46  Die Suche nach dem Schwarzen Ritter
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Janel eine sehr baufällige Brücke überquert hatte
»Ich habe mich immer gefragt, was aus Talea geworden ist«, sagte Kihrin. »Eigentlich wollte ich mich bei Thurvishar nach ihr erkundigen, hatte aber Angst, er würde mir sagen, sie wäre gefressen worden … von … na ja, dieser Mimikerin, die ich kannte … Wie auch immer. Ich bin froh, dass er sie befreit hat.« 231
Qaun hob den Kopf. »Sagtet Ihr eine Mimikerin? Ich dachte, die existierten nur in Legenden.«
»O nein«, sagte Kihrin. »Sie sind sehr real und extrem furchteinflößend. Und diese spezielle Mimikerin – Klaue – ist die Attentäterin, von der Talea gesprochen hat. Die Mörderin ihrer Schwester.«
»Also, ich bin vor allem froh, dass Ihr vernünftig geworden seid und Euch dazu entschlossen habt, mit Stuten zu galoppieren«, warf Dorna ein und tätschelte Janels Schulter. »Talea scheint süß zu sein.«
Janel verdrehte die Augen. »Fang nicht damit an, Dorna.«
»Ihr galoppiert, mit wem Ihr möchtet, meine Liebe«, entgegnete Dorna. »Ich werde Euch so oder so immer lieben.«
Janel verzog das Gesicht zu einem angespannten Lächeln und drehte sich zu Qaun um. »Fang an zu lesen. Sofort.«
Qauns Schilderung. Im Eispalast, Yor, Quur.
Bruder Qaun bekam Relos Var mehrere Monate lang nicht zu Gesicht, und als er ihn schließlich wiedersah, hatte der Zauberer sehr schlechte Laune. Er blieb an der Tür zum Arbeitszimmer stehen und unterhielt sich weiter mit jemandem, der draußen stand.
»Wieso habt Ihr sie noch nicht getötet?«, fragte er und blickte über die Schulter, wobei er Bruder Qaun zu übersehen schien. »Ich sage Euch, Ihr werdet Eure fehlgeleitete Loyalität noch bereuen. Sie ist gefährlich und sollte unschädlich gemacht werden.«
Der Hon, Azhen Kaen, schob sich an dem Zauberer vorbei. »Ich habe meine Gründe, die ich nicht mit Euch diskutiere, Var.«
Als die beiden Männer den Raum betraten, hoffte Bruder Qaun, dass sie zu sehr ins Gespräch vertieft waren, um seine Anwesenheit zu bemerken.
Doch das Glück war ihm nicht hold.
Bruder Qaun zuckte zusammen, als der Hon mit der flachen Hand vor ihm auf den Tisch schlug. »Ihr seid Vars neuer Lehrling, richtig?«
»Ich, äh …« Bruder Qaun schluckte. Lehrling traf es in Anbetracht der Lage nicht ganz. Den Hon daran zu erinnern, dass er Relos Vars verzauberter und an der Seele gefesselter Sklave war, schien ihm jedoch nicht ratsam.
»Schon gut, Qaun«, sagte Relos Var und sah lächelnd auf ihn hinab. »Der Hon hat uns gebeten, ihm bei einem Problem in Jorat zu helfen. Und da ich mir sicher bin, dass du inzwischen genug Zeit hattest, dich mit Weltenfeuer vertraut zu machen, habe ich ihm deine Unterstützung angeboten. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«
Bruder Qaun schluckte erneut, doch diesmal gelang ihm ein mattes Lächeln. »Nein, natürlich nicht, Lord Var.«
»Gut«, sagte der Hon. »Ich muss herausfinden, wer sich den Umhang des Schwarzen Ritters umgelegt hat. Irgendwer ist bei mindestens einem halben Dutzend Turnieren in diese Rolle geschlüpft – und ich habe die Nase voll von ihm.«
»Verzeiht die Frage«, sagte Bruder Qaun. »Wieso ist es ein Problem, wenn mehrmals hintereinander dieselbe Person den Schwarzen Ritter spielt? Es ist ein Turnier. Das hat doch höchstens Einfluss auf Warenpreise und Geschäftsabschlüsse.«
