinger an die Lippen, als wollte sie mich ermahnen, nichts zu sagen. Ich schaute mich um, ob sonst noch jemand sie bemerkt hatte, doch als ich wieder zum Balkon zurücksah, war Wyrga verschwunden. Dabei hatte sie nirgendwo hingehen können. Abgesehen von der Tür zum Hauptraum war die einzige Möglichkeit, von diesem Balkon herunterzukommen … ein mehrere Hundert Meter tiefer Sturz auf hartes Eis.
Um mich herum machte sich eine spürbare Anspannung breit. Erst dachte ich, Wyrga wäre durch eine andere Tür hereingekommen, doch als ich mich umdrehte, merkte ich, dass es einen anderen Grund dafür gab.
Veixizhau war eingetroffen.
Sie verschränkte die Arme und ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Was starrt ihr Schlampen denn so?«
Bikeinoh, die Frau, die mich als Erste im Quartier begrüßt hatte, verdrehte die Augen. »Ernsthaft? Nach der Misere, in die du uns hineingeritten hast, kannst du froh sein, wenn wir dich nicht selbst umbringen.«
»Als ob nicht die meisten Frauen hier dasselbe getan hätten, wenn es ihnen möglich gewesen wäre. Ich bin euch nur zuvorgekommen. Und wage es ja nicht, so scheinheilig zu tun. Wir alle
haben sie angebetet …« Veixizhau verstummte, als eine andere Ehefrau sich räusperte und den Finger ausstreckte.
Sie zeigte auf mich.
Ich winkte.
Veixizhau sah mich finster an. »Was macht Ihr denn hier?«
»Ich bin auf der Suche nach einem Bett«, antwortete ich. »Ich weiß, es ist ein Witz, aber sie konnten mich an keinem anderen Ort unterbringen. Ihr habt Eure Lektion doch gelernt, oder?«
Ihre Nasenflügel bebten. »Sicher. Mir ist jetzt klar, dass ich Euch besser hätte vergiften sollen.«
»Es gibt immer ein nächstes Mal.«
Keine der anderen Frauen verteidigte Veixizhau. Sie ignorierte sie und konzentrierte sich ganz auf mich. »An Eurer Stelle würde ich mir das Lächeln sparen, Tumai. Ihr habt Euch vorhin getäuscht. Ich habe nur einer einzigen Person erzählt, was mit Euch geschehen ist, nämlich Exidhar – und er hat es wahrscheinlich seinen Freunden gesagt, weil er sie beeindrucken wollte. Aber die hatten nichts damit zu tun. Und das bedeutet, dass Ihr gerade einen unschuldigen Mann Kaens totem Monsterweib zum Fraß vorgeworfen habt.«
Ich hörte tatsächlich auf zu lächeln. »Nein, Oreth sagte, Darzin …«
Das konnte nicht sein. Oreth hatte geplant, mich zu töten. Das wusste
ich.
Veixizhau lachte. »In jedem anderen Fall wäre es klug gewesen, mit dem Finger auf einen Hochadligen zu zeigen. Von denen
hätte der Herzog keinen bestraft. Ich wette, es ist Oreth nicht einmal in den Sinn gekommen, die Wahrheit zu sagen. Er dachte, es wäre besser für ihn, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Er hat sich getäuscht.«
»Ihr lügt.«
»Das ist das Beste daran: Ich lüge nicht. Und Ihr seid besser nicht so selbstgerecht. Ihr gehört jetzt Suless, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie Euch holt.«
»Suless ist tot«, rief ich ihr in Erinnerung.
»Nein, ist sie nicht. Oh, ich kann es gar nicht erwarten, bis ihr beide euch kennenlernt. Sie hat ein Faible für Mörderinnen.«
Ich zuckte zusammen.
Veixizhau bemerkte meine Reaktion und lächelte. Dann drehte sie sich um und rauschte hocherhobenen Hauptes aus dem Gemeinschaftsbereich.
Die anderen Frauen schwiegen, bis Bikeinoh in die Hände klatschte. »Also gut, ihr alle. Dann wollen wir mal zu Abend essen und zeitig zu Bett gehen. Ich habe das Gefühl, dass morgen ein langer Tag auf uns wartet.«
Ich fühlte mich wieder wie betäubt und konnte nur an unwichtige Dinge denken. »Was bedeutet Tumai?
