49   Winterprüfung
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Thurvishar sich in pedantischer Weise selbst korrigiert hatte
Janel kicherte. »Nein, sei nicht so streng mit Baramon, Qaun. Er war nicht derjenige, der unseren Plan verraten hat.«
Ninavis schniefte und verdrehte die Augen.
»Er war es nicht?« Qaun sah verwirrt aus. »Aber nur durch ihn bin ich auf Eure Umtriebe aufmerksam geworden.«
»Ja«, pflichtete Janel bei. »Aber hat Relos Var dir nicht befohlen, den Mund zu halten? Nein, ich fürchte, ein anderer hat uns auffliegen lassen.«
»Wer?«, fragte Kihrin.
Janel griff nach ihrem Getränk. »Nun, das war ich.«
Janels Schilderung. Im Eispalast, Yor, Quur.
Suless’ Augen wurden blau, wenn sie zauberte. Wohlgemerkt nicht bei jeder Beschwörung. Nur in den Momenten, wenn sie jemanden verzauberte und mit seinem Verstand spielte. Es war, als könnte die alte Frau namens Wyrga während dieser kostbaren Sekunden gar nicht anders, als die Göttin zu zeigen, die unter der Oberfläche in ihr lebte. Ich hatte gelernt, die verräterischen Anzeichen zu erkennen, aber da niemand sonst sie zu bemerken schien, fragte ich mich, ob ich sie nur aufgrund dessen sehen konnte, was Suless mit mir gemacht hatte.
Suless erwies sich tatsächlich als gute Lehrerin, aber ich hasste ihre Lektionen. Mit jeder einzelnen sickerte immer mehr von der Hexenkönigin in meine Seele ein, eine Infektion, die sich allmählich meines Geistes bemächtigte. Daher versuchte ich, so viel wie möglich aus anderen Quellen zu lernen. Ich vertiefte mich in Bücher, ließ mir von Qaun etwas beibringen und setzte mich sogar in Thurvishars Unterricht für die »Verschmähten«, wie Kaens zurückgewiesene Ehefrauen sich inzwischen selbst nannten. Sie waren zu Recht stolz auf sich. Xivans schonungslose Kampfübungen hatten sie von einer schnatternden Schar gelangweilter und verwöhnter Gefangener in eine ernstzunehmende Streitkraft verwandelt.
Die yorischen Männer konnten es nicht glauben. Sie verstanden nicht, wieso diese Frauen – die noch vor wenigen Jahren kaum mehr als ein schöner Teil der Inneneinrichtung gewesen waren – sie mittlerweile an Geschwindigkeit, Kraft und Grausamkeit übertrafen. Sie ahnten nicht, dass die Frauen einen Zauber entwickelt hatten, der ihre körperlichen Fähigkeiten auf ein übernatürliches Maß steigerte.
Als Inspiration diente ihnen das, was ich Talea über meine eigene Stärke erzählt hatte. Sie ging mit diesen Geschichten zu Bikeinoh, die sich daraufhin überlegte, wie so ein Zauber gestaltet sein musste, damit er funktionierte. Anschließend brachte sie ihn allen Frauen bei, die in der Lage waren, ihn zu erlernen.
Was, wie sich herausstellte, auf die meisten zutraf.
Dessen ungeachtet schlug kein Mann vor, die Verschmähten aufs Schlachtfeld zu schicken. Sie wurden zu Glücksbringern, Accessoires, mit denen der Hon sich schmücken konnte, wenn er Gäste empfing – genau wie mit mir. Kriegerfrauen schockierten und entzückten die Mitglieder des Hochadels. Herzog Kaen hatte eigens Rüstungen für sie anfertigen lassen, die ihre Weiblichkeit unterstrichen. Allerdings waren sie in der tödlichen Kälte auch nicht praktischer als die Kleider, die sie zuvor getragen hatten. Genauso wenig würden sie gegen Schwerthiebe schützen, da sie zu viel vom Dekolleté und den Beinen ihrer Trägerinnen unbedeckt ließen. Dennoch verbreiteten sich die Geschichten über sie. Vielleicht war es ja hilfreich, wenn die Bewohner weit entfernter yorischer Dörfer Gerüchte über die Kämpferinnen des Hons hörten.
Vielleicht.