Der Blick, mit dem der Hon ihm zu verstehen gab, dass er ihn für einen Schwachkopf hielt, war so durchdringend, dass Qaun sich am liebsten darunter weggeduckt hätte. »Such dir einen Grund aus. Als er das Turnier in Praliar gewann, hat er den dortigen Baron anschließend mit seinem Idorrá dazu gebracht, vor Aeyan’arrics Ankunft die ganze Stadt zu evakuieren. Ein paarmal hat er so sehr gestört, dass die örtlichen Herrscher das Turnier abblasen und alle nach Hause schicken mussten. Oder einfach nur die Tatsache, dass er sich auf den Turnierplatz schleicht, den jeweils vorgesehenen Schwarzen Ritter bewusstlos schlägt, seine Stelle einnimmt und gewinnt – woraufhin er häufig sein Preisgeld unter den Leuten verteilt und die Machthaber vor ihrem Volk dumm dastehen lässt.« Er knurrte. »Das ist eigentlich meine Aufgabe, Var. Wie soll ich herbeieilen und die Leute retten, wenn mir dieser Mistkerl ständig zuvorkommt?«
Bruder Qaun sah blinzelnd zu Relos Var auf. »Wäre es nicht besser, den Namen aller Dinge …«
Relos Var schüttelte den Kopf. »Dafür lässt diese Frage zu viele Antworten zu. Der Schwarze Ritter ist eine Rolle und kein eindeutig zuordenbarer Titel – wir würden mehrere tausend Namen als Antwort erhalten. Dazu kommt, dass es in Jorat manchmal keinen Schwarzen Ritter gibt, weil gerade niemand bei einem Turnier diese Funktion ausfüllt. Aber wir haben eine erste Liste mit Leuten zusammengestellt, die im letzten Jahr in dieser Verkleidung aufgetreten sind. Vermutlich ist es einer von denen.« Er löste das Band um die große Pergamentrolle, die er unter dem Arm getragen hatte, und entrollte sie auf dem Tisch.
Das lose Ende des Schriftstücks rollte bis zur gegenüberliegenden Tischkante, fiel hinunter und reichte von dort bis auf den Boden. 232
»Wir wissen, dass Janel Theranon diesen Part übernommen hat, als sie unsere Pläne in Mereina durchkreuzte, aber bei den letzten Veranstaltungen war sie offenkundig nicht dabei. Finde so viel heraus, wie du kannst, und erstatte mir dann Bericht.«
Bruder Qaun nahm das Schriftstück. Janels Name würde darauf stehen. Genau wie Sir Baramons und Hauptmann Mithros’. Ninavis hatte er als Letzte die schwarze Aufmachung tragen sehen. Allerdings wusste Qaun nicht, ob sie zählte, da sie die Rüstung nur angelegt hatte, um Herzog Xuns Soldaten zu entkommen. Da Relos Var ihm keinen entsprechenden Befehl erteilt hatte, fühlte Qaun sich nicht verpflichtet, ihm zu erzählen, was er wusste.
»Ja, mein Herr. Ich fange sofort an.«
Der Hon musterte Bruder Qaun einen Moment lang. »Gut«, knurrte er.
»Kaen …«, sagte Relos Var.
Herzog Kaen zögerte.
»Wegen der Frauen«, sprach Var weiter. »Eurer Ehefrauen.«
Kaen winkte seufzend ab. »Exfrauen. Sie sind mir egal. Ihr wollt, dass dieser D’Lorus ihnen Magie beibringt? Na schön. Vielleicht sind sie dann zu irgendwas zu gebrauchen.«
»Sicher sind nicht alle von ihnen magisch begabt«, erwiderte Relos Var. »Aber ich glaube, Thurvishar D’Lorus möchte ihnen auch erst mal das Lesen beibringen.« 233
»Was auch immer. Ihr habt meine Erlaubnis.« Mit diesen Worten rauschte der Herzog so schnell aus dem Raum, wie er ihn betreten hatte.
Relos Var hingegen blieb. Er schaute dem Hon hinterher, wartete noch ein paar Sekunden ab und zog einen Stuhl neben Bruder Qaun. Nachdem er darauf Platz genommen hatte, öffnete er elegant wie immer ein kleines Portal und fing an, Teller und Tassen herauszuziehen. Im Nu hatte er den Tisch mit warmen gefüllten Reisbrötchen, der Trüffelsuppe, die Bruder Qaun so liebte, und einer dampfenden Teekanne vollgestellt.