«
Bikeinoh zögerte mit der Antwort. »Auf Guarem wäre wahrscheinlich Ritter
die beste Übersetzung.«
Ich nickte. Veixizhau hatte das Wort zwar wie eine Beleidigung ausgesprochen, doch vielleicht war es gar keine. Aber spielte das überhaupt eine Rolle? Mir erschien ohnehin
eine andere Bezeichnung passender.
Monster
. Kaen sammelte sie, oder nicht?
Bikeinoh berührte mich am Arm. »Dann suchen wir mal ein freies Zimmer für Euch.«
In den darauffolgenden Wochen erschienen mir keine Götter oder Göttinnen, und auch keine Gottkönige oder die Acht. Veixizhaus Worte waren also eine leere Drohung gewesen.
Doch ich bekam ihre Anschuldigungen nicht aus dem Kopf und hatte den schlimmen Verdacht, dass Oreth tatsächlich unschuldig gewesen war – zumindest was dieses Verbrechen anbelangte.
Ich blieb für mich allein und redete mit niemandem, solange ich nicht angesprochen wurde. Auf höfliche Kontaktversuche reagierte ich ungehalten. Ich schaffte es, Senera und Relos Var aus dem Weg zu gehen, und obwohl ich nun theoretisch Herzog Kaen verpflichtet war, verschonte er mich mit Arbeit. Auch Bruder Qaun sah ich nicht und war froh darüber. Ich hatte meinen Ärger wie einen Mantel um mich gelegt und wollte Qaun nicht sagen hören, dass er mich erstickte.
Dieser Zustand dauerte mehrere Wochen.
»Was machst du, Janel?«
Ich sah von dem Buch mit den Devoranischen Prophezeiungen auf, das ich mir aus der Bibliothek des Herzogs »ausgeliehen« hatte. »Ist das nicht offensichtlich?«
Wir befanden uns mitten auf dem Übungsplatz, der wie alles andere im Eispalast tief im Inneren der Kristallpyramide lag. Er war in verschiedene Abschnitte unterteilt, damit mehrere Gruppen gleichzeitig trainieren konnten. Obwohl der Raum riesig war, hing der Gestank zahlreicher verschwitzter Körper schwer in der Luft.
Xivan hob eine Braue und deutete auf die Matte. »Stell dich da drauf. Ich will sehen, was du kannst.«
»Ich bin beschäftigt.«
Um uns herum verstummten alle Geräusche, und die Männer in der Nähe unterbrachen ihre Übungskämpfe.
Die Soldaten des Herzogs benutzten dieselben Räumlichkeiten wie Xivans neue Rekrutinnen. Keiner der Männer schien von der Anwesenheit der Frauen begeistert. Während die Rekrutinnen übten, sahen die Männer ihnen zu und gingen mit ihren Belästigungen so weit, wie sie
es unter Xivans galligem Blick wagten. Es war zu Übergriffen gekommen. Soldaten, die gegrapscht oder in drei Fällen sogar noch Schlimmeres getan hatten. Manche glaubten, es würde dem Herzog, der die Frauen nicht mehr für sich beanspruchte, nichts ausmachen, wenn ein anderer sich mit ihnen verlustierte.
Xivan brachte diese Männer weg, und wir bekamen sie nie wieder zu Gesicht. Nachdem sie das dritte Exempel statuiert hatte, hörten die Zwischenfälle auf.
Nun richteten sich alle Blicke auf mich.
Xivans Augenbrauen schossen in die Höhe. »Geh auf die Matte, und zwar jetzt. Wenn ich noch ein drittes Mal fragen muss, wirst du nicht gegen Talea, sondern gegen mich kämpfen.«
Talea, Xivans Schülerin, der ich zum ersten Mal in den Höhlen begegnet war, hatte ihre Ausbildung bereits vor acht Monaten begonnen und war den übrigen Rekrutinnen damit weit voraus. Ich wandte mich wieder meiner Lektüre zu.
Ich wusste, dass ich mich kindisch benahm, aber ich konnte nicht anders. Meine Wut köchelte auf kleiner Flamme, und die Tatsache, dass sie sich gegen nichts Greifbares richtete, machte es nur noch schlimmer. Wie viel leichter es doch gewesen wäre, jemand ganz Bestimmten und nicht die gesamte Welt zu hassen.
Ein khorveschischer Krummsäbel schlug mit der stumpfen Seite der Klinge gegen den Buchrücken und riss mir meinen Lesestoff aus der Hand. Ich hatte gerade noch genug Zeit zu sehen, wie Xivan ein Schwert in meine Reichweite schlittern ließ, bevor sie mit ihrem Säbel nach meinem Kopf schlug.