Ich lernte mit ihnen gemeinsam. Thurvishar D’Lorus entpuppte sich als exzellenter Lehrer, obwohl ich sein unfehlbares Gespür dafür, was er sagen oder tun musste, damit ich einen Zauber begriff, manchmal verstörend fand. Er drehte das Buch, das ich gerade in der Hand hielt, ein wenig, wies mich auf einen Fehler in meiner Herangehensweise hin, und sofort gelang mir der Durchbruch.
Azhen Kaen wurde immer ungeduldiger und launischer. Er hatte geglaubt, Jorat wäre leicht zu besiegen, doch tatsächlich stellte sich der Kampf als äußerst mühsam heraus. Je mehr Angriffe Aeyan’arric flog, desto häufiger fand sie die Dörfer leer vor. »Priester« des Schwarzen Ritters – die sich dem Namenlosen Herrn geweiht hatten – verbreiteten die Luftglyphen und neutralisierten damit die Wirkung des lysianischen Gases, das Senera in Mereina eingesetzt hatte. Senera begegnete immer mehr Joratern, die sich mit Talismanen gegen Magie wappneten. Dass Kaen – oder besser gesagt Relos Var – es nicht schaffte, die Rebellenführer zu finden, die all diese Probleme verursachten, zehrte zunehmend an den herzoglichen Nerven. Alle um ihn herum bekamen seine Gereiztheit zu spüren.
Kaen hörte nicht auf damit, Aeyan’arric nach Jorat zu entsenden.
Nachdem ich dem Herzog die Treue geschworen hatte, stellte er mich die ersten paar Jahre auf die Probe. Ich hasste seine Prüfungen, aber die Dinge, die er von mir verlangte, hielten sich immer in einem gewissen Rahmen. Zum Beispiel musste ich nie Senera nach Jorat begleiten. Er machte aus mir ein Symbol für seine künftige Herrschaft – eine Joratin, die Befehle von einem Yorer entgegennahm –, eine Art Versprechen auf eine bessere Zukunft für alle, die an ihrem Herzog zweifelten. Wenn ich Botschaften an die Klan-Häuser überbrachte, ging es nur darum, dass man mich sah. In den Haaren trug ich Kaens Ringe und im Halsausschnitt eines roten Umhangs, der viel zu dünn war, um etwas gegen die klirrende Kälte auszurichten, die Juwelen von Relos Var. Die yorischen Adligen und Höflinge nannten mich Dyono Tomai, den Roten Ritter, und ich war mir nie sicher, ob sie es als Kompliment meinten. Vermutlich aber nicht.
Eines Tages verlangte der Herzog etwas von mir, das ein wenig folgenreicher sein würde als die üblichen Botengänge.
»Ich möchte, dass Ihr das Gefängnis leert«, sagte er mir während einer Partie Zaibur. »Xivan will sich keine Zeit dafür nehmen, aber es ist zu voll geworden.«
Ich sah ihn einen Moment lang forschend an. »Ihr wollt, dass ich die Gefangenen freilasse?«, fragte ich in der Hoffnung, seine Anweisung missverstanden zu haben.
Er schnaubte. »Ich will, dass Ihr sie exekutiert.«
Ich erinnere mich immer noch recht gut an diesen Moment. Der Duft von brennendem Holz im Kamin vermischte sich mit dem Geruch nach gewürztem Buttertee, der von dem Tablett neben uns aufstieg. Die magischen Lampen hüllten uns in ein gelbes Licht und ließen die Diamanten in seinem dichten weißen Bart glitzern. Ich starrte ihn an, er lächelte.
Azhen Kaen wusste genau, was er von mir verlangte. Er erhöhte den Prüfungsdruck. Würde ich für ihn töten? Nicht nur für ihn kämpfen, sondern jemanden umbringen, wenn er mich dazu aufforderte?
Ich beugte den Kopf und machte einen Zug. »Wollt Ihr, dass ich ein Exempel statuiere?«
»Nein. Hauptsache, sie sind tot. Ich werde ein paar Männern befehlen, Euch zur Hand zu gehen, falls Ihr Hilfe braucht.«
Im Klartext hieß das, ein paar Soldaten würden auf seinen Befehl hin sicherstellen, dass ich den Auftrag erfüllte, und ihm anschließend Bericht erstatten. Schließlich war ein Test nur dann sinnvoll, wenn Kaen das Ergebnis überprüfen konnte.
Ich setzte seinen Gottkönig matt. »Und damit ist das Spiel vorbei.«
Er betrachtete mürrisch das Brett. »So ist es.«
Als ich mich am nächsten Tag zur Gefängnisebene hinunterbegab – die unter dem Palast, aber ein ganzes Stück oberhalb der Quellhöhlen lag –, merkte ich schnell, wie schlimm diese Prüfung werden würde.