»Oh, das ist aber nicht nötig …«
»Das sehe ich anders. Du vergisst zu essen. Das sieht dir gar nicht ähnlich.« Relos Var sah ihn eindringlich an. »Ich habe gehört, dass du in meiner Abwesenheit Schwierigkeiten hattest.«
Bruder Qaun blickte auf seine Hände hinab und hob den Kopf auch dann nicht, als Relos Var Brötchen mit einer Gemüsefüllung auf seinen Teller schichtete und Suppe in die Schüssel vor ihm schöpfte. »Es war nicht weiter schlimm. Nur ein paar schwache Männer, die sich stark fühlen wollten.«
Relos Var lächelte. »Ja, es sind immer die schwachen Männer, die Probleme machen, nicht wahr?«
Da Bruder Qaun das Gefühl hatte, dass in diesem Satz eine Falle verborgen war, antwortete er nicht. Stattdessen dachte er zwei Sekunden lang darüber nach, ob es ihn zu einem schlechten Menschen machte, wenn er sich etwas von Relos Vars Essen genehmigte. Var hatte echte eamithonische Gerichte aufgetischt, wie Qaun sie sich während seiner Lesestunden in der Bibliothek des Eispalasts stets erträumte. Er beschloss, dass kein Mann, egal wie integer er war, so einer Versuchung widerstehen konnte, und begann zu essen.
Der Zauberer legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Außerdem wurde mir zugetragen, dass du Zeit mit Thurvishar D’Lorus verbracht hast.«
Bruder Qaun legte das Brötchen auf den Teller zurück. »Ist das ein Problem?«
»Sei vorsichtig. Thurvishar kann man genauso wenig trauen wie dir.«
Bruder Qaun sah ihn verdutzt an. Meinte Relos Var damit etwa …?
»Er wurde gegaescht«, erklärte der Zauberer und räumte damit jeden Zweifel aus. »Und zwar von Gadrith dem Krummen. Wenn dir je ein blasser, dünner Mann mit den schwarzen Augen der D’Lorus über den Weg läuft, dann renn schnell weg. Er ist nicht dein Freund. Er ist niemandes Freund.«
»Bei den Göttern«, sagte Bruder Qaun. »Ich bin tatsächlich jemandem begegnet, auf den diese Beschreibung passt. Ich glaube …« Er erschauderte, als ihm der hungrige Blick des blassen Mannes einfiel, den er in Shadrag Gor gesehen hatte. »Wartet, Gadrith der Krumme? Ich dachte, Gadrith D’Lorus wäre tot.«
»Es passt ihm sehr gut, dass alle das glauben. Aber sein Haus ist nützlich für den Hon, und ich kann viel mit seinen Bibliotheken anfangen. Außerdem hat er …« Relos Var zögerte. »Er hat etwas, das sehr wichtig für mich ist. Gadrith weiß, dass ich nichts gegen ihn unternehmen werde, solange er es besitzt.«
Bruder Qaun schaffte es, sich nicht an seiner Suppe zu verschlucken, und zeigte auch sonst keine Reaktion, doch in seinem Innern herrschte höchster Aufruhr. Wenn ein Talisman oder ein Artefakt existierte, das gegen Relos Var eingesetzt werden konnte, und wenn Gadrith es besaß, dann konnte Qaun es vielleicht finden … Natürlich nur, wenn es ihm vorher gelang, sich von Relos Vars Gaesch zu befreien.
»Dann ist Thurvishar also gegaescht und Gadriths Spion«, lenkte Bruder Qaun die Unterhaltung auf weniger gefährliches Terrain zurück.
»Ja. Thurvishar besitzt sogar noch mehr magisches Talent als sein Vater. Niemand könnte dich besser bei deinen Studien unterstützen als er. Wäre da nicht diese winzige Kleinigkeit, dass er jeden Befehl von Gadrith befolgen wird, egal, wie abscheulich oder heimtückisch er ist.« Er machte ein finsteres Gesicht und nahm sich mehrere mit Bohnenpaste gefüllte Brötchen. »Manchmal ist es nützlich zu wissen, wie andere Personen zu einem stehen. Ob sie Verbündete oder Feinde sind, beziehungsweise, wie in diesem Fall, beides.«
»Ich bin sicher, die anderen sehen das genauso«, erwiderte Bruder Qaun. »Aber mit Quur habt Ihr einen gemeinsamen Gegner, richtig?«
Var lachte. »Ich spiele nicht um so niedrige Einsätze, mein lieber Qaun. Soll der Eiserne Zirkel – Gadrith, Darzin und all die anderen Schwachsinnigen – ruhig glauben, der Plan wäre, Quur und seinen Hohen Rat zu stürzen. In Wirklichkeit geht es um viel mehr, als sie begreifen können.«
Bruder Qaun biss sich auf die Unterlippe. »Als Ihr hereinkamt, habt Ihr von einer Frau gesprochen, die Eurer Meinung nach sterben soll …«
Relos Var antwortete nicht gleich. Stattdessen aß er erst noch ein weiteres dampfendes Brötchen, trank Tee und probierte von der Suppe. Schließlich sagte er: »Ich mag Azhen Kaen. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns in allem einig sind. Manchmal erkennt man, dass Freunde Fehler begehen, und hat gar keine andere Wahl, als sie einfach machen zu lassen.«
»Der Fehler kann Eurer Meinung nach nicht so schwerwiegend sein. Sonst würdet Ihr ihn davon abhalten.«
»Er ist nicht meine einzige Spielfigur, Qaun. Bei Weitem nicht.«
»Ist es das, was wir für Euch sind? Spielfiguren?« Qaun konnte seinen Kummer nicht verbergen.