Sie kämpfte mit echtem Stahl.
Ich rollte mich zur Seite, packte dabei das Schwert und stand grinsend auf. Das Grinsen verging mir jedoch, als ich das Gewicht in meiner Hand spürte. Ich hatte noch nie mit einer Waffe gekämpft, die ich nicht wie ein Stück Seide schwingen konnte. Diese hier konnte ich zwar anheben, aber nur mit Mühe. Damit war es mir unmöglich, das Schwert zu einer Verlängerung meines Arms und meines Willens zu machen.
Das war ein Problem.
»Wo ist dein Lächeln geblieben?«, spottete Xivan.
»Ich werde lächeln, wenn das hier vorbei ist.« Ich schlug nach ihr, aber der Hieb war zu langsam und kraftlos. Sie blockte ihn ab, durchstieß meine Deckung und brachte
mir eine Schnittwunde am Arm bei. Ich sog zischend die Luft ein.
»Gib Bescheid, wenn du anfangen möchtest«, sagte Xivan.
Mein Muskelgedächtnis und meine Instinkte waren das Ergebnis einer ganz bestimmten Kampftechnik.
Doch ohne die Kraft von zehn Männern wurden sie mir zum Verhängnis.
Erneut rannte ich schreiend auf sie zu, entschlossen, wenigstens etwas mit meinen Bemühungen zu erreichen.
Sie beobachtete amüsiert, wie ich mich ihr näherte. Erst parierte sie mühelos meine Attacke, dann wirbelte sie im letzten Moment auf dem Absatz herum wie ein Pferd, das mitten im Rennen einen Schrittwechsel vollzieht. »Kein Wunder, dass Oreth fand, du solltest kein Hengst sein. Du kämpfst wie eine Stute.«
Ich sah rot. Von der Seite schrie jemand.
Xivans Tunika fing Feuer.
Sie blickte an sich hinunter, bemerkte den brennenden Stoff und lachte. Während sie mit der einen Hand immer noch das Schwert festhielt, löschte sie mit der anderen die Flammen. »Merk dir diesen Trick, Schülerin. Einen anderen Gegner könntest du damit vielleicht ablenken.«
Sie schwang den Krummsäbel, als wären ihre Bewegungen Teil eines kunstvollen Tanzes.
Ich versuchte, ihren Angriff abzublocken, doch ich schaffte es nicht und musste mit ansehen, wie sie meinen Schwertarm zur Seite schlug. Als ich nach der Herzogin trat, hakte sie ihr Bein bei meinem unter.
Einen Moment später lag ich auf dem Boden und hatte Xivans Säbel an der Kehle.
»Wieso glaubst du, irgendeinen Gegner besiegen zu können, wenn du nicht einmal dich selbst im Griff hast?« Die mit ruhiger Stimme gestellte Frage schien nicht rhetorisch, sondern ernst gemeint zu sein.
»Ich bin nicht …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte dumm gekämpft und während eines Übungskampfes einen Wutanfall bekommen. Da ich keine Ahnung hatte, wie ich den Mahlstrom meiner Gefühle kontrollieren sollte, versuchte ich gar nicht erst aufzustehen und blieb einfach liegen. So elend und betäubt, wie ich mich fühlte, scherte ich mich nicht einmal darum,
dass alle auf dem Übungsplatz zu mir hersahen.
Xivan nahm ihren Säbel von meinem Hals und kniete sich neben mich. »Sag mir nicht, dass du ihn geliebt hast.«
»Was? Wen?« Eine Ohrfeige hätte mich nicht mehr überrascht als diese Frage, doch zur gleichen Zeit meldete sich mein Gewissen. Ich wusste, wen sie meinte.
Oreth.
Aber nein, ich hatte ihn nicht geliebt.