Im Gegensatz zu Jorat gibt es in Yor Gefängnisse. Auf jeden Fall zumindest einen Kerker im Eispalast. Dieser Ort war trostloser und elendiger als alles, was ich je außerhalb des Nachlebens gesehen hatte. Trotz Kaens Befehl musste im Kerker eigentlich kein Platz geschaffen werden, da er die Gefangenen generell zu kurz am Leben ließ, als dass es zu einer Überbelegung der Zellen kommen konnte. Es war ihm nicht wichtig, die Gefangenen hinzurichten. Er wollte lediglich sehen, ob ich es tun würde.
Der Tod war mir nicht fremd, aber in einer Schlacht zu töten, ist etwas ganz anderes, als jemanden zu ermorden, der unbewaffnet, gefesselt und wehrlos ist.
Die Verurteilten waren politische Abweichler, die sich entweder zu lautstark gegen die Herrschaft des Herzogs ausgesprochen hatten oder in irgendeiner Weise gegen ihn vorgegangen waren. Ich hatte keine Ahnung, ob ihnen ein fairer Prozess gemacht worden war, aber ich bezweifelte es. Die zwölf Männer und Frauen schienen ausnahmslos Yorer zu sein und hatten immer noch dieselben Sachen an wie bei ihrer Verhaftung. Offenbar war keiner von ihnen aus dem Bett gezerrt worden, denn sie trugen alle Felle und Stiefel, die in Yor übliche Bekleidung für kaltes Wetter. Da der Kerker nicht beheizt war, hatten sie ihre Kleidung anbehalten dürfen. Anscheinend hatte der Hon nicht gewollt, dass sie vor ihrer Hinrichtung erfroren.
Diese Überlegung brachte mich auf eine Idee.
Ich gab den Männern, die Kaen für mich abgestellt hatte, ein Zeichen. Ihren Anführer, Hedrogha, kannte ich bereits von meinen früheren eskortierten Ausflügen zu den Klans.
»Hol sie aus den Zellen, Hauptmann, und folgt mir.«
»Wohin gehen wir?« Hedrogha wirkte misstrauisch. Ich fragte mich, wie seine Befehle lauteten, falls ich mich weigerte, die Gefangenen zu töten.
»Zu den Zwingern«, antwortete ich.
Der Soldat schaute mich mit großen Augen an.
Die Gefangenen wehrten sich kaum, als man sie aus den Zellen holte. Sie sahen schwach und resigniert aus. Falls sie überhaupt in letzter Zeit etwas zu essen bekommen hatten, war es nicht genug gewesen.
Während wir zu den Zwingern auf der Hauptebene hinaufstiegen, bemühte ich mich um einen möglichst gleichmütigen Gesichtsausdruck.
Das, was die Yorer als Zwinger bezeichneten, hätte man überall sonst Stallungen genannt. Obwohl die meisten über den Torstein an- und abreisten, führte auch eine breite Straße bis zum Fuß des pyramidenförmigen Palasts. Wer sie nahm, brauchte Tiere, die besser an die Kälte angepasst waren als Pferde – nämlich Schneehyänen und Eisbären. Man konnte zwar nicht auf ihnen reiten, aber dafür zogen sie oft zu mehreren Schlitten und Wagen durch die verschneite Landschaft.
Sie waren Suless’ oder besser gesagt Wyrgas Domäne. Die Alte dressierte und versorgte die Tiere des Herzogs. Viele verabscheuten sie, aber alle mussten zugeben, dass sie ihre Arbeit hervorragend machte.
Die große Halle war wie der gesamte Palast aus schwarzem Stein erbaut, im Gegensatz zum restlichen Gebäude hing hier jedoch ein schwerer Moschusgeruch in der Luft. Gleichzeitig roch es nach Blut, Innereien und Eis. Die Halle war vom Gelächter der Hyänen und dem Brummen der Bären erfüllt, dazu hörte man immer wieder knarzendes Leder und laut zuschnappende Kiefer.
Ich machte einen der Tierpfleger auf mich aufmerksam. »Ich brauche einen Wagen mit Zugbären.«
»Ihr sollt die Gefangenen töten«, hörte ich Hedrogha hinter mir sagen.