Relos Var streckte die Hand aus und legte sie auf seine. Dann drückte er Qauns Finger, so wie er es immer getan hatte, als er noch Vater Zajhera und nicht Relos Var geheißen hatte. »Nein, ganz und gar nicht. Aber ich lebe schon zu lange und habe zu viel gesehen, um mich von den moralischen Verfehlungen und dem schlechten Urteilsvermögen Einzelner aufhalten zu lassen. Was wir anstreben, ist wichtiger.«
Bruder Qaun fragte sich, ob der Zauberer diesen Standpunkt aufgeben würde, wenn er je selbst überflüssig werden sollte.
»›Was wir anstreben‹ klingt, als hättet Ihr einen Plan.«
Relos Var lächelte den Priester an. »Mein lieber Junge, ich habe immer einen Plan.«
Senera musste viel Zeit in die Liste gesteckt haben, die der Hon Bruder Qaun gegeben hatte. Wie erwartet, standen sowohl Sir Baramons als auch Janel Theranons Name darauf.
Genau wie die von Ninavis, Dorna, Dango und Kay Hará.
Tatsächlich waren viele der Aufgeführten keine Ritter oder auch nur Leute, die man sich als Ritter vorstellen konnte. Bruder Qaun wusste, noch bevor er es mit Weltenfeuer überprüfte, was der Grund dafür war.
Seine Freunde verwischten ihre Spuren.
Es war fast, als hätten sie so viele Personen wie möglich in das Kostüm des Schwarzen Ritters gesteckt, weil sie wussten, dass ihr Feind die Möglichkeit hatte, Erkundigungen über sie einzuholen. Das machte es schwierig – wenn nicht sogar unmöglich –, die Identität des »wahren« Schwarzen Ritters zu ermitteln.
Bruder Qaun kam ein Gedanke, der so bestürzend war, dass er innehalten und sich von der Feuerstelle in Atrine losreißen musste, durch die er gerade geschaut hatte.
Konnte Janel mit den anderen kommunizieren?
Es schien unmöglich, aber er wusste, dass Janels Verstand an einem anderen Ort war, wenn sie »schlief«. Er hatte immer angenommen, es würde einfach mit ihr passieren, dass sie es nicht kontrollieren konnte, obwohl Janel den Zauber versehentlich selbst erschaffen hatte. Konnte es sein, dass ihre Zaubergabe ihr ermöglichte, mit den anderen Kontakt zu halten?
Nein, dachte er. Das war unmöglich. Wenn sie mit jemand anderem im Nachleben kommunizieren wollte, müsste der die gleiche Fähigkeit besitzen. Und soweit Qaun wusste, verfügten außer Janel nur Götter über diese Gabe. Sowie möglicherweise Relos Var.
Er wurde das quälende Gefühl nicht los, dass er etwas übersehen hatte.
Und was war, wenn es stimmte? Er würde Janel keinen Gefallen tun, wenn er ihr Geheimnis aufdeckte und es dann Relos Var erzählte, sobald der Zauberer ihn das nächste Mal dazu aufforderte, ihm alles zu berichten, was er herausgefunden hatte. Es war besser, wenn er sich nicht weiter damit befasste. Eine Wahrheit, der er nicht auf den Grund ging, konnte er auch nicht verraten.
Relos Var hatte es selbst gesagt: Bruder Qaun war nicht vertrauenswürdig.