Allerdings hatte ich ihn lieben wollen. Und ich hatte gewollt, dass er mich ebenfalls liebte. Doch keiner dieser Wünsche hatte sich erfüllt. Stattdessen hatte er aus Stolz versucht, mich zu brechen, und mein eigener Stolz …
»Den Ritter, den ich hingerichtet habe.«
»Nein, ich …« Ich presste die Lider zusammen und spürte, wie Tränen aus meinen Augenwinkeln quollen. »Ich habe nur …« Ich schluchzte abgehackt. »Ich habe ihn nicht geliebt. Es ist alles so sinnlos. So unnötig. Ich wollte nicht, dass er stirbt. Ich will nie, dass irgendwer stirbt, und …« Ich stieß einen traurigen Seufzer aus. Irgendwie vermengte sich sein Tod mit dem aller anderen – der Bürger von Mereina, der Bewohner von Lonezh, der Opfer des Höllenmarsches, meiner Eltern, des Marakorers, der auf der Brücke nach Atrine ermordet worden war …
Von allen Leuten, die ich nicht retten konnte.
»Dann hasst du dich also selbst.« Xivan klang traurig.
Es kam mir vor, als hätte sie den letzten Stein aus einem schwankenden Fundament gezogen. Ein Schaudern, ein hässliches Druckgefühl und schließlich die Gerölllawine. Ihre Worte hallten in meinem Kopf wider, bis ich glaubte, in meinem inneren Chaos verloren zu gehen. Natürlich hasste ich mich, weil ich immer überlebte. Ich war nicht am Leben, weil ich es verdient hatte, sondern um bei dem falschen Spiel eines Dämons mitzumachen, die Befehle von Generälen zu befolgen und vor allem, damit sich diese verdammten Prophezeiungen erfüllten. Ich lebte, aber ich hatte noch nie irgendjemandes Leben besser gemacht. Ich war ein Hengst geworden, um die zu beschützen, die mir nahestanden, dabei konnte ich nicht einmal mich selbst beschützen.
Wozu sollte das dann alles gut sein? Welchem Zweck diente es?
Ich wälzte mich von ihr weg. Als ich auf dem Bauch lag, begann ich, hemmungslos in meine Hände zu schluchzen und konnte eine ganze Weile nicht damit aufhören. Wenn ich
mich der Welt stellen wollte, musste ich daran etwas ändern. Ich musste versuchen, eine Lösung zu finden.
In diesem Moment glaubte ich jedoch nicht daran, dass ich es schaffen würde.
Ich spürte ihre Hand auf meinem Laevos. Sie strich mir über die Haare. »Ach, mein süßes kleines Mädchen. Wie heiß all diese Feuer in deinem Herzen brennen müssen.«
Damit brachen bei mir alle Dämme. Zu den Tränen gesellten sich nun auch noch ein Schluckauf und viel zu viel Rotz. Mir war bewusst, dass wir uns in der Öffentlichkeit befanden. Trotzdem wischte ich mir die Augen und die Nase mit den Händen.
»Du lässt all diese Leute bestimmen, wer du bist«, flüsterte sie mir zu. »Jeder erzählt dir, wie du zu sein hast.«
Das konnte ich nicht unkommentiert stehen lassen. »Ich habe rebelliert …«
»Das macht keinen Unterschied. Wenn gegeneinander wirkende Kräfte kollidieren, beeinflussen sie sich gegenseitig. Du kannst nicht gegen einen Feind vorgehen, ohne von ihm verändert zu werden. Du drückst und bekommst Gegendruck. Du definierst dich über andere, ihre Zustimmung oder ihre Ablehnung, und dabei gibst du ihnen jedes Mal Macht über dich, ob du es merkst oder nicht.«
Sie legte ihre Hände an meine Wangen. Sie waren kalt. Es geht doch nichts über lebendes Gewebe. Doch es gruselte mich nicht so sehr, wie man eigentlich erwarten würde. »Du musst dich selbst finden, meine Liebe. Dein eigenes Herz, deine eigene Schönheit, deine eigene Wahrheit.« Damit stand sie auf und streckte mir die Hand hin. »Und dann können wir uns daranmachen, deine Feinde zu besiegen.«
Ich lachte atemlos, fast hysterisch, während ich nach ihrer vertrockneten Hand griff und mir von ihr aufhelfen ließ. Schließlich war sie
meine Feindin. Die Kaens und Relos Vars und all die Kräfte, die sich mit ihnen zusammentaten. Sie waren meine Feinde.
Oder meine Freunde.
Ich konnte es nicht mehr genau sagen. War Xivan nichts weiter als ein Hindernis zwischen mir und Khoreval, dem Drachentöter-Speer? Oder würde sie mir helfen, Herzog Xun und Markreev Aroth zu besiegen, damit ich Jorat wiedererlangen konnte? Sollte ich tatsächlich Herzog Kaen als Tumai dienen oder besser mein Versprechen an die Göttin des Todes
einhalten und auf die Zerstörung all derer hinwirken, die Relos Var unterstützten?