Ich drehte mich zu ihm um. »Auch Yorer ertragen Kälte nur bis zu einem gewissen Grad. Ich werde sie draußen erfrieren lassen. Oder ist dir das nicht tot genug?«
Die Soldaten warfen besorgte Blicke auf das große Tor. Sie wollten nicht hinausgehen – genau wie ich es vorhergesehen hatte.
Die gefesselten Gefangenen belauschten unseren Wortwechsel und gerieten in Panik. Ein paar von ihnen fingen an, um ihr Leben zu betteln. Andere brachen in Tränen aus.
»Wieso tötet Ihr sie nicht einfach hier?«, monierte einer der Soldaten.
Ich schaute ihn streng an. »Stellst du etwa meine Entscheidung infrage?«
»Nein, aber …« Er sah sich hilfesuchend zu Hauptmann Hedrogha um. »Wir müssen unsere Winterfelle überziehen.«
Ich wollte ihnen gerade befehlen, sie zu holen (und dann ihre Abwesenheit nutzen und allein mit den Gefangenen nach draußen gehen), da betrat Wyrga die Halle und kam zu uns herüber.
»Ihr könnt sie ruhig allein gehen lassen«, sagte sie. »Was soll sie denn schon groß tun, hmm? Ihnen zur Flucht in die Berge verhelfen? Sie irgendwohin bringen, wo es warm ist? Ich würde gerne sehen, wie sie das versucht.« Die alte Frau hatte sich ein Tuch schräg um die Stirn gewickelt, um ihre leere Augenhöhle zu verbergen. Was sie mit dem Auge gemacht hatte, wusste ich nicht, aber das war mir auch lieber so.
Als Hauptmann Hedrogha protestieren wollte, blickte Wyrga ihn streng an. Dabei blitzte ihr verbliebenes Auge kurz eisblau auf.
Hedrogha zögerte. »Da habt Ihr recht.«
Wyrga entblößte ihre spitzen Zähne zu einem bösartigen Lächeln. »Ich habe immer recht, Schätzchen.«
Ich unterdrückte ein Schaudern. Dieses kurze Aufleuchten ihres Auges kannte ich bereits. Wyrga hatte den Wachmann gerade mit einem Zauber belegt. Herzog Kaen hatte seiner gefangenen Göttin alles Mögliche verboten – so durfte sie zum Beispiel seiner Familie nichts antun –, aber wenn er ihr den Gebrauch von Magie kategorisch untersagen würde, wäre sie nutzlos für ihn.
Mir hatte sie damit jedenfalls geholfen.
»Ich bin bald wieder zurück«, versicherte ich Hauptmann Hedrogha. »Es wird nicht lange dauern.«
Er schaute gar nicht zu mir her, da Wyrgas eisblaues Auge immer noch seinen Blick gefangen hielt.
Seine Männer schienen es nicht zu bemerken.
Die Tierpfleger schirrten zwei Bären für mich an, die mir lieber waren als Hyänen. Die Bären waren zwar ebenfalls furchteinflößend, da es durchaus passieren konnte, dass sie versehentlich jemanden töteten, aber sie mochten meine Wärme und ließen sich gerne von mir hinter den Ohren kraulen. Mit ihnen unterwegs zu sein, war zwar etwas ganz anderes, als auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, aber da ich fast jede Nacht im Nachleben heimlich auf Arasgon ausritt, machte mir der Unterschied nichts aus.
Sobald alle Gefangenen in den Wagen bugsiert worden waren, brachen wir auf. Dabei blendete ich die Schreie von hinten so gut es ging aus.
Wenn ich die yorische Winterlandschaft durchquerte, war für mich nicht die Kälte das Problem, denn ich wusste seit Langem, wie ich mich so weit aufheizen konnte, dass ich keine Erfrierungen erlitt. Schwierig war nur, die Hitze in meinem Inneren zu behalten. Wenn ich zuließ, dass mein Körper sie abstrahlte, würde ich durch Eiswasser waten oder Ausrüstungsgegenstände auftauen, die so konstruiert waren, dass sie im gefrorenen Zustand am besten funktionierten. Es war auch möglich, dass ich durch aufgeweichte Schneewehen oder Eisoberflächen brach. All das hatte ich bereits am eigenen Leib erfahren müssen.
Ich fuhr ohne Eskorte die Straße entlang. Eigentlich war es keine Straße, sondern eine Reihe in den Boden gerammter Pfähle, die so hoch waren, dass sie selbst aus den schlimmsten Schneeverwehungen herausragten. Nach einer Weile bog ich nach Süden ab, entfernte mich ein paar Meilen von der Straße und hielt schließlich an.