Also beschloss er, mit den anderen, ihm unbekannten Namen auf der Liste anzufangen, die nicht zu marakorischen Banditenköniginnen und deren im Wald lebenden Gesetzlosen gehörten. Es erwies sich als schwierig, den Schwarzen Rittern nachzuspüren, da sie ein ganz anderes Leben führten, wenn sie nicht auftraten. Niemand lief permanent schwarz gekleidet auf Turnieren herum und kippte anderer Leute Bier aus, um die Menge zum Lachen zu bringen.
Schließlich stieß er auf einen Schwarzen Ritter, der es nicht darauf anlegte, lustig zu sein. Die Suche nach ihm hatte Wochen gedauert, da nicht jeden Tag Turniere abgehalten wurden. Und wenn, dann fielen die Termine oft zusammen, sodass Qaun versuchen musste, zwischen zahlreichen Örtlichkeiten überall in Jorat hin und her zu springen. Außerdem fanden sie in der Regel tagsüber statt, wenn niemand Laternen oder Kerzen anzündete. Und Küchenfeuer wurden selten in der Nähe der Turnierplätze entfacht. Aus all diesen Gründen war es ihm sehr schwergefallen, den Wunsch des Hons zu erfüllen.
Er hatte kurz davor gestanden, Thurvishar um Hilfe zu bitten, da er dachte, ein Aufenthalt in Shadrag Gor würde ihm die Zeit verschaffen, die er brauchte. Doch er hatte es für besser gehalten, Thurvishar nicht einzuweihen.
Als er den richtigen Schwarzen Ritter entdeckte, hätte er ihn fast übersehen. Sein Blick glitt über das Ross und seinen Reiter hinweg, da erkannte er das Pferd.
Es war gar kein Pferd, sondern Arasgon, der schwarz verkleidet war.
Den Reiter erkannte Bruder Qaun nicht, doch dieser Schwarze Ritter schien deutlich größer zu sein als Ninavis.
Zufällig waren die Azhocks um Qaun herum so aufgestellt, dass er den Turnierplatz durch das Feuer des Hufschmieds betrachten konnte. Er sah, dass der Schwarze Ritter sich an den Wettkämpfen beteiligte. Das war nicht weiter ungewöhnlich – die Tatsache, dass der Ritter einen nach dem anderen gewann, wie das Gemurmel und die geflüsterten Klagen der anderen Ritter bewiesen, dagegen schon. Doch aus den Klagen war auch Bewunderung herauszuhören. Inzwischen wusste jeder, dass der Schwarze Ritter auf dem Turnierplatz von Mereina einen Dämon getötet hatte. Und auch die Gerüchte über Janels mittlerweile legendäres Duell mit Relos Var hatten die Runde gemacht, obwohl es oft falsch dargestellt wurde. Niemand wusste, ob dies ein normaler Schwarze Ritter oder der Schwarzer Ritter war.
Die Geschichten, die man sich über ihn erzählte, waren mit jeder Wiederholung immer großartiger geworden.
Der Schwarze Ritter war auf dem besten Weg, das Turnier zu gewinnen, als sich im nahegelegenen Schloss ein großes Geschrei erhob. Jemand kam ins Blickfeld gerannt. Er trug die Farben des hiesigen Markreev. »Feuer! Feuer! Die Mühle brennt!«
Chaos brach aus. Bruder Qaun versuchte, den Rückweg anzutreten, doch es gab zu wenig Feuer. Er entdeckte einen Wagen, der hinter einem Wach-Azhock in der Nähe der Tribüne abgestellt war. Mehrere Personen beluden ihn mit Kisten voller Waffen und Rüstungen, die augenscheinlich aus den Beständen der markreevlichen Soldaten stammten.
Bruder Qaun erkannte Dango.
»Was hast du vor, Ninavis?«, fragte er laut, obwohl niemand ihn hören konnte.
Der Raubzug ging rasch über die Bühne. Als die Wächter mit der frohen Kunde zurückkehrten, dass die Mühle unbeschädigt geblieben war, hatten die Mannen des Markreev bereits keine Kampfausrüstung mehr. Unterdessen machte sich der Schwarze Ritter mit einem beeindruckenden Ablenkungsmanöver noch vor dem Ende des Turniers schnell aus dem Staub. Bruder Qauns Zielperson ritt in ein Azhock und verschwand. Gleich darauf trat Arasgon heraus, der jetzt wie immer schwarz-rot gestreift war. Ihm folgte der schwarzhäutige Schmied, den Bruder Qaun zum ersten Mal in Mereina gesehen hatte und der sich nun lauthals beklagte, dass er ebenfalls ausgeraubt worden sei.