Seit Tya, die Göttin der Magie, Arasgon verzaubert hatte, damit er im Nachleben zu mir stoßen konnte, war ich eine Verräterin, die sich zwischen Herzog Kaens Gefolgsleuten versteckte. Jede Nacht gab ich im »Schlaf« Nachrichten und Instruktionen an mein Lager durch. Dennoch hatte ich mich mit dieser Rolle nicht voll und ganz arrangiert. Vielleicht hatte Oreth ja recht gehabt, und ich würde nie erkennen, wo mein Platz war.
Konnte ich Yors Verbrechen als unverzeihlich empfinden und gleichzeitig das Blut ignorieren, das an meinen eigenen Händen klebte?
Xivan Kaen zog mich in ihre Arme und wiegte mich sanft, während ich erneut von tiefen Schluchzern erschüttert wurde.
Anschließend legte Talea mir einen Arm um die Schultern und begleitete mich in mein Zimmer. Sie setzte mich auf einen Stuhl neben dem Bett und kniete sich vor mich hin. »Kann ich dir irgendetwas bringen? Tee oder etwas Stärkeres?«
»Ich habe es vorhin vermasselt, oder?«
Sie lächelte. »Vermasselt? Wohl kaum.« Sie schlug die Felldecken auf dem Bett zurück. »Du trauerst. Lass es zu. Ich bin selbst immer noch nicht über …« Talea bemerkte meinen fragenden Blick. »Ich hatte eine Schwester. Sie wurde ermordet.«
Sie hatte die letzten beiden Sätze gesagt, als wäre nichts dabei, doch der Kummer in ihrer Stimme zerriss mir das Herz. »Und« – mein Lächeln war viel fahler als ihres – »du wirst denjenigen, der dafür verantwortlich ist, umbringen.«
Ich hatte bereits vermutet, dass sie sich bei ihren Schwertübungen jemand ganz Bestimmten am anderen Ende ihrer Klinge vorstellte, so zornig, wie sie immer focht.
Sie drehte sich schnaubend um und setzte sich aufs Bett. »Ich wünschte, das ginge. Darzin D’Mon hat sie getötet.«
Ich blinzelte, als dieses Detail meinen benebelten Verstand erreichte. »Der Angehörige des Hochadels? Derjenige, der auch …?« Fast hätte ich gesagt: Der auch versucht hat, mich zu töten.
Doch mittlerweile glaubte ich nicht mehr, dass das stimmte.
»Das hat jedenfalls Thurvishar gesagt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, Darzin ist gar nicht klar, was er getan hat. Meine Schwester hatte einfach Pech. Sie war
zur falschen Zeit am falschen Ort, und Darzins Attentäterin wollte nicht, dass es Zeugen gab. Meine Schwester ist lediglich eines der vielen unbeteiligten Opfer, die in den Machtspielen des Hochadels unter die Räder geraten sind. Und Darzin hat noch viel schlimmere Dinge getan …« Sie sah zur Seite. »Die Liste seiner Verbrechen ist lang.«
Ich stand auf, setzte mich neben sie und nahm ihre Hände. »Es tut mir so leid. Wirst du ihn töten? Brauchst du dabei Hilfe?«
Sie lachte und erwiderte meinen Händedruck. »Ich weiß dein Angebot zu schätzen. Frag mich in ein paar Jahren noch mal. Soweit ich weiß, ist er ein hervorragender Schwertkämpfer. Deswegen werde ich wohl ein bisschen mehr als acht Monate Übung brauchen, ganz egal, was für eine gute Lehrerin Xivan ist.«
»Wenn es so weit ist, werde ich dir mit Vergnügen beistehen.«
Talea grinste. »Ich danke dir. Eines Tages werde ich gut genug mit dem Schwert umgehen können und Herzog Kaen wird Darzin nicht mehr brauchen. Ich hoffe nur, dass ich dann zur Stelle bin. Oder Thurvishar. Ich glaube, dass er mir die Ehre, Darzin zu töten, vielleicht streitig machen will.«
»Wie kannst du mit jemandem aus dem Hochadel befreundet sein? Und dann auch noch mit dem Stammhalter des Hauses D’Lorus?«
Sie schluckte. »Er hat mich Darzin abgekauft.« Talea bemerkte meinen Gesichtsausdruck und fügte rasch hinzu: »Aber Thurvishar hat mich sofort befreit.