Unterwegs hatte ich einige Münzen verzaubert. Eigentlich hätte ich lieber Steine verwendet, aber da es im Winter in Yor so gut wie unmöglich war, schneefreie Flächen zu finden, mussten die Münzen herhalten. Zum Glück war der Herzog nicht knausrig und gewährte mir überraschenderweise sogar ein Taschengeld, über das ich frei verfügen konnte.
Und dank Suless hatte ich auch noch ein paar andere Trümpfe im Ärmel.
Ich hielt den Wagen an und öffnete die Tür. Dann trat ich einen Schritt zurück und zog das Schwert.
»Kommt heraus«, sagte ich. »Ich werde euch sagen, wie es jetzt weitergeht.«
Sie blickten mich mit unverhohlener Angst an.
»Ich will euch nicht töten. Entweder kommt ihr heraus und gebt mir eine Chance, euch zu erklären, wie ihr überleben könnt, oder ihr bleibt drinnen und zwingt mich dazu, den Befehl des Hons auszuführen. Die Entscheidung liegt ganz bei euch.«
Sie traten alle in den Schnee hinaus und waren sichtlich verwirrt, als ich jedem von ihnen eine Münze gab und sie die Wärme spürten, die von dem Metall ausging.
»Tragt sie bei euch. Diese Münzen werden verhindern, dass ihr erfriert.« Ich deutete nach Süden. »Haltet auf die Lücke zwischen diesen beiden Bergen zu. Dort findet ihr einen Pass, der euch nach Tolamer führt. Meine Leute werden euch dort erwarten. Fragt nach einer Frau namens Ninavis. Habt ihr verstanden?«
Ein großer dicklicher Mann mit dunkelblauen Haaren schüttelte den Kopf. »Für diese Strecke brauchen wir mehrere Wochen. Vielleicht werden wir unterwegs nicht erfrieren, aber was sollen wir essen?«
Ich nickte. Dafür hatte ich ebenfalls vorgesorgt. Allerdings ärgerte es mich, dass ich die Lösung des Problems Suless verdankte. Ich pfiff und stieß gleich darauf eine Art bellendes Lachen aus.
Die Hyänen reagierten sofort. Es waren nicht die Schneehyänen, die Suless im Palast hielt. Diese hier waren wild. In der Ferne erklang ihre gebellte Antwort.
Hyänen leben in streng hierarchischen Strukturen zusammen. Jedes Tier eines Rudels kennt seinen Rang genau und weiß, wer über und wer unter ihm steht.
Die joratische Gesellschaft ist ganz ähnlich organisiert.
Um mich zur Herrin über das gesamte Rudel aufzuschwingen, hatte ich also lediglich ihre Königin unterwerfen müssen. Ich konnte ihnen zwar nur einfache Anweisungen geben, aber das sollte genügen, um die sichere Flucht der Gefangenen aus Yor zu gewährleisten.
»Die Hyänen werden euch Geleitschutz geben und mit Nahrung versorgen. Greift sie nicht an. Versucht auch nicht, sie zu berühren. Dann kann euch nichts passieren, und sie werden für eure Sicherheit sorgen.«
Ich konnte die ängstlichen Blicke der befreiten Gefangenen nachvollziehen. Angesichts der heißen Münzen und der Hyänen fielen einigen von ihnen vermutlich die Geschichten wieder ein, die ihre Großmütter ihnen erzählt hatten. Sie hielten mich für eine Hexenmutter, und ich wusste nicht, wie ich ihnen diesen Verdacht ausreden sollte.
Ich schloss die Wagentüren und zog mich auf den Platz hinter den Bären hoch, die wegen des Hyänenrudels unruhig waren. »Das ist das Beste, was ich für euch tun kann«, sagte ich an die Gefangenen gewandt. »Viel Glück.« Dann gab ich den Bären mit einem Stups zu verstehen, dass sie zum Palast zurückkehren sollten.
Ich wusste nicht, ob die Gefangenen es schaffen würden, aber ich glaubte, dass sie eine reelle Chance hatten.
Als ich zurückkehrte, schienen alle davon auszugehen, dass ich die Gefangenen tatsächlich exekutiert hatte. Eine andere Möglichkeit gab es ja auch nicht. Die Soldaten erstatteten Kaen entsprechend Bericht, und er schien sich darüber zu freuen.
Ich hatte das Gefühl, ungestraft davongekommen zu sein.
Zumindest glaubte ich das eine Weile lang.