Alle waren sich darin einig, dass sie schon seit Ewigkeiten kein so gutes Turnier mehr erlebt hatten.
Da niemand am helllichten Tag Fackeln oder Laternen verwendete, entschwanden die Diebe aus Bruder Qauns Blick, als sie die Stadt verließen. Ein paar von ihnen kannte er aus Ninavis’ Bande. Allerdings sah er weder Dorna noch Ninavis selbst.
Wäre Arasgon nicht gewesen, hätte Bruder Qaun vielleicht geglaubt, Dango habe als Mitglied einer anderen Bande sein altes Leben als Verbrecher wiederaufgenommen.
Als er Monate später zum zweiten Mal eine Person entdeckte, die der Schwarze Ritter zu sein schien, waren die Umstände für ihn kaum zu ertragen. Eine »unternehmerisch« denkende Baronin hatte beschlossen, Flüchtlinge, die in ihr Gebiet flohen, als Erntehelfer einzusetzen. Es war nicht klar, ob sie sie bezahlte, aber Bruder Qaun vermutete, dass sie es nicht tat.
Denn wären sie entlohnt worden, hätte sie keine Peitschen gebraucht, um die Flüchtlinge zu motivieren.
Der Schwarze Ritter saß nach Einbruch der Dunkelheit auf einem Ross, das auf der Brücke zum Anwesen der Baronin stand. Mit hallender, dämonisch klingender Stimme sprach er eine Warnung aus: Wenn die Baronin die Marakorer nicht bis zum nächsten Morgen freiließe, würde er eine unvorstellbare Katastrophe auf ihre Ländereien herabbeschwören.
Die Baronin lachte und befahl ihren Soldaten, ihn zu erschießen.
Doch es funktionierte nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Da sämtlichen Soldaten die Bogensehnen rissen, konnte nicht ein einziger Pfeil abgefeuert werden.
Dann schossen die Leute, die sich im Wald versteckt hielten, zurück. Ihre Bogensehnen rissen nicht. Weitere Salven folgten und schwächten die Verteidigung der Baronin, bevor die Angreifer sich im Anwesen verteilten und die Marakorer zusammenholten.
Als die Gruppe sich in den Wald zurückzog, verlor Bruder Qaun sie aus den Augen, aber er musste Dorna nicht sehen, um zu wissen, dass sie dabei gewesen war. Er kannte die Wirkungsweise ihrer Zaubergabe. Qaun war nicht sicher, was Dorna mit den Marakorern vorhatte, aber ein paar der Befreiten hatten bei dem Gefecht mitgeholfen. Offensichtlich beherrschten sie die gleiche waffenlose Kampftechnik wie Ninavis. Bruder Qaun machte sich akribische Notizen, und bald merkte er, dass die Zahlen nicht stimmen konnten. Anfangs war er davon ausgegangen, Ninavis und Dorna, die beide ein Faible für Verbrechen hatten, wären wieder kriminell geworden. Doch an diesen Umtrieben waren erheblich mehr Leute beteiligt als Ninavis, Sir Baramon, Dorna und ihre fünf oder sechs Kumpane. Tatsächlich hatte er während der vergangenen Monate bereits mehrere Hundert verschiedene Personen gezählt, die überall im Reich zugange waren, darunter auch einige Feuerblüter. Sie schienen … organisiert.
Bruder Qaun blies die Luft aus, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und griff nach dem Tee, der längst kalt war.
Das waren nicht nur ein paar verbrecherische Nichtsnutze mit goldenen Herzen, die den Reichen in Quur das Geld stahlen, um es den Unterdrückten zu geben.
Was sich da vor seinen Augen abspielte, war vielmehr der Anfang eines sorgfältig geplanten Aufstands.
Doch Bruder Qaun beschäftigte sich nicht nur mit den Heldentaten des Schwarzen Ritters. Mehrere Wochen nach Sir Oreths Hinrichtung und der gleichzeitigen Scheidung von über vierzig Frauen überbrachte ihm ein Diener eine Schachtel mit seinen liebsten Schokoladenkeksen und einer Nachricht von Janel.
Darin stand: Vielen Dank für deine Hilfe bei der Suche nach quurischen Kriegsflüchen. Ich bin sicher, dass sie noch unschätzbar wertvoll sein werden. Danke bitte auch Thurvishar von mir.