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Dann hat er mich gefragt, was ich tun wolle, und gesagt, dass er mir jeden Wunsch erfüllen würde. Ich kam mir vor wie in dem Gottkönigmärchen, in dem ein Bauernmädchen einen verletzten Löwen aus einer Falle befreit, nur um dann zu erkennen, dass der Löwe in Wahrheit eine Göttin ist, die alle Wünsche erfüllen kann.« Talea räusperte sich. »Nun, ich habe ihm gesagt, dass ich Rache nehmen will.«
»Da Darzin noch am Leben ist, hat Thurvishar sein Versprechen offenbar nicht gehalten.«
»Er sagte, es läge bei mir«, erwiderte Talea. »Aber er hat mir erklärt …« Sie zögerte und griff wieder nach meiner Hand. »Er hat erklärt, was sie vorhaben. Ich hasse Darzin zwar, aber sie versuchen, das Kaiserreich zu stürzen. In der yorischen Kultur gibt es keine Sklaverei – Kaen wird sie verbieten, sobald er an der Macht ist. Dafür würde ich viel geben.«
Ihre Willensstärke war höchst beeindruckend. Doch ich war skeptisch, was die Motive
der Adligen anbelangte. Schließlich waren die hohen Adelshäuser auf einem Fundament aus Sklaverei, Gier und Schmerzen errichtet.
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Und ich konnte mir kaum vorstellen, dass irgendjemand die Quelle seines eigenen Wohlstands untergraben würde.
Kaens Motive konnte ich sehr gut nachvollziehen: Yor fühlte sich von Quur unterjocht. Daher erschien es sinnvoll, erst das Kaiserreich zu zerschmettern, bevor Yor seine Freiheit erklärte.
Die Familien des Hochadels wollten dagegen bloß mehr Macht. Ihnen ging es immer nur um mehr Macht.
»Es muss eine Qual für dich sein, ihn lebendig zu sehen«, sagte ich schließlich.
Talea zuckte die Achseln. »Nicht, seit ich von Xivan ausgebildet werde. Ich habe kaum je die Höhlen verlassen. Und selbst dann …« Talea lachte. »Er hat mich gesehen, als ich mit Thurvishar hier ankam. Kannst du dir vorstellen, dass mich dieser Mistkerl nicht einmal wiedererkannt hat?«
»Aber jetzt bist du aus den Höhlen heraus.« Ich fand die Vorstellung entsetzlich, dass Talea es nun mit Darzin zu tun bekommen würde. »Er wird herkommen.«
»Egal.« Sie grinste. »Ich werde ihm nicht begegnen. Und das habe ich dir zu verdanken.«
»Mir?«
»Da er an den Plänen zu deiner Ermordung beteiligt war, hat der Hon ihn zur Strafe vom Hof verbannt. Darzin darf an seiner Stelle jemand anderen als Gesandten schicken, aber es ist ihm nicht erlaubt, selbst herzukommen.«
Ich hatte keine Lust, darauf hinzuweisen, dass Darzin möglicherweise fälschlich beschuldigt worden war. »Es ist gut, das zu hören. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht gerade darauf gefreut habe, ihn wiederzusehen.«
»Er ist ein Ungeheuer.«Aus ihrer Stimme klangen einmal mehr Verbitterung und Hass. Obwohl ich selbst ein Ungeheuer war, konnte ich ihr da nicht widersprechen.
Sie streckte eine Hand aus und berührte mich an der Wange. »Möchtest du gerne, dass ich heute Nacht bei dir bleibe?«
Ein Beben durchfuhr mich von der Wange bis zu den Lenden. »Fragst du mich, ob ich mein Bett mit dir teilen will?«
Ihr Lächeln wurde unsicher. »Nur wenn du das möchtest. Ich hoffe, dass ich dich mit
der Frage nicht gekränkt habe. Wenn dir Männer lieber sind …«
Ich unterdrückte ein Lachen und fühlte ein überwältigendes Verlangen, sie an mich zu ziehen, ihren Kopf zwischen die Hände zu nehmen, sie auf den offenen Mund zu küssen und dann auf das Bett zu stoßen. Wollte ich es? O ja.
Ich nahm ihre Hand und küsste ihre schwieligen Fingerkuppen, eine nach der anderen. Ich spürte, wie sie erschauderte. »Nichts würde mir mehr gefallen.«