Tatsächlich hatte Qaun sich noch gar nicht mit den Kriegsflüchen befasst. Doch nun begann er damit.
Und dafür benötigte er tatsächlich Thurvishars Hilfe.
Bei seinem nächsten Besuch in Shadrag Gor fragte er ihn: »Wie sucht man am besten nach der Kriegsmagie, die Quur bei der Invasion in Yor eingesetzt hat?«
Der Erblord des Hauses D’Lorus hatte sich inzwischen voll und ganz der Aufgabe verschrieben, die Exfrauen des Hons im Lesen zu unterrichten, und suchte gerade geeignetes Übungsmaterial zusammen, als Bruder Qaun ihn unterbrach.
Thurvishar sah auf. »Wieso in aller Götter Namen willst du das wissen?«
»Das ist doch klar: Weil es Yor helfen würde.« Tatsächlich lag das gar nicht so klar auf der Hand, aber Bruder Qaun ahnte, wieso Janel es herausfinden wollte. Die Kräfte, die seinerzeit im Kampf gegen Yor entfesselt worden waren, suchten das Land immer noch heim. Da die Yorer nicht wussten, was man ihnen angetan hatte, war dies eine gute Gelegenheit für Qaun, das Vertrauen des Herzogs zu gewinnen und sich besseren Zugang zu dem zu verschaffen … weswegen Janel nach Yor gekommen war, was auch immer das sein mochte. Wenn Janel oder Bruder Qaun den Herzog darüber in Kenntnis setzen könnte, was damals geschehen war oder besser noch, wie es sich wieder rückgängig machen ließe, dann …
Thurvishar verengte die Augen zu Schlitzen und lehnte sich zurück. »Du willst dich mit den Yorern auf guten Fuß stellen.«
»Mein Leben hängt davon ab, dass man mich für nützlich hält«, erwiderte Bruder Qaun. »Ihr wisst, was damals getan wurde, oder?«
»O ja. Wir haben das Grauen auf diese Leute losgelassen.«
Bruder Qaun wartete darauf, dass er fortfuhr.
Thurvishar seufzte. »Es ist unumkehrbar. Die Dinge, die wir getan haben …« Er stand auf und ging zu einem hohen Bücherstapel. »Hier: Kriegsrituale von Ibatan D’Talus. Und da … Belagerungstaktiken während der Invasion in Yor von Sivat Wilavir. Diese beiden enthalten das meiste Wissen. Aber ich würde sie nicht unmittelbar nach dem Essen lesen.« Er legte die Bücher auf den Tisch.
Bruder Qaun sah den Magier forschend an. Er schien die Bemerkung ernst gemeint zu haben. »Selanol steh uns bei. Wie schlimm war es?«
Thurvishar machte ein finsteres Gesicht und wandte den Blick ab. »Wir sollten uns schämen. Aber das tun wir nicht. Niemals. Es ist unsere Pflicht, musst du wissen, unser Schicksal. Wir finden immer eine Ausrede, wieso es gut und richtig war, einen Feind in den Staub zu treten.«
Bruder Qaun bekam einen trockenen Mund. »Haben sie es verdient?«
»Was verstehst du unter verdient? « Thurvishars Mundwinkel zuckten amüsiert. »Gottkönig Chertog und seine Gemahlin Suless waren Teufel. Chertog war ein machthungriger Grobian, und Suless … ach, Suless hatte so viel Blut an den Händen, dass die Ozeane nicht gereicht hätten, um sie reinzuwaschen. Wusstest du, dass sie das Gottkönig-Ritual erfunden hat?«
Bruder Qaun stutzte. »Was?«
»Sie hat sich den Prozess einfallen lassen, mit dem man einen Magier zu einem Gott erhebt. Sie war der allererste Gottkönig … Gottkönigin , sollte ich wohl sagen. Die Acht Unsterblichen sind viel älter und haben ihre Existenz nicht auf die gleiche Weise begonnen. Selbst wenn niemand Argas als einen der Acht anbeten wollte, würde es ihn weiterhin geben, weil das Konzept, für das er steht, unvergänglich ist. Das Gleiche gilt für Thaena und den Tod beziehungsweise Galava und das Leben. Die Acht beziehen ihre Macht aus den Konzepten, mit denen sie verbunden sind. Die Gottkönige dagegen müssen permanent angebetet werden. Sie benötigen Tenyé-Opfer für ihren Machterhalt. Ohne das Ritual von Suless hätten wir anstelle der Gottkönige bloß mächtige Magier. Sie hat herausgefunden, wie sie mehr aus sich machen konnte. Dann erklärte sie es ihrem Gemahl, Chertog, und ihrer Tochter, Caless. Caless brachte es wiederum ihrem geliebten Qhuaras bei, der später das heutige Quur gründete …« Thurvishar breitete die Arme aus. »Der Rest ist Geschichte. Wenn die Hexenkönigin Suless nicht darauf gekommen wäre, hätte es sich vielleicht jemand anderer ausgedacht, aber sie war nun mal die Erste. Denk nur an all die Monstervölker, die ohne Suless überhaupt nicht existieren würden: Der Schlangenkönig Ynis hätte die Thriss nicht erschaffen, und in Jorat hätte Khorsal weder die Zentauren noch die Feuerblüter gemacht. Die Tochter von Laaka würde es genauso wenig geben. Die Liste ist lang. Also … hatte Suless den Tod verdient , als Yor von Quur erobert wurde? Interessante Frage.«
»Auf sie mag das ja zutreffen, aber eine Menge Yorer hatten den Tod sicher nicht verdient.«
»Ja, das stimmt.« Thurvishar schlug verbittert mit beiden Händen auf den Tisch. »Einer der Zauber in diesen Büchern ist etwas ganz Besonderes … Henakai Shan hat ihn sich vor ungefähr zweihundertfünfzig Jahren ausgedacht. Er verwandelt ganz normales Gestein, egal ob vulkanisch oder nicht, in Razarras-Erz. Und das ist … tödlich. Nicht einmal die Roten Männer des Hauses D’Talus wissen noch, wie man Razarras gefahrlos bearbeiten kann. 234
Es löscht sämtliches Leben in seiner Umgebung aus. Ganze Höhlensysteme in diesem Herrschaftsgebiet können nicht mehr betreten werden, weil das Erz jeden vergiftet, der in seine Nähe kommt. Und es tötet sehr langsam. Als unsere Magier herausfanden, dass die Yorer ihre Nahrungsmittel in den Höhlen anbauten, haben sie diesen Fluch gewirkt und damit die Belagerung beendet. Das Gift zerstört alles, womit es in Berührung kommt. Und es verschwindet nicht.«
Bruder Qaun wurde übel. »Wieso sollte …?« Doch er musste die Frage nicht stellen, da er die Antwort bereits kannte. Sie hatten es getan, weil sie es konnten. Weil es eine einfache und clevere Lösung für ihre Probleme zu sein schien.
Allmählich begann Qaun, einfache und clevere Problemlösungen zu verabscheuen.
Er schlug eines der Bücher auf. Die erste Kapitelüberschrift lautete: Wie man mit lysianischem Gas große Bevölkerungszentren unterwirft . Im allerersten Absatz wurde davor gewarnt, an Orten ohne ausreichendes Entlüftungssystem mit dem Gas zu experimentieren. Und im ersten Satz hieß es, das magische Gas manifestiere sich in einem angenehmen Blauton.
Bruder Qaun schlug das Buch zu und kämpfte gegen ein Schwindelgefühl an.
»Ich habe dir ja gesagt, dass es keine angenehme Lektüre ist«, kommentierte Thurvishar.
Bruder Qaun holte mehrmals tief Luft. Im Grunde hatte er schon immer gewusst, dass Quur vor Gräueltaten nicht zurückschreckte. Schließlich wurde man nicht zum größten Reich der Welt, indem man sich nobel und mitfühlend verhielt. Quur hatte seine Gegner schon immer, ohne mit der Wimper zu zucken, aufgerieben. Und so war es auch hier. Nur ein Beispiel unter vielen.
Doch dieses Beispiel hatte Qaun mit eigenen Augen gesehen. Und er wusste, dass er in diesen Büchern noch viel schlimmere Zauber entdecken würde. Doch anstatt zu fliehen, fragte er: »Habt Ihr noch mehr solche Bücher?«
Thurvishar sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Das ist ein ganz schön düsteres Forschungsgebiet.«
»Um einen Fluch beenden zu können, muss ich verstehen, wie er funktioniert«, erwiderte Qaun.
»Die weiterführenden Bücher sind in den Archiven des Hauses D’Lorus weggesperrt«, gestand Thurvishar. »Doch da ich der Erblord bin, habe ich den Schlüssel